Dem Zins gezinstes Lob
Über den schwierigen Umgang mit faschistischem „Gedankengut“
von Ulrich Enderwitz
Bezugspunkt der folgenden Überlegungen ist ein mit „Lob des Zinses“ überschriebener kurzer Artikel von Gerhard Scheit, der in der Jungle World vom 10. Dezember 2009 erschien. Vor einiger Zeit habe ich in einem Offenen Brief die so genannten Antideutschen der „negativen Deutschtümelei“ geziehen. Jetzt scheint mir, liefert Scheit, der ja wohl den besagten Antideutschen nahe steht, ein redendes Beispiel für das logische Komplement der negativen Deutschtümelei, das ich als „negativen Antisemitismus“ bezeichnen möchte.
Scheits Artikel singt das Lob der Wertakkumulation und preist sie als die Mutter allen materiellen Fortschritts und universalen Impetus. Mit dieser These steht er nicht allein, und er hat für sie sowohl gute Gründe als auch glaubwürdige Mitstreiter. Auch Marx singt im Kommunistischen Manifest mit geradezu poetischer Inbrunst das Lob der bürgerlichen Wertakkumulierer und schreibt ihnen das Verdienst zu, die Enge und Beschränktheit der traditionellen Welt aufgebrochen zu haben und einer progressiven Entfaltung und universalen Verfassung des Menschengeschlechts den Weg zu bereiten. Allerdings ist das Marxsche Lob der Bourgeoisie erfüllt von tiefer Ironie: Die bürgerliche Klasse erbringt Marx zufolge ihre emanzipatorische Leistung wider Willen und quasi hinter dem eigenen Rücken, denn tatsächlich verfolgt sie zwanghaft eigensüchtige und entsprechend repressive Absichten, und wenn sie am Ende das Gegenteil ihrer egoistischen Zielsetzung bewirkt und sich dabei ihr eigenes Grab schaufelt, dann ist das die Ironie eines geschichtlichen Prozesses, der der zur List der Vernunft säkularisierten Vorsehung einer zum Gattungssubjekt naturalisierten übermenschlichen Macht gehorcht.
Von dieser qua List der Vernunft beschworenen Perspektive bleibt bei Scheit wenig übrig. Sie verliert sich teils zu einem bloßen, uneinlösbaren, weil durch das Wertakkumulationssystem jeweils bereits verspielten Potenzialis, also genauer gesagt, einem Irrealis oder, um einen anderen Antideutschen zu paraphrasieren, einer „Möglichkeit im Stande ihrer Unmöglichkeit“, teils erschöpft sie sich in dem von Scheit zutreffend als Eskapismus charakterisierten, vom herrschenden System selbst offen gelassenen Prospekt, sich durch falsche Versprechen und die Vortäuschung von systemkonformer Kreditwürdigkeit den ökonomischen Zwängen vorübergehend zu entziehen und eine Art von nomadischer Mobilität oder proteischer Freiheit innerhalb des Systems zu genießen.
Insofern freilich auch in dieser arg reduzierten und bis zur Unkenntlichkeit eines irrealen Sanktnimmerlein oder eskapistischen Ausbüchsens entstellten Form das Moment der Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und Repression an das Prinzip der Wertakkumulation und das von ihm bestimmte gesellschaftliche System gebunden und von ihm abhängig bleibt, erkennt Scheit in letzterem gleichermaßen die Grundlage und Garantiemacht jeglicher überhaupt denkbaren politischen Freiheit und generischen Universalität, die es gegen jede reaktionäre beziehungsweise regressive Bewegung, jeden Versuch mithin, sich aus den Zwangsverhältnissen der kapitalistisch organisierten Gesellschaft in den Terrorismus bündisch verschworener Gemeinschaften fortzustehlen, hochzuhalten und zu verteidigen gelte. Und so lautet denn seine frohe Botschaft, dass wir mit dem – all seiner Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit zum Trotz, der einzigen Alternative, dem Faschismus, allemal vorzuziehenden – normalen, sprich, liberalen kapitalistischen System zwar nicht gleich fraternisieren und gemeinsame Sache machen müssen, aber doch allen Grund haben, uns mit ihm abzufinden und unseren Frieden zu machen.
Dass Scheit die von Marx gehegte Zuversicht beziehungsweise Hoffnung auf eine dialektische Überwindung des kapitalistischen Systems und die schließliche Herstellung einer freien und universalen Gesellschaft nicht teilt, mag angesichts des empirischen Weltlaufs verständlich erscheinen. Weniger verständlich und geradezu rätselhaft mutet an, warum ihm seine Skepsis zum Anlass wird, das kapitalistische System zum einzigen Garanten einer wenigstens in irrealer oder eskapistischer Form überdauernden Freiheit und Universalität zu verklären, um nicht zu sagen, zu verhimmeln.
Das Rätsel wenn auch nicht gleich lösen, so immerhin doch erhellen kann aber vielleicht die Tatsache, dass Scheit das von ihm gepriesene kapitalistische System nicht unter dem Gesichtspunkt seines primären Prinzips, sondern aus dem Blickwinkel eines eher sekundären Aspekts ins Auge fasst und nämlich nicht von Mehrwert, sondern von Zins spricht, will heißen, nicht die Wertakkumulation, sondern die Geldvermehrung ins Zentrum seiner Betrachtung rückt. Nicht, dass nicht beides untrennbar zusammengehörte oder dass das eine ohne das andere überhaupt denkbar wäre. Wie es keine Wertakkumulation gibt, die nicht auf Geldvermehrung hinausläuft, gibt es keine Geldvermehrung, die nicht auf Wertakkumulation zurückgeht.
Dass beides getrennt erscheinen und den Eindruck zweier, von einander unabhängiger ökonomischer Vorgänge erwecken kann, hat historische Gründe und erklärt sich daraus, dass die für kapitalistische Gesellschaften typische Reproduktionsform einer mittels kommerzieller beziehungsweise industrieller Ausbeutung der Arbeit vor sich gehenden Wertakkumulation zwar Sache der später als Bourgeoisie definierten kommerziellen Betreiber beziehungsweise industriellen Unternehmer ist, dass aber das für den Bestand und Erfolg des kommerziellen Betriebs beziehungsweise industriellen Unternehmens nötige Kapital, das in die Ausbeutung der Arbeit gesteckte Geld, aufgrund des wachsenden Umfangs der kommerziellen beziehungsweise industriellen Aktivitäten sehr bald schon nicht mehr von dieser bourgeoisen Gruppe allein aufgebracht werden kann und letztere deshalb darauf angewiesen ist, dass andere, mit sächlichem oder geldlichem Vermögen ausgestattete Gesellschaftsschichten sich in den kapitalen Unternehmen in der Weise engagieren, dass sie ihr Vermögen oder Teile davon den kommerziellen und industriellen Kapitalagenten zur Verfügung stellen, es in die kapitalen Unternehmen investieren.
Anfangs handelt es sich bei diesen vermögenden und kraft ihres Vermögens in die kapitalistische Wertakkumulation investierenden Schichten in der Hauptsache um die traditionelle, aristokratisch-patrizische Oberschicht. In dem Maße aber, wie das kapitalistische System eine eigene, aus Angestellten, Staatsbeamten und Freiberuflern zusammengesetzte Klientel ins Leben ruft und in relativen Wohlstand setzt, ergänzt und verdrängt schließlich diese als bürgerlicher Mittelstand definierte Klientel die alte Oberschicht in der für die Versorgung des Systems mit hinlänglich Kapital unverzichtbaren Investorenrolle. Dafür, dass diese Investorenschicht den Kapitalagenten ihr Vermögen als Kapital zur Verfügung stellt und sich also durch solche Investition an der kommerziellen beziehungsweise industriellen Wertakkumulation beteiligt, erhält sie einen Anteil am – brutto als Mehrwert, netto als Profit definierten – kapitalistisch akkumulierten Wert, einen Anteil, der durchaus treffend mit jenem traditionellen Begriff „Zins“ bezeichnet wird, auf den Scheit in merkwürdiger Akzentverschiebung den ganzen, von ihm als Garant der letzten, irrealen Reminiszenzen und eskapistischen Reste von Freiheit und Universalität hochgehaltenen kapitalistischen Prozess konzentriert.
Treffend ist die Bezeichnung Zins für den den aristokratischen beziehungsweise bürgerlichen Investoren des kapitalistischen Verwertungsprozesses zufallenden Anteil am akkumulierten Wert deshalb, weil der Begriff in seiner Altertümlichkeit, seiner hinter die kapitalistische Produktionsweise zurückreichenden Bedeutung herausstellt, dass jene Investoren im Prinzip die gleiche politisch-ökonomische Stellung einnehmen wie die territoriale, auf das Eigentum an Grund und Boden gegründete Herrschaft der vorkapitalistischen Zeit und also quasi an die Stelle der früheren Grundherren treten. Wie die herrschaftlichen Grundeigentümer der Vergangenheit ziehen auch die bürgerlichen Geldgeber des kapitalistischen Systems Nutzen aus Produktions- beziehungsweise Wertschöpfungsprozessen, mit denen sie selber nicht direkt befasst sind und deren Abwicklung sie anderen überlassen. Und zwar ziehen sie nur deshalb Nutzen aus den ihnen als solche weitgehend gleichgültigen Produktionsprozessen, können sie nur deshalb als „stille Teilhaber“ firmieren, weil sie die Verfügungsgewalt über eine ökonomische Grundbedingung jener Prozesse haben. In früheren, wesentlich bäuerlich-agrikulturell geprägten Zeiten ist das die in ihrer herrschaftlichen Machtstellung gründende Verfügung über landwirtschaftlich nutzbaren Grund und Boden, in der ebenso wesentlich handwerklich-industriell orientierten Neuzeit ist es die ihrem bürgerlichen Wohlstand geschuldete Verfügung über kapitalistisch einsetzbares allgemeines Äquivalent. Hier wie dort firmieren diese Nutznießer der gesellschaftlichen Reproduktion – und eben das ist im Zinsbegriff impliziert – als „ Teilhaber“, die den Wertschöpfungsprozess, an dessen Früchten sie teilhaben, nicht als solchen erfahren, geschweige denn mitmachen und durchlaufen, sondern die eben nur an seinem Ergebnis partizipieren und denen sich deshalb das Ganze auf einen abstrakten Klappmechanismus reduziert, einen kurzen Prozess der Verwandlung von Wasser in Wein, eine wundersame, weil durch kein erkennbar reales Tun vermittelte herrschaftliche Anhäufung von Reichtum beziehungsweise bürgerliche Geldvermehrung.
Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftlichen Mechanismus scheint auf den ersten Blick klar, worauf die Akzentverschiebung Scheits vom Mehrwert zum Zins, sprich, von der konkreten Wertakkumulation zur abstrakten Geldvermehrung abzielt. Scheit verklärt, so scheint es, nicht einfach das kapitalistische Produktionssystem als solches beziehungsweise dessen Unternehmer und Betreiber zu Garanten der drastisch residualen Freiheit und flüchtigen Universalität, auf die sich der von Marx dialektisch beschworene Prospekt der bürgerlichen Gesellschaft reduziert hat, sondern als diese Garanten sieht er primär die sekundären Nutznießer des kapitalistischen Systems, die in den Prozess der Ausbeutung, in den Wertschöpfungsprozess investierende vermögende Klientel des Kapitals, das Besitzbürgertum. So gesehen, scheint es sich bei seiner Analyse um ein Stück Mittelstandsideologie, eine Spielart des Bemühens zu handeln, die im Wohlstand lebende und durch ihre Investitionen in den Ausbeutungsprozess dem Kapital ebenso sehr sekundierende wie von ihm profitierende und ihre gesellschaftliche Stellung auf seine Wirksamkeit gründende bürgerliche Klasse als den Inbegriff von Gesittung, Bildung, Liberalität und Kosmopolitismus, kurz, als Trägerin aller Zivilisation und Schutzpatronin gegen jede Form der in den Kulissen der Weltgeschichte lauernden gemeinschaftsterroristischen Reaktion beziehungsweise ursprungsmythischen Regression hochzuhalten.
Gegen solch simple Denunziation Scheits als Mittelstandsideologen spricht allerdings die Tatsache, dass er eine scheinbar grundlegende Differenz zwischen jenen mittelständischen Eigentümern, den bürgerlichen Investoren, und denjenigen gewahrt, die er die „Manager des Finanzmarkts“ nennt und deren gesellschaftliche Funktion es ist, die Investitionen der bürgerlichen Eigentümer in den Kapitalprozess zu vermitteln, zu organisieren und zu kanalisieren. Sie, die Finanziers und Bankiers, sind es, die nach Scheits Ansicht dem bürgerlichen Eigentum erst seine Liberalität und Universalität, Freizügigkeit und Weltoffenheit garantierende Zinslustigkeit verschaffen, während die bürgerlichen Eigentümer selbst aus bornierter Besitzgier, aus Angst um ihr Eigentum ganz im Gegenteil zwanghaft einem ebenso konspiratorischen wie xenophoben Sicherheitsdenken zuneigen und einer entsprechend auf autoritäre Ordnung und protektionistische Abschottung setzenden volksgemeinschaftlichen Staatsmacht das Wort reden.
So sehr diese quasi existenzielle Unterscheidung zwischen zinslustig-investitivem und bestandsängstlich-possessivem Vermögen, sprich, zwischen großem Finanzwesen und kleinlichem Bürgertum Scheit als Mittelstandsideologen auf den ersten Blick exkulpieren mag, sie scheint doch arg an den Haaren herbeigezogen! Schließlich ist ja das Bankenwesen in seiner modernen Form nichts weiter als Konsequenz des mit der kapitalistischen Entfaltung wachsenden Bedarfs an Investitionskapital und sind insofern die Bankiers und „Finanzmanager“ auch nichts weiter als die den bürgerlichen Eigentümern, der vermögenden Klasse, dienstbaren Organisatoren eben jenes von der bürgerlichen Klasse gegen Beteiligung an den Profiten, gegen Zins, dem Kapital und seiner Entfaltung in Form von allgemeinem Äquivalent geleisteten Sukkurses. Die bürgerliche Klasse ist, wenn man so will, das Kleinvieh, das den Mist macht, ohne den die großen Finanztiere funktionslos wären und den Einfluss auf den Kapitalprozess, den sie als Ausbringer des Mists genießen, im Nu einbüßten.
Zwar trifft der von Scheit konstatierte intentionale Widerspruch zwischen den bürgerlichen Eigentümern und ihren Finanzmanagern ohne Frage zu und stimmt es mit anderen Worten, dass – wie derzeit ja plastisch vorgeführt – zwischen der wachsenden Risikobereitschaft und Hochstapelei der letzteren und der zunehmenden Risikoscheu und Kleinmütigkeit der ersteren eine tiefe Kluft besteht. Aber diese Kluft ist nichts weiter als Folge der politisch-ökonomischen Verhältnisse eines an die Grenzen des fetischisierten Wirtschaftswachstums gelangenden Kapitalprozesses, der ausbeutungsgenerierten Profit und daran partizipierenden Zins eigentlich gar nicht mehr zulässt, aber bei Strafe eines Zusammenbruchs des ganzen Systems beides als unverbrüchlich Gegebenes zu realisieren oder notfalls zu simulieren gezwungen ist. Aber wenn Scheit diesen sich zuspitzenden objektiven Widerspruch nun zum Anlass nimmt, die an der Geldvermehrung verzweifelnden bürgerlichen Eigentümer als Garanten der als Vermächtnis einer verlorenen Zukunft hochgehaltenen residualen Freiheit und eskapistischen Universalität der bürgerlichen Gesellschaft zu disqualifizieren und dieses Verdienst restbeständig gewahrter Freiheit und Universalität einzig und allein noch den die Geldvermehrung notfalls per Blasenbildung inszenierenden „Finanzmanagern“ der bürgerlichen Eigentümer zuzusprechen, dann erscheint das nicht nur als eine arge Verkennung des ebenso untrennbaren wie systematischen Zusammenhangs, den die Eigentümer und ihre Broker bilden, sondern bedeutet auch eine fragwürdige Verschiebung des Verhältnisses beider von der ökonomischen und historischen zu einer psychologischen oder anthropologischen Betrachtungsweise. So, als wären sie nicht selbst noch im äußersten Widerspruch und in der manifestesten Krise getreue Diener ihrer zwischen dem Zwang zum Investieren und der Angst davor hin und her gerissenen bürgerlichen Herren, erscheinen in Scheits Darstellung die Finanziers und Bankiers als frei waltende Bannerträger, mit deren selbst noch in der größten ökonomischen Verantwortungslosigkeit politisch verantwortungsvoller, weil Freiheit und Universalität als wie immer auch irrealen Aspekt und eskapistische Position wahrender Aktivität die bürgerliche Gesellschaft steht und fällt und nämlich vor dem Sturz in regressive Zwangsvergesellschaftung und ursprungsmythischen Terror bewahrt bleibt.
Einen gewissen Sinn erhält diese Verklärung des Bankenwesens zum Sachwalter einer liberalen und offenen, sprich, nicht von staatlicher Unterdrückung und bündischem Korporatismus zugrunde gerichteten bürgerlichen Gesellschaft höchstens und nur dann, wenn wir sie als Reaktion auf eine andere, historisch folgenreiche Version vom Bankenwesen begreifen, die letzteres ebenso sehr wie die Scheitsche, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, ins Rampenlicht rückt. Gemeint ist die faschistische Vorstellung vom Bankenwesen als „raffendem Kapital“. Wie bekannt, braucht der Faschismus den Popanz des „raffenden Kapitals“, um den Kapitalismus zum Zweck seiner Rettung aus der internationalen Krise in ein nationales, volksgemeinschaftlich betriebenes Unternehmen zu überführen und nämlich unter dem Banner eines vom „raffenden“ befreiten „schaffenden Kapitals“ die nunmehr unter staatliche Kuratel und Regie gestellte und zur Arbeitsfront, zur kämpferischen Aufbruchsbewegung verklärte alte Ausbeutungs- und Akkumulationsstrategie fortzusetzen. Das zinsnehmend „raffende“ Kapital erscheint in dieser Lesart vom gesellschaftsprägenden Bankenwesen als eine schmarotzerisch-selbstsüchtige und konfliktschürend-asoziale Instanz, deren Ausschaltung und Beseitigung genügt, um das Kapital als positive, wertschöpfend „schaffende“ Macht wieder zur Geltung kommen und, wenn auch eingeschränkt auf eine nationalistisch verschworene Volksgenossenschaft, seine segensreiche, Produktivität und Wohlstand garantierende Wirkung entfalten zu lassen.
Dieser historische Rückbezug könnte uns nahe legen, Scheits Loblied auf den Zins als antifaschistische Intervention, sprich, als Antithese gegen dessen Verteufelung durch den Faschismus zu interpretieren. Gegen den faschistischen Versuch, das zinsnehmende Kapital als die Wurzel allen Übels auszumachen und aus der Welt zu schaffen, setzte demnach Scheit seine Überzeugung, dass im Gegenteil eben jenes zinsnehmende Kapital der letzte und einzige Garant gesellschaftlicher Liberalität und Freizügigkeit und mithin dasjenige ist, was allein noch für eine kapitalistische Ordnung mit halbwegs menschlichem Antlitz einsteht. Indes hält es schwer, die so verstandene Gegenthese als ernsthaft theoretischen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Faschismus zu akzeptieren. Würde eine solche Auseinandersetzung nicht vor allem anderen erfordern, dass man sich gegen jenen scheinbaren Gegensatz von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital verwahrt und durch eine Analyse des Kapitalprozesses als ganzen das Ideologische und Irreführende jenes Versuchs analysiert, in der Vorstellung vom „raffenden“ Kapital das verwerflich kapitalistische, auf die Ausbeutung und Expropriation anderer gerichtete Moment am Kapital aufzuspießen, um hinter dieser „Haltet-den-Dieb“-Strategie dem die gesellschaftliche Arbeit organisierenden, „schaffenden“ Kapital Dispens zu erteilen und gar die Anerkennung eines dem Volkswohl dienlichen und deshalb von allen „Ständen“ und nicht zuletzt auch von dem des Arbeiters hochzuhaltenden unverzichtbaren Reproduktionsmechanismus zu sichern?
Wie lässt sich gesellschaftstheoretisch beziehungsweise kapitalismuskritisch ein Vorgehen rechtfertigen, das den ideologischen, die beiden Funktionsmomente des Kapitalprozesses, die oben als Wertschöpfung und Geldvermehrung apostrophiert wurden, zu einem gnostischen Gegensatz auseinander reißenden Ansatz kurzerhand übernimmt, das eine Glied des Gegensatzes, die zum „schaffenden“ Kapital hypostasierte Wertschöpfung, überhaupt aus der Betrachtung ausblendet und seine Kritik am Faschismus darauf beschränkt, das andere Glied des Gegensatzes, die zum „raffenden“ Kapital dämonisierte Geldvermehrung, ihrer faschistischen Verteufelung zu entreißen und als im Gegenteil wahrhaftige Gottesgabe in einer ansonsten sozialem Konformismus und kommunalem Zwang verfallenen, sprich, von Unterdrückung und Terror beherrschten Welt zu rehabilitieren?
So merkwürdig dieses gar nicht weiter begründete Hohelied Scheits auf das Zinsnehmen alias Bankenwesen aber auch anmuten mag, eine Erklärung dafür liefert, meine ich, eine wichtige Zusatzbestimmung, die der Faschismus, speziell in seiner verheerendsten, nationalsozialistischen Spielart, diesem als „raffendes“ Kapital denunzierten Bankenwesen verleiht, nämlich die Charakterisierung des letzteren als einer wesentlich von Juden erfundenen, eingeführten und betriebenen und dementsprechend „jüdisch“ geprägten, von „jüdischem Geist“ erfüllten Einrichtung. Von Anfang an ist der zur Rettung des kapitalistischen Gesellschaftssystems am Popanz des „raffenden Kapitals“ ausagierte faschistische Antikapitalismus nationalsozialistischer Prägung wesentlich und zugleich Antisemitismus: Die Juden figurieren als gleichermaßen die ökonomischen Agenten und politischen Repräsentanten eben jenes kapitalen Popanz. Sie figurieren, das heißt, sie müssen leibhaftig und persönlich, sprich, konkret für ein abstraktes gesellschaftliches Verhältnis einstehen, mit dem sie nichts verbindet als die Geschichtsklitterei eines althergebrachten, teils religiös beglaubigten, teils rassistisch befestigten Vorurteils und Ressentiments und in das sie also auf etwa die gleiche Weise gelangen, wie – mit Brecht zu reden – der Pontius ins Credo. Und eben weil es ein abstraktes, sprich, der Hypostasierung eines bloßen Funktionsmoments des Kapitalprozesses zu einem angeblich ebenso eigenständigen wie wirkmächtigen Faktor geschuldetes Verhältnis, also etwas als solches und empirisch gar nicht Existierendes ist, für das die Juden einstehen müssen, bedeutet ihr Einstehen für jenes hypostasierte Verhältnis, dass letzteres ausschließlich in ihnen Wirklichkeit behauptet, einzig und allein in ihrer Leibhaftigkeit und personalen Gegenwart greifbar ist, durch nichts als durch sie verkörpert und symbolisch vertreten wird.
Und diese absurde Konkreszenz von hypostatischem Begriff und lebendigem Dasein, Essenz und Existenz wiederum hat furchtbare Folgen, weil sie bedeutet, dass jeder Versuch, den Popanz „raffendes“ Kapital nicht bloß anzuklagen und ideologisch an den Pranger zu stellen, sondern mehr noch anzugreifen und faktisch aus der Welt zu schaffen, nolens volens darauf hinausläuft, diejenigen, in denen der Popanz Gestalt annimmt, die Juden, zu verfolgen und zu vernichten. Die, wie man will, Irrenlogik oder zynische Symbolik, die einen hypostatischen Begriff, das als Wurzel allen gesellschaftlichen Übels dingfest gemachte „raffende“ Kapital, in einer ebenso aktuell willkürlich wie traditionell unwillkürlich aufs Korn genommenen empirischen Wirklichkeit, den bereits in der Vergangenheit in gesellschaftlichen Konflikten als Sündenbock bewährten Juden, Gestalt gewinnen lässt, resultiert geradezu zwangsläufig in der Wahnsinnstat einer gegen diese empirische Wirklichkeit gerichteten Vernichtungskampagne, im Massenmord an den Juden.
Meines Erachtens ist es diese ebenso schwer fassliche wie zwanghafte Verwandlung eines zynisch propagandistischen Symbolismus in massenmörderische Realität, die Scheit (und nicht nur er) als unerträglich empfindet und die ihn (wie auch andere) dazu bringt, den Zusammenhang zwischen der scheinbaren Kapitalismuskritik des Faschismus und seiner alles andere als scheinbaren Vernichtungskampagne gegen die Juden einer mehr oder minder heimlichen Revision zu unterziehen. Dreh- und Angelpunkt dieser Revision ist das Bemühen, der massenhaften Vernichtung menschlichen Lebens, die im Namen des spiegelfechterischen Kampfes gegen ein hypostatisches Abstraktum geschieht, die vollständige Kontingenz und Sinnlosigkeit zu nehmen, in der sie sich dem analytischen Blick darbietet. Dieses Bemühen aber resultiert in einer Affirmation und Verklärung eben jenes hypostatischen Abstraktums, das der Faschismus negiert und dämonisiert.
Die Juden – so das geheime Motiv der Scheitschen Verkehrung des hypostatischen Abstraktums „raffendes Kapital“ in das zivilisatorische Prinzip Zins – können und dürfen nicht völlig umsonst und absolut sinnlos gestorben sein. Das, wofür sie ihr Leben haben lassen müssen, muss etwas an sich haben beziehungsweise etwas darstellen, wofür es sich zwar nicht zu sterben lohnt (so weit zu gehen, wäre schierer Zynismus), wodurch aber wenigstens doch ihrem Tod ein Moment von Würde und Bedeutung zurückgegeben wird. Das Blut, das um seinetwillen und als stellvertretendes Opfer für es vergossen wurde, dient jenem hypostatischen Abstraktum zu seiner Beglaubigung und Bekräftigung, mithin zur Bestätigung seines faschistisch-falschen Anspruchs, nicht bloß Funktionsmoment des Kapitalprozesses, sondern, für sich genommen, maßgebender politisch-ökonomischer Faktor zu sein – nur dass dieser Faktor jetzt das Vorzeichen gewechselt hat und aus einem kritisierten und verteufelten zu einem affirmierten und verklärten Phänomen wird. Der seinetwegen an den Juden, seinen gesellschaftlichen Repräsentanten, begangene Massenmord weist den Zins alias „raffendes Kapital“ als eine antifaschistische Bastion der bürgerlichen Gesellschaft aus, deren Erhaltung und Verteidigung gleichbedeutend wird mit dem Engagement für die Juden und dem Bemühen, sie vor weiterer Verfolgung und künftiger Vernichtung zu bewahren. Weil aus dieser Perspektive die Juden durch ihre Verfolgung und Ermordung jenem Popanz faschistischer Kapitalkritik wenn auch keinen substanziell-positiven Sinn, so immerhin doch eine funktionell-affirmative Bedeutung vindizieren, wird das Eintreten für die Juden beziehungsweise die Bejahung ihres politisch-staatlichen Selbstbehauptungsanspruchs gleichbedeutend mit Parteinahme für eben jenen Popanz und seine kritiklose Anerkennung als antifaschistischer Schutzwall.
Durch den Massenmord an den Juden, der nicht eine in all ihrer Entsetzlichkeit ebenso sinnlose wie zynische Schlächterei sein darf und vielmehr die Bedeutung eines Opfers gewinnen soll, gleichermaßen substantiiert und reaffirmiert, behauptet also in der Scheitschen Perspektive der Popanz Zins alias „raffendes Kapital“ exakt die zentrale Stellung und Schlüsselposition, die ihm der Faschismus zuwies – nur eben jetzt nicht mehr als eine die Volksgemeinschaft am Übergang in die neue, nationalsozialistische Welt hindernde und deshalb verdammenswerte, sondern als die Staatengemeinschaft vor dem Untergang der alten, liberalbürgerlichen Welt bewahrende und deshalb hochzuhaltende Macht. War der Popanz vorher der Gottseibeiuns, der verhinderte, dass die bürgerlich-kapitalistische Welt nationalsozialistisch-völkisch genas, so ist er jetzt der Demiurg, der allein die bürgerlich-kapitalistische Welt, wie wir sie angesichts der ihr drohenden völkisch-nationalsozialistischen Krankheit zum Tode kennen und schätzen gelernt haben, am Leben erhält. Das Problem ist also, dass hier unter dem traumatischen Eindruck des Massenmords an den Juden die ideologisch irreführende Sicht des Faschismus auf die bürgerliche Gesellschaft und die dafür entscheidende Hypostasierung des Bankenwesens aus einem bloß funktionellen Moment des diese Gesellschaft beherrschenden Kapitalprozesses zu einem den Kapitalprozess beherrschenden substanziellen Faktor dieser Gesellschaft prinzipiell übernommen und strukturell gelten gelassen wird.
Die Welt erscheint in actu jener faschistischen Hypostasierung quasi angehalten und stillgestellt, weil das ganze intellektuelle Bemühen darum kreist, jener durch den Massenmord an den Juden substantiierten Hypostase die gleiche geschichtsphilosophische Relevanz und gesellschaftstheoretische Bedeutung zuzuerkennen, die ihr der Faschismus attestiert, nur dass jetzt aus einem vernichtenswerten Negativum ein erhaltenswertes Positivum geworden ist. Sowenig Scheit den Massenmord an den Juden als die der Pathologie einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft entspringende „Ersatzhandlung“, die sie ist, das heißt, jenen Mord in seiner ganzen symptomatischen Kontingenz und Sinnlosigkeit akzeptieren kann, sowenig kommt er über jene Hypostase als janusköpfiges und nämlich ebenso sehr von ihm zum Erhalter verklärtes wie vom Faschismus zum Zerstörer dämonisiertes Wahrzeichen der bürgerlichen Gesellschaft hinweg. Dass der Weltlauf, der historische Prozess keineswegs zum Stillstand gekommen, sondern längst über den Faschismus in seiner nationalsozialistischen Ausprägung und über dessen „kapitalkritischen“ Popanz hinweggegangen, mit anderen Worten, zur Tagesordnung eines Kapitalprozesses zurückgekehrt ist, in dem jener Popanz, der Zins, nichts weiter als ein Funktionsmoment eines in schlechter Unendlichkeit dem Akkumulations- und Wachstumswahn verfallenen und sich und seine soziale beziehungsweise naturale Grundlage zielstrebig zugrunde richtenden kapitalistischen Reproduktionssystems darstellt, nimmt Scheit nicht zur Kenntnis, und es interessiert ihn auch nicht.
Scheit interessiert nur die stillgestellte, um den faschistischen Popanz, den er zum liberalistischen Demiurgen verklärt, kreisende Welt der nationalsozialistischen Ära, hinter beziehungsweise in der alles weitere historische Geschehen, der nicht aufzuhaltende empirische Prozess verschwindet. Oder vielmehr nicht verschwindet! Verschwände die vom unaufhaltsamen Weltlauf prozessierte Empirie schlicht und einfach, würde zwar Scheits Realitätswahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit Schaden nehmen, aber damit hätte es auch schon sein Bewenden. Die kraft Weltlauf veränderte Empirie ist indes da und ist nicht zu übersehen, und deshalb genügt es nicht, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie muss so interpretiert und revidiert werden, dass sie sich in den Rahmen der stillgestellten, um den Popanz faschistischer Kapitalkritik kreisenden Konstellation fügt. So gewiss der faschistische Popanz, wenn auch in den liberalistischen Demiurgen transfiguriert, unverbrüchlich die Stellung hält, so gewiss muss auch der Faschismus selbst als im Rahmen der manichäischen Konstellation bedrohlich mächtiger Gegenspieler das Feld behaupten. Und so gewiss der Popanz eine durch Blut besiegelte und dadurch aus einer symbolischen Repräsentanz in eine substanzielle Interdependenz überführte Affinität zu den Juden beweist, so gewiss muss auch jene unverändert das Feld behauptende und die liberalistisch-bürgerliche Gesellschaft bedrohende faschistisch-terroristische Gegenmacht unverändert vom Antisemitismus als einer Wesens- und Kernbestimmung ihres Daseins durchdrungen sein.
Rückt die Empirie diese für einen Weltlauf, der zur kosmischen Konstellation erstarrt ist, maßgebenden Komponenten nicht freiwillig heraus, so müssen sie ihr mit interpretativer Entschiedenheit beziehungsweise revisionistischer Willkür entrissen werden. Ohne Rücksicht auf ökonomische und gesellschafts- oder geopolitische Plausibilität werden Gruppen, Regionen oder ganze Staaten in den Dienst an jener kosmischen Konstellation gepresst und als latent oder manifest perennierende Inkarnationen des faschistisch-bündischen Gegenspielers der liberalistisch-bürgerlichen Gesellschaft ausgemacht. Und ohne Rücksicht auf seine historische Stellung, seine politisch-soziale Verfassung und den geopolitischen Zusammenhang, in dem er steht, wird der Staat Israel als Fluchtburg der vom unverändert faschistischen Gegenspieler unverändert verfolgten Juden identifiziert, einer Fluchtburg, die im Rahmen jener kosmischen Konstellation als konsubstanzielles Pendant zur Hochburg der bürgerlichen Gesellschaft, zur Freiheit und Universalität verkörpernden demiurgischen Zinsmacht, zum als Garant eines bürgerlichen Lebens, das sich den Schrecken roher personaler Gewalt und nackten sozialen Zwangs zu entziehen vermag, firmierenden Bankenwesen erscheint und die in dieser Beziehung einer Sichtweise entspringt, die sich mit der obigen Formulierung als „negativer Antisemitismus“ charakterisieren lässt.
Nicht, dass von den Gruppen, die in dieser Konstruktion den unverändert faschistischen Gegenspieler geben müssen, keine realen Gefahren ausgehen (so sehr eine imperialistische Strategie und kulturkämpferische Propaganda diese Gefahren auch instrumentalisieren und übertreiben beziehungsweise verfälschen mag)! Und nicht, dass der Staat Israel nicht wirklich durch das Umfeld, in dem er steht, ernsthaft bedroht ist (so sehr Israel selbst aus religiös inspiriertem Chauvinismus oder Mangel an staatsmännischem Mut durch seine Siedlungs- und Präventionspolitik dazu beitragen mag, dass sich an der Bedrohungssituation nichts ändert)! Und auch nicht, dass es keinen Antisemitismus mehr in der Welt gibt beziehungsweise dass er als altbewährter Konfliktverschiebungsmechanismus nicht nach wie vor fatale Aktualität beweisen kann! Das Problem ist nur, dass alle Beteiligten, alle, von denen durchaus reale Bedrohungen ausgehen beziehungsweise die durchaus realen Gefährdungen ausgesetzt sind, durch ihre Vereinnahmung für jene Geschichte stillstellende und als faschistischen Urtypus dingfest machende Konstellation Rollen übernehmen und in Kostüme schlüpfen müssen, die ihnen partout nicht auf den Leib geschneidert sind und die es schwer oder unmöglich machen, die dahinter verschwindende Empirie, jene realen Bedrohungen und Gefährdungen noch als solche wahrzunehmen, geschweige denn, in ihrer historischen Kausalität und spezifischen Aktualität zu erkennen.
Zu einer vernünftigen Gegenwartsanalyse, einer den neuen politischen Machtverhältnissen und ökonomischen Krisenpotenzialen in der Welt, ihren faschistischen Rezepten und rassistischen Tendenzen Rechnung tragenden Zustandsbeschreibung taugt Scheits Fixierung auf den nationalsozialistischen Augenblick als auf einen den Weltlauf zum Stillstand bringenden und zur manichäischen Konstellation verzaubernden satanischen Kairos mit Sicherheit nicht. Höchstens und nur taugt sie dazu, den ebenso bequemen wie korrupten Status quo unserer Industriegesellschaften gesund zu beten, die mit den vereinten Kräften eines nach außen betriebenen Wirtschaftsimperialismus und einer im Innern geschürten Konsumwut die große Krise ebenso gewiss vor sich auftürmen und heraufbeschwören wie vor sich herschieben und zu bannen suchen.