Die Sklavin wacht auf, um zu träumen
Zum Stück „Marie übt die Anarchie“
von Robert Sommer
Maren Rahmann, Rudi Görnet und Franz Schandl versuchen etwas ganz Großes, nämlich eine Fusion von Kabarett, Theater, Musik, Philosophie, Improvisation und Interaktion, und sie machen dieses Große so klein, dass es im bescheidensten Waschsalon, in einem öffentlichen Innenstadtklo, in einem Wohnzimmer, in einem Beserlpark , vor jeder Überwachungskamera und sogar in einer Bim aufgeführt werden könnte.
Der Künstler, Ausstellungskurator, Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel vertrat unlängst im Kulturjournal des ORF Meinung, dass die Mehrheit der Künstler und Künstlerinnen selbst „Komplizen des Marktes“ seien. Zudem hätten die meisten gar keine adäquate Ausbildung, um die komplexen Zusammenhänge unseres Wirtschaftssystems zu verstehen. Das kann einer der Gründe sein, warum öffentliche kritische Wortmeldungen von KünstlerInnen zur Finanzkrise, zu deren VerursacherInnen, zur einseitigen Belastung der „kleinen Leute“ mit den Krisenfolgen und zu gesellschaftlichen Alternativen rar sind. Ebenso rar wie künstlerische Auseinandersetzungen mit dieser Krise.
Weibel hat recht, wenn er die weltökonomischen Zusammenhänge als schwer verstehbar beschreibt. Natürlich fällt es auch KünstlerInnen leichter, schnell die richtigen Worte zu finden, wenn die Polizeiministerin Fekter zwei kosovarische Mädchen abschieben lässt, als hätten sie persönlich die beiden Flugzeuge in den Twin Tower dirigiert. Der Fall ist unkompliziert: Abschieben heißt, zu leugnen, dass es gute Gründe gibt, aus einer Region ohne Sicherheit in eine friedlichere zu flüchten. Wer abschiebt, lügt. Die Moral kann nicht an der Seite der Lüge seine. Darum gibt es viele KünstlerInnen in der Bleiberecht-Front.
„Naturgemäß“ findet man auch die Schauspielerin und Sängerin Maren Rahmann in dieser Front. Aber sie zählt zu jenen Engagierten, die den „Skandal“ nicht in den unappetlichsten Handlungen der Mächtigen sehen. Nein, der Skandal ist das Selbstverständliche und das Alltägliche – und das Ganze. Es gibt nichts Komplizierteres als das Ganze. Es ist nicht einmal einfach, das Ganze zu benennen: Neoliberalismus? Patriarchat? Kapitalismus? Geld? Je komplexer die Realität wurde, umso weniger taugte die landläufig verwendete Sprache, um die Zusammenhänge zu diskutieren. So kam es, dass die von den politisch und wirtschaftlich Mächtigen erniedrigten Opfer der Krise auch gleich von denen, die ihre Interessen zu vertreten vorgaben, erniedrigt wurden: von den KritikerInnen des Kapitalismus. Die verwendeten nämlich eine Sprache, die unverständlich blieb und ausschloss.
Gutes Leben – jedenfalls nicht hinter der Billa-Kassa
Maren Rahmann sah eine doppelte Herausforderung vor sich. Erstens: Nur mit einem „armen Theater“ (im Sinn des Wiener Lesetheatergründers Rolf Schwendter ein Theater, das ohne die übliche Infrastruktur des Theaters auskommt, sodass es keinen Punkt der Stadt gibt, wo es nicht auftreten kann) kann man sich räumlich, zeitlich und finanziell unabhängig von den institutionellen Zwängen des Kulturbetriebs machen. Zweitens: Gerade weil die Musik-Theater-Improvisations-Einheit „Marie übt die Anarchie“ überall in der Stadt gezeigt werden kann, muss die Erzählung des Stücks überall verstanden werden, sprachlich, musikalisch, dramaturgisch und narrativ. Nicht zufällig war ihr Stück zum ersten Mal im Rahmen einer „Making of“-Fotoausstellung zu Wagenhofers Neoliberalismus-Doku „Let´s make Money“ aufgeführt worden. Das Hauptanliegen des Regisseurs ist die Übersetzung der wirklichkeitsverschleiernden Sprache der Börse und Volkswirtschaftslehre in die MUNDART der Menschen „da unten“. Modellhaft zeigt Wagenhofers Film die Chancen auf, die im Herunterbrechen liegen. Eine nicht mehr durch akademische Verschleierungsbegrifflichkeit geschminkte Sprache der Krise, also eine zurückeroberte Sprache, kann die Zusammenhänge der Krise für jeden und jede verständlich machen.
Mithilfe Ihres Texters Franz Schandl – eines Theoretikers der radikalen Linken, dessen sympathische Distanzierung vom hermetischen Polit-Jargon durch seine Publikationen seit Jahren auffällt – erweist sich Maren Rahmann als Meisterin des Herunterbrechens, wobei diese Kunst im Stück „Marie übt die Anarchie“ jedoch nicht primär der Aufklärung über die politökonomische Realität dient, sondern einer Popularisierung utopischen Denkens.
Rahmanns Rolle ist die Supermarktkassiererin Marie, die trotz den Bedingungen der totalen Entfremdung in ihrer Arbeit doch zunehmend Lust an „philosophischen“ Fragestellungen hat und schließlich, mit dem Publikum kommunizierend, spielerisch sogar zur Mutter aller philosophischen Fragen vorstößt: Wie könnte ein „gutes Leben“ ausschauen? „Marie übt die Anarchie“ klappt, das zeigten die Aufführungen dieses Jahres, als Experiment der unmittelbarsten Verknüpfung von dramatischer Kunst, politischer Theorie und Publikumspartizipation. Was als Theater beginnt, endet in einem Zukunfts-Workshop; die zauberhaft aufmüpfige Supermarktkassiererin Marie ist der Link zwischen den beiden Welten. Sie spielt mit einer Idee, mit der man seit dem Ende des Dadaismus mit dem Publikum nicht mehr spielt. Mit der Idee der Anarchie als die konsequenteste aller Freiheitsideen. Und siehe da, auch ganz tief drin im Waldviertel findet das Publikum nichts Kriminelles an diesem Spiel. Nicht zuletzt deswegen, weil Rahmanns kongenialer musikalischer Partner Rudi Görnet quasi für die andere Seite der Dialektik der Befreiung steht: für die Gewissheit, dass in Wien selbst die Anarchie so schlampert ist, dass sich niemand vor ihr zu fürchten braucht.
aus: AUGUSTIN, Nummer 286, November 2010
PS.: „Marie übt die Anarchie“ wird im Rahmen des Festes der 50. Nummer der links-theoretischen Zeitschrift Streifzüge“ aufgeführt:
Freitag, 3. Dezember im Ost-Klub, Schwarzenbergplatz 10, 1040 Wien, 19 Uhr
Weitere Aufführungen:
11. und 12. 2. 2011, Theater Westliches Weinviertel (Theater im Stadl), Bahnstraße 201, 2042 Guntersdorf, www.tww.at
Rudi Görnet spielt jeden Dienstag im Cafe Ritter in der Ottakringer Straße 117 Jazz mit wechselnden MusikerInnen. 20.00 Uhr.
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