Gesellschaft
von Stefan Meretz
Der Gesellschaftsbegriff wird nach Auskunft der Online-Enzyklopädie Wikipedia von Soziologinnen und Soziologen nicht mehr verwendet. Für eine kritische Theorie ist er unverzichtbar. Wie könnte eine sinnvolle Annäherung aussehen?
Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich eine Gesellschaft aus Menschen zusammensetzt. Diese Menschen nehmen unterschiedliche Rollen wahr, füllen bestimmte Funktionen aus und stehen zueinander in bestimmten Beziehungen, die schließlich als Ganzes die Gesellschaft ergeben. – Eine solche Beschreibung ist nicht falsch, obgleich total unterbelichtet, unabhängig davon, wie genau man die Rollen, Funktionen und Beziehungen auch beschreibt.
Schauen wir genauer hin, zeigt sich, dass die einzelnen Menschen der Gesellschaft als „Nicht-Gesellschaft“ gegenüber stehen. Hier wird klar, dass die Gesellschaft nicht nur einfach die Summe der Individuen ist, sondern eine von den einzelnen Individuen unabhängige, eigene Funktionslogik besitzt. Zwar gilt noch immer, dass es ohne Individuen keine Gesellschaft gäbe, aber es ist nicht so, dass die Gesellschaft weniger oder mehr Gesellschaft wäre, wenn es weniger oder mehr Individuen gäbe. – Diese Sicht kommt der Wahrheit schon etwas näher, indem sie den System-Charakter von Gesellschaft versteht. Gleichzeitig hypostasiert sie ein spezifisches Verhältnis von Gesellschaft und Individuum als Entgegensetzung. Die Entgegensetzung ist im Kapitalismus tatsächlich Ausdruck der System-Reproduktion als etwas Abgetrenntes, dem Einzelnen als Fremdes Gegenüberstehendes.
Weiter gedacht – jetzt bleiben wir beim Kapitalismus – erkennen wir neben der Entgegensetzung gleichzeitig auch Übergreifendes. Das Fremde ist in Wahrheit das Eigene, das uns als etwas Fremdes entgegentritt, obwohl wir es erschaffen. Der Kapitalismus verabsolutiert in seiner wertvermittelten Reproduktionslogik tatsächlich das Moment der Getrenntheit in einer Weise, dass die Marxsche Kennzeichnung des Kapitals als „automatisches Subjekt“ treffend ist. Doch der Automatismus ist gleichwohl nur ein Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs, zu dem ebenso die menschliche Tätigkeit gehört. In der Form der Arbeit ist sie dem Automatismus der Wertvermittlung untergeordnet, in der Form der individuellen Selbstentfaltung steht sie ihm entgegen. Das Individuum geht nicht in der Subalternität auf.
Es gilt hier also, nicht in ein abstraktes, vereinfachendes Denken zurückzufallen und die Wert-Selbstverwertung als von uns real getrennte Systemlogik zu verabsolutieren, sondern zu erkennen, dass wir sie machen. Das, was uns entgegentritt, sind wir selbst, auch wenn es uns fremd ist. Dies erkannt ruft nach einer Perspektive, in der uns das Entgegentretende nicht das von uns abgetrennte Fremde ist, sondern das uns Vertraute, wir selbst.
Gesellschaft ist nichts für sich Seiendes, sondern so wie die Menschen Moment des übergreifenden Gesellschaft-Mensch-Zusammenhangs. Es gilt stets, den Zusammenhang zu begreifen. Wer die Gesellschaft denken will, muss gleichzeitig den Menschen denken: Ohne einen Begriff des gesellschaftlichen Menschen keinen Begriff der menschlichen Gesellschaft – und umgekehrt. Genau genommen handeln beide Begriffe vom Gleichen, nur aus unterschiedlichen Perspektiven. Schneidet man ein Moment ab, wird jede Analyse schief. Das ist nicht nur ein Problem der bürgerlichen, sondern auch der kritischen Theorie.
Der Kapitalismus ist keineswegs eine allgemeine, sondern nur eine historisch-spezifische Form des Gesellschaft-Mensch-Zusammenhangs. Es ist zwar richtig, dass erst der Kapitalismus den Vermittlungszusammenhang im planetaren Maßstab hergestellt hat, es wäre aber falsch daraus zu schließen, dass es vor dem Kapitalismus keinen allgemeinen Vermittlungszusammenhang gegeben hätte. Vor dem Kapitalismus waren es personale Abhängigkeits- und religiöse Fetischverhältnisse, über die die gesellschaftliche Vermittlung organisiert wurde. Die personalen Herrschaftsstrukturen waren gesellschaftlich allgemein, auch wenn sie regional völlig verschieden sein konnten. Eine Form der abstrakten Allgemeinheit, Gleichheit und Gleich-Gültigkeit war erst unter der unpersonalen Herrschaft der Wertvermittlung möglich.
Aus diesen Überlegungen lassen sich Schlüsse für eine Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus ziehen. Auf der Grundlage der bestehenden Vermittlungsformen ist Emanzipation nicht zu haben. Gleichzeitig kann sie nur dort beginnen. Mit diesem Widerspruch muss jeder (anti-)politische Ansatz umgehen. Voraussetzung ist, sich klar zu machen, was gesellschaftliche Vermittlung eigentlich bedeutet.
Wir stellen unsere Lebensbedingungen gesellschaftlich her, und fast jeder individuelle Mensch hat daran in unterschiedlichem Ausmaß teil. Gesellschaftliches Herstellen und Teilhaben ist dabei so umfassend wie nur möglich zu verstehen, um nicht nur an die lohnarbeitsförmigen Tätigkeiten zu denken – es geht um alle Tätigkeiten, die in einer Gesellschaft gebraucht werden. Die Vermittlungsweise entscheidet darüber, was gebraucht werden darf.
Im Kapitalismus ist die dominante, alle anderen Formen übergreifende Vermittlungsweise die der Wertvermittlung. Neben dieser existieren jedoch unübersehbar viele weitere Arten der Vermittlung, ohne die die dominante Form nicht existieren könnte. Während die Wertvermittlung etwa entscheidet, dass eine Tätigkeit „nicht gebraucht“ wird, weil sie auf keinen zahlungsfähigen Bedarf stößt, wird sie dennoch erledigt, weil sie tatsächlich doch gebraucht wird. Die durch Zahlung nicht vermittelbaren, tatsächlich aber oft sogar dringend gebrauchten Tätigkeiten werden von der dominanten Vermittlungsform abgespalten und in den personal-regulierten Bereich verschoben: Familie, Ehrenamt, Nachbarschaften etc.
Aus Sicht der wertvermittelten Produktion erscheint der abgespaltene Bereich nur als Reproduktion, obgleich dort genauso Lebensbedingungen hergestellt werden. Eine emanzipatorische Alternative muss folglich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie hebt die Spaltung von Produktion und Reproduktion auf und stellt die gesellschaftliche Vermittlung auf die Grundlage der individuellen Entfaltung der Menschen. Gesellschaft und Individuum erscheinen nicht mehr als Gegensatz, wenn „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Manifest der Kommunistischen Partei, 1848).