Kapitalismus: Das neue Opium des Volkes?
Streifzüge 45/2009
von Markus Pühringer
In seinem Fragment „Kapitalismus als Religion“ stellt Walter Benjamin im Jahr 1921 auf gut drei Seiten die These auf, dass im „Kapitalismus eine Religion zu erblicken sei“. Er diene essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. (Benjamin 1991, S. 100) – In diesem Aufsatz will ich nun der Frage nachgehen, welche religiösen Züge der Kapitalismus in unserer Zeit entwickelt hat.
Stellen Sie sich vor: Eine Gruppe von außerirdischen SoziologInnen landet dieser Tage irgendwo in Mitteleuropa und beginnt die dort ansässige Gesellschaft zu studieren. Sie würden beobachten, wie die Menschen ihre Zeit verbringen und nach welchen Kriterien sie ihr Leben ausrichten. Nehmen wir also an, sie machen eine soziologische Studie: Sie würden bald feststellen, dass die Menschen in diesem mitteleuropäischen Land jeden Tag zur selben Zeit zur Arbeit aufbrechen und dort den längsten Teil des Tages an den so genannten Arbeitsplätzen verbringen. Interessanterweise würden die meisten von ihnen ihre Zeit nicht gerne in der Arbeit verbringen, aber trotzdem sehr viel arbeiten. Sie müssen arbeiten, weil sie Geld brauchen, sagen sie. Erstaunlich wird für die Außerirdischen sein, dass die Menschen – ab einem bescheidenen Konsumniveau – mit mehr Arbeit (= Geld = Konsum) nicht mehr glücklicher und zufriedener werden. Aber sie arbeiten und arbeiten und schreien immerzu nach neuen Arbeitsplätzen.
Sie produzieren in ihrer Arbeit irgendwelche Dinge und Dienstleistungen und erhalten dafür Geld. Um dieses Geld können sie sich alle Dinge dieser Erde kaufen. Diesen Lohn erhalten sie aber nur, weil die Unternehmer die produzierten Dinge wieder gegen Geld verkaufen können. Es ist also den Menschen völlig egal, was sie produzieren; wichtig ist nur, dass es sich verkaufen lässt. Und verkauft kann nur etwas werden, wenn es die entsprechende Geld-Nachfrage dazu gibt.
Die Außerirdischen würden also bald feststellen, dass sich alles um Geld dreht. Da Geld nur investiert wird, wenn es Gewinn bringt, muss das Geld immer mehr werden. Die Wirtschaft muss immerzu wachsen. Unsere außerirdischen SoziologInnen würden wohl die These aufstellen, dass der Glaube an das Geld und das damit verbundene Wirtschaftssystem die Religion dieser Gesellschaft sei. Aus früheren Studien wissen sie vielleicht, dass Religionen essentiell zum Mensch-Sein dazugehören: Jedenfalls legen es die Kenntnisse aus der frühen Menschheitsgeschichte nahe, dass es in allen Kulturen Vorstellungen von Gott/Göttern und religiöse Kulte gab. Es gab noch kein Volk, keinen Stamm und noch kein Gemeinwesen, das ohne Religion und religiöse Vorstellungen auskam. (Vgl. Vollmer 2007, S. 17ff.)
Kapitalismus als Religion
In der Regel versuchen Religionen Antwort zu geben auf die großen Fragen des Lebens: Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Wohin gehen wir? Wie sollen wir leben?
Auf den ersten Blick scheint manches gegen die Annahme zu sprechen, der Kapitalismus sei eine Religion: Denn er lässt wesentliche Fragen einer Religion unbeantwortet: Er ist ignorant gegenüber der Herkunft des Menschen, dem Sinn des Lebens und einem allfälligen Weiterleben nach dem Tode. Der Kapitalismus ist rein diesseitig ausgerichtet. Es fehlt ihm jegliche Transzendenz oder Spiritualität. Außerdem verstehen sich die Menschen im Land als säkulare Gesellschaft. Die alten Religionen spielen in der Lebenspraxis der Menschen kaum noch eine Rolle.
Die außerirdischen SoziologInnen könnten aber noch untersuchen, ob sich – wie Walter Benjamin schreibt – der Kapitalismus als Religion etabliert hat, die ihren Gott verheimlicht? (Benjamin 1991, S. 101) Denn auffällig ist schon, dass der Kapitalismus eine Frage sehr eindeutig beantwortet; nämlich die Frage nach dem Wie: Wie soll der Mensch leben? Er gibt eine konkrete, unbedingte Antwort: Der einzelne Mensch soll sich in den Dienst der Kapitalakkumulation stellen: Geld (G) wird in Waren (W) transformiert. Bei der Rücktransformation muss es dann mehr Geld (G´) werden; also: G–W–G´. Es gibt nur diese eine Formel. Sie „kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie“. (Benjamin 1991, S. 100)
Die Formel G–W–G´ beantwortet in dieser Gesellschaft die Frage nach dem richtigen Leben: Ein richtiges Leben ist ein solches, das das höchstmögliche Wachstum des Kapitals befördert. Und was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die gesamte Gesellschaft: Eine gute Politik ist eine Politik, die das maximale Wachstum der Wirtschaft ermöglicht. Wissenschaft muss zu einer Magd der Wirtschaft werden. Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten beziehen ihre Legitimation daher, dass sie Menschen für den Arbeitsprozess zurichten. Gesundheitspolitik soll die Menschen – im Rahmen der unverrückbaren kapitalistischen Verhältnisse – fit für den Arbeitsprozess erhalten usw.
In einer Gesellschaft, die die Formel G–W–G´ zur einzig gültigen Handlungsprämisse erklärt, nimmt Geld den Platz von Gott ein. Schon vor vielen Jahren hat auch Karl Marx diesen unbedingten Zug des Kapitalismus beschrieben. Er charakterisierte die moderne Gesellschaft als ein System, „dessen Struktur und Dynamik durch die Vermögensnatur des Geldes beherrscht wird. In einer Gesellschaft, die nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern auch die Voraussetzung zu ihrer Herstellung – Arbeit, Boden, Produktionsmittel – und mit ihnen die Grundlagen menschlicher Existenz in Waren verwandelt, avanciert Geld zum universellen Vermittler und zum höchsten Gut. Wie Gott kann es keinen anderen Zweck kennen als sich selbst.“ (Nach: Deutschmann 2003, S. 157)
Opfer
Aus ihren früheren Studien wissen die Außerirdischen, dass die Erbringung von Opfern zum Wesen einer Religion gehört. Also werden sie ihre Gesellschaft danach untersuchen: Sehr bald würden sie erkennen, dass das Opfer im Kapitalismus eine zentrale Rolle einnimmt: Zum Wohle der Kapitalakkumulation muss die Umwelt geplündert werden. Die Ressourcen dieser Erde werden bis zur Neige ausgeschöpft. (Vgl. Exner, Lauk, Kulterer 2008) Man schreckt vor Kriegen nicht zurück, wenn es dem Kapital dienlich ist. Man ist auch zu Menschenopfern – in Form von unwürdigen Arbeitsbedingungen und schlichtem Verhungern-Lassen – bereit. Oder mit Walter Benjamin gesprochen: „Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist.“ (Benjamin 1991, S. 101)
Wie die Außerirdischen aber schon am Beginn ihrer Studien erkannt haben, ist das zentrale Opfer, das die Menschen in der kapitalistischen Religion erbringen müssen, die Arbeit. Dies hat Karl Marx bereits erkannt: Ohne die Arbeit und die Ausbeutung der Arbeitskraft gäbe es keinen Mehrwert. Und ohne Mehrwert gäbe es keine Kapitalakkumulation.
In der Sprache der Religion bedeutet dies: Das Opfer (=Ausbeutung der Arbeitskraft) hält Gott (=Kapital) erst am Leben. Es ist also nicht so wie bei den alten Religionen, dass es die Menschen bzw. die Gemeinschaft sind, die das Opfer brauchen, sondern Gott braucht das Opfer, um zu überleben. Es liegt in der Logik des Systems, dass es im Kapitalismus – im Gegensatz zu den alten Weltreligionen – keine Opferkritik geben kann. Denn die Existenz Gottes ist vom Opfer abhängig. Ohne das Opfer geht Gott zugrunde.
Die Gläubigen
Bis jetzt haben unsere SoziologInnen nur die Struktur der Religion erfasst. Aber zu einer Religion gehören doch ganz wesentlich die Gläubigen: Eine Religion existiert nur, wenn es Wesen gibt, die an Gott glauben. Wenn der Kapitalismus als religiöses Phänomen gedeutet wird, muss es dazu einen entsprechenden Glauben und eine Glaubensgemeinschaft geben. Die Gläubigen müssen glauben, dass Gott ihnen Heil(ung) gibt, wenn sie sich an seine Gebote halten. Der Kapitalismus-Gläubige muss glauben, dass es gut ist, wenn er den kapitalistischen Verhaltenskodex befolgt.
Eine plastische Schilderung des typischen Kapitalismus-Gläubigen finden unsere Außerirdischen in der Beschreibung des homo oeconomicus. Demnach funktioniert der Mensch wie eine rationale Verrechnungsmaschine, die allen Dingen und Handlungen positiven wie negativen Nutzen zusprechen kann und diesen Nutzen jederzeit maximiert. (Vgl. Woll 1993, S. 311) Der im homo oeconomicus beschriebene Gläubige muss fest daran glauben, dass ihm eine wachsende Geld- und Warenansammlung Heil bringt und ihn glücklicher macht. Zudem muss er glauben, dass Glück nur von außen zugeführt werden kann. Er ist wie ein Süchtiger, der sein Glück in Form von Konsum von außen zuführt und immer höhere Dosen davon will. Es gibt in der Beschreibung des homo oeconomicus keine Idee davon, dass Glück zum Beispiel aus der Entfaltung der eigenen Potenziale erwachsen kann. Interessanterweise hat John Stuart Mill, auf den dieses Konzept zurückgeht, nicht versucht, den homo oeconomicus in der Realität zu testen. Er ist also keine Ist-Beschreibung, sondern eine Soll-Beschreibung des Menschen.
Die moderne Glücksforschung belegt heute eindeutig, dass ab einem bestimmten Konsumniveau das Glück eines Menschen mit zunehmendem Konsum nicht mehr ansteigt. (Vgl. Kollmann 2007) Wenn dem so ist, dann hätte der homo oeconomicus eigentlich ausgedient. Sein Konzept wäre wissenschaftlich widerlegt. Unsere wissenschaftlich-rationale Welt nimmt diesen Befund jedoch nicht zur Kenntnis und hält weiterhin in allen ökonomischen Lehrbüchern an diesem Konzept fest. Die Außerirdischen würden wohl sagen: Wenn die Formel G–W–G´ die heilige Formel dieser Gesellschaft ist, dann braucht sie ihre Entsprechung ja in einem kompatiblen Menschenbild. Die neue Religion verlangt, dass die Menschen im Wesentlichen so wie der homo oeconomicus sind, weil anderenfalls Gott selbst in existenzielle Gefahr käme.
Religionskritik
Wenn der Kapitalismus als neue Religion gedeutet wird, dann ist es zur Religionskritik nicht mehr weit: In seiner Religionskritik hat Karl Marx u.a. geschrieben: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, (…) Sie ist das Opium des Volks.“ Marx hat diese Kritik an die Adresse der alten Religionen, v.a. an die Adresse des real existierenden Christentums gerichtet. Was für die alten Religionen gilt, muss dann auch für die neue gelten, zumal die Institutionen der alten Religionen denen der neuen Kapitalismus-Religion sehr ähnlich sind: Opfer, Gottes Strafe und Gottes Lohn spielen hier wie dort eine zentrale Rolle. Nach Marx ist die Religion als „illusorisches Glück des Volkes“ zu verstehen. Diese Illusion müsse aufgegeben werden für das wirkliche Glück: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ (MEW, Bd. 1, 378f.)
Ich plädiere also dafür, den Kapitalismus als religiöses Phänomen zu deuten, das für die Menschen ein „illusorisches Glück“ bereithält. Unsere moderne Gesellschaft bedarf der Illusion, dass eine ständig wachsende Geld- und Warenmenge das (kollektive) Glück der Menschen nährt. Die Gesellschaft hat panische Angst davor, dass diese Illusion zerstört werden könnte und verkrampft sich daher in religiösem Wahn und großer Opferbereitschaft. Das wirkliche Glück kann es aber nach Marx nur dann geben, wenn in einem ersten Schritt diese Illusion aufgegeben wird.
Paradoxerweise könnte dann gerade wieder die Stunde der alten Religionen schlagen; nämlich die Stunde jener revolutionären Elemente in den Religionen, die die Menschen aus dem Jammertal ihrer Illusionen befreien wollen. Es braucht im Widerstand gegen die kapitalistische Religion vielleicht eine „Theologie der Befreiung“, die sich jeglichem Opfergedanken verweigert und einen Weg zu den wahren Quellen des Glücks im eigenen Ich weist.
Literatur
Benjamin Walter: Kapitalismus als Religion (Fragment), in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1991, Bd. VI, S. 100-102.
Deutschmann Christoph: Die Verheißung absoluten Reichtums: Kapitalismus als Religion, in: Baecker Dirk: Kapitalismus als Religion, Berlin 2003.
Exner Andreas, Lauk Christian, Kulterer Konstantin: Die Grenzen des Kapitalismus, Wien 2008.
Kollmann Karl: Glück und Geld …, in: Arbeit&Wirtschaft, Ausgabe Juli/August 2007.
Marx Karl, Engels Friedrich: Werke, Bd. 1, Berlin 1956.
Vollmer Antje: Gott im Kommen, München 2007.
Woll Artur: Wirtschaftslexikon, München-Wien 1993.