Klimawandel bereits über der “Chaos-Schwelle”?
Potsdamer Institut: Ja zu Globalen Agro-Commons!
von Andreas Exner
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt stellt das renommierte Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in einem Bericht vom 18.6.2009 fest:
„Wichtige Klimaindikatoren wie die globale Durchschnittstemperatur, der Meeresspiegelanstieg und Extremwetter-Ereignisse bewegen sich bereits außerhalb der Muster natürlicher Variabilität, innerhalb derer sich die moderne Gesellschaft und Wirtschaft entwickelt haben.“
Dies ist durchaus diplomatisch formuliert. Wie das PIK in seiner Pressemitteilung festhält, zeigen neue Beobachtungsdaten, dass die Zunahme der Emissionen von Treibhausgasen und die Veränderung vieler Bestandteile des Klimasystems im oberen Bereich der Erwartungen liegen, die sich aus den Projektionen des IPCC ergeben.
Im Klartext: es kommt schlimmer als bis vor Kurzem noch erwartet.
Seit den 1990er Jahren propagierte die wissenschaftliche Gemeinschaft, die menschengemachte Erderwärmung auf 2 Grad Celsius im Vergleich zum vor-industriellen Niveau zu begrenzen. Sollte sich die globale Durchschnittstemperatur stärker erhöhen, so lautete der Tenor, wären unabsehbare Klimaveränderungen mit katastrophalen Wirkungen die Folge. Doch resümiert das PIK in seinem neuesten Bericht, dass sowohl das IPCC als auch andere jüngere Forschungen zeigen, dass sogar bei geringeren Temperaturanstiegen die Auswirkungen bedeutsam sind – „significant“ im Wortlaut (siehe Synthese-Bericht des PIK).
Einige Gesellschaften könnten sich an ein solches Ausmaß der Erwärmung freilich durch pro-aktive Strategien anpassen, meint das PIK. Jenseits der 2 Grad-Erwärmungsschwelle allerdings, „nimmt die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaft und Ökosystemen rapide ab, mit einem wachsenden Risiko von sozialer Zerrüttung aufgrund von Effekten auf die Gesundheit, Wasserknappheit und Nahrungsmittelknappheit.“
Das PIK stellt weiter fest, dass neueste Beobachtungen zeigen, dass Gesellschaften und Ökosysteme hochgradig verwundbar sind selbst bei lediglich moderatem Klimawandel. Besonders gefährdet seien arme Länder und Gemeinschaften, Ökosystem-Dienstleistungen (also z.B. die Wasserversorgung) und die Biodiversität.
Das PIK ist unmissverständlich: „Ein Temperaturanstieg über 2 Grad Celsius wird für moderne Gesellschaften schwierig zu bewältigen sein, und er wird wahrscheinlich massive soziale und ökologische Verwerfungen für den Rest des Jahrhunderts und darüber hinaus nach sich ziehen.“
Das PIK analysiert weiter,
dass (1) katastrophale Klimawandeleffekte, wie sich nun zeige, bereits bei deutlich geringeren Levels des globalen Anstiegs der Durchschnittstemperatur auftreten [als bisher vermutet];
dass (2) eine 2 Grad-Celsius-Schwelle, von der man 2001 noch glaubte, sie könnte schwerwiegende Risiken vermeiden, nun als unzureichend angesehen wird, um schwerwiegende Risiken für viele einzigartige und bedrohte Ökosysteme abzuwenden und um einen großen Anstieg im Risiko zu verhindern, das mit extremen Wetterereignissen verbunden ist;
dass (3) das Risiko für großräumige Verwerfungen, so etwa das Überschreiten der „Kipp-Punkte“ des globalen Klimasystems, das man bei einer 2 Grad-Erwärmung 2001 für sehr gering einschätzte, nunmehr als moderat eingestuft wird [bei Erreichen der 2 Grad-Schwelle].
(Anmerkung von mir: das Überschreiten dieser Kipp-Punkte bedeutet, das sich der Klimawandel auf nicht vorhersehbare Weise beschleunigt und noch größere negative Auswirkungen hat als in dem Fall, dass die Kipp-Punkte nicht überschritten werden. Zu den möglichen Auswirkungen zählen laut PIK u.a. ein Absterben des amazonischen Regenwaldes, ein Absterben des borealen Nadelwaldes, ein Abschmelzen des arktischen Eises.)
Das PIK hält fest: „In Summe beinhaltet ein Temperaturanstieg um 2 Grad Celsius gegenüber vor-industriellem Niveau, obwohl dieser der meist zitierte Schwellenwert um einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden, bleibt, deutliche Risiken schädlicher Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt.“
(Nur noch einmal zur Klarstellung: Dies ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Bericht.)
Man muss sich diese Folgen einer Erwärmung über 2 Grad Celsius vor Augen halten, um zu begreifen, was das PIK weiter konstatiert:
„…die CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre sind bereits auf einem Level, für das ein globaler Temperaturanstieg zwischen 2 und 2,4 Grad Celsius prognostiziert wird. Wenn die Gesellschaft die Treibhausgaskonzentrationen auf diesem Level stabilisieren will, dann müssten die globalen Emissionen, theoretisch, sofort um 60-80% reduziert werden, wobei das tatsächliche Ausmaß davon abhängt, wieviel die Ozeane und Landflächen aufnehmen. Angesichts des Umstands, dass eine solch dramatische sofortige Reduktion unmöglich ist, werden die Treibhausgaskonzentrationen im Verlauf der nächsten Jahrzehnte weiter steigen. Ein Überschreiten des Levels der atmosphärischen Treibhausgasemissionen, das eingehalten werden müsste, um die globale Erwärmung auf 2 Grad Celsius zu beschränken, ist daher unvermeidlich. Um das Ausmaß dieser Überschreitung zu limitieren, sollten die Emissionen in naher Zukunft ihren Gipfelpunkt erreichen.“
Man darf auf die Monstrosität des kapitalistisch fabrizierten Unheils, das darin benannt wird, noch einmal gesondert verweisen. Es scheint so, als wäre eine Katastrophe diesen Ausmaßes zu groß, um noch als eine solche wahrgenommen zu werden. Genauso wie die meisten Menschen – auch in der Grünpartei – die Augen davor verschließen, dass Klimaschutz nicht heißen kann, auf „Wachstum“ zu setzen (siehe zum Beispiel unser Buch „Die Grenzen des Kapitalismus“ für eine detaillierte Diskussion, auch der vermeintlichen Breiten-Alternative „Elektroauto“), schließen sie die Augen davor, dass ein paar miese „Arbeitsplätze“ bei Infineon oder sonstwo in der Autobranche nicht einmal in einem mikroskopischen Verhältnis zur Dimension der Probleme steht, die sie – die famosen „Arbeitsplätze“ – bereits verursacht haben.
Der einzig mögliche Realismus ist deshalb:
1) Autoindustrie stilllegen. Zumindest zu 90%.
2) Bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Für Alle. Jetzt.
Wer dies für unrealistisch hält, wird mit einer Realität der Katastrophe leben müssen, die er und sie selbst mitzuverantworten hat. Und zwar nicht einmal, weil man eingetreten wäre für etwas Erstrebenswertes wie ein gutes Leben für Alle, oder für ein „Nach-mir-die-Sintflut“ in der Art von „lieber Genuss heute und dafür Leiden morgen“. Nein, sondern simpel und borniert für ein paar beschissene „Arbeitsplätze“, als wären wir in einem Gefängnis, das uns „beschäftigen“ muss.
Die lebensgefährliche Absurdität dieser Denke ist unüberbietbar. Kommende Generationen werden uns dafür verfluchen.
Noch aber ist der Ausgang dieser Auseinandersetzung, der die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte prägen wird, nicht entschieden. Es hängt davon ab, wie wir uns entscheiden.
Der zentrale Aspekt einer Alternative zur ständigen Verschärfung des globalen Klimawandels ist die Abschaffung des Kapitalismus. Dies kann nur durch den Ausbau von Gemeingütern, den Commons geschehen. Sie müssen die Basis einer neuen Produktions- und Verteilungsweise bilden, der Solidarischen Ökonomie.
Wiewohl das PIK keineswegs ein linksradikaler think tank ist, erkennt es die grundsätzliche Richtung der Herausforderung (Zitat aus der Pressemitteilung):
„Es zeigt sich, dass wir all unseren Erfindungsgeist für die klima-intelligente Weiterentwicklung existierender Strukturen brauchen, um den Klimawandel auf ein beherrschbares Maß zu begrenzen“, sagt Schellnhuber. Dennoch seien auch grundlegende gesellschaftliche Veränderungen notwendig.
So sei etwa das Muster der heutigen Landnutzung Ergebnis eines ziellosen historischen Prozesses. Globale Nachhaltigkeit wurde dabei nicht berücksichtigt, berichten Schellnhuber und Veronika Huber vom PIK in dem Report. Künftig werde die Landnutzung den Bedarf von rund neun Milliarden Menschen nach Nahrung und Pflanzenfasern, Energie, Infrastruktur und Naturschutz decken müssen – auf einer nicht erweiterbaren Fläche.
Analysen des PIK ergaben, dass zwölf Milliarden Menschen mit den Erträgen von Anbauflächen von weniger als einem Drittel des heutigen Gesamtausmaßes ernährt werden könnten, wenn an optimalen Standorten die best geeigneten Pflanzensorten angebaut würden und es keine Beschränkungen des Nahrungsmittelhandels durch Protektionismus gäbe. Möglich würde dies aber nur durch einen globalen Pakt, der die best geeigneten Flächen (siehe Abbildung) für die Landwirtschaft reserviert. Auf die gleiche Weise könnten tropische Regenwälder als Teil des globalen Allgemeinguts für den Naturschutz reserviert werden.
„Wenn die Menschheit aus der Geschichte lernen und die Bedrohungen [durch anthropogenen Klimawandel] begrenzen soll, ist es Zeit menschliche Aktivitäten stärker zu kontrollieren, die die grundsätzlichen Voraussetzungen für Leben auf der Erde verändern“, schreiben die Wissenschaftler im Abschlussbericht.
Man werfe einen Blick auf die Grafik, das PIK der Pressemitteilung beigibt: hier. Die Bildunterschrift lautet: „Geeignete Regionen für die Nahrungsmittelproduktion nach heutigen landwirtschaftlichen Anbaumethoden. Die roten Ellipsen zeigen die optimalen Standorte an, die als ‘globale landwirtschaftliche Allgemeingüter’ angesehen werden können.“
Die optimalen Standorte und die darauf verweisenden Ellipsen befinden sich in…
…Europa und Nordamerika.
Der Grundgedanke des PIK – abseits seiner Marktgläubigkeit, die in offenem Widerspruch zum Commons-Gedanken steht -, den ich für bemerkenswert halte und der unbedingt und sehr viel stärker diskutiert werden muss, ist, dass die landwirtschaftlichen Hauptproduktionsgebiete – und die liegen in Europa und Nordamerika – als globale Gemeingüter betrachtet und bewirtschaftet werden müssen.
Was heißt es, wenn diese Produktionsgebiete Gemeingüter sind?
Sehr simpel: sie sind nicht unser Privateigentum. Wir sind nicht deren Privateigentümer (selten -innen), sondern deren Sachwalterinnen und Sachwalter, Hüterinnen und Hüter. Wir sind dafür verantwortlich, nicht nur den Klimawandel, den in überwältigendem Ausmaß wir – im globalen Norden – verschulden, mit besten Kräften und durch Abschaffung des Kapitalismus zu begrenzen. Sondern wir sind auch dafür verantwortlich, die Ernährung jener zu sichern, die durch den Klimawandel unter Ertragseinbußen zu leiden haben. Dies wird vor allem Afrika, aber auch Lateinamerika und Asien betreffen. Aber auch die schon jetzt benachteiligten Gruppen im globalen Norden.
Der erste Schritt zu einem globalen Grundeinkommen ist, die landwirtschaftlichen Hauptproduktionsgebiete als das zu sehen, was sie sind: das gemeinsame Erbe der Menschheit, dessen Früchte wir auch weltweit verteilen müssen. Und zwar vorrangig an jene, die bereits jetzt hungern und an Hunger sterben, weil wir ihnen ihre Nahrungsgrundlage zerstören und ihr Recht auf das globale Gemeingut Ackerland vorenthalten.