Geschmacks- und Herrschaftsfragen
von Julian Bierwirth
Als ich im Juli 2008, also ziemlich direkt während der Fußball-Europameisterschaft, die Streifzüge aufschlug, da war ich zunächst recht begeistert. „Endlich schreiben die mal was über die Hintergründe der elendigen Fahnenschwenkerei!“, dachte ich bei mir, als ich Martin Scheuringers „Rausch ohne Rechnung! Fußball, Ökonomie, Pädagogik und Begeisterung“ zum ersten Mal erblickte. Die Begeisterung war jedoch schnell verklungen. Statt einer scharfsinnigen Kritik traf ich hier auf die Auslassungen von einem, dessen Wunsch, auch mal dabei sein zu dürfen, unübersehbar war. Dass er doch tatsächlich beim Siegestor mitfiebert, wird ihm zum Ausgangspunkt dafür, dass „von der schweren Last des reflexiven Denkens erleichterte Momente“ einfach auch total schön sind und wir sie deshalb genießen sollten. „Leidenschaft“ nennt er das – und genau da will er hin. Leben, einfach Leben und das Leben genießen – ist das nicht der Sinn des „kommunistischen Begehrens“ (Bini Adamczak)? Dass Pädagogik und aufklärerische Vernunft das überlegte Handeln in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen, wird so zum Anlass, sich einfach mal gehen zu lassen: „Beim Mitfiebern mit der Nationalmannschaft werde ich alles vergessen und genießen. Ich werde begeistert sein und ohne Rücksicht auf ökonomische Verluste konsumieren.“
Dabei verwundert es schon, wie er sich ernsthaft einbilden kann, mit dem Geschimpfe auf eine Kommerzialisierung des Fußballs, die diesem alles Authentische raube, würde er irgendwie etwas zur Befreiung beitragen. Derartige Entwicklungen stehen immer mal wieder in der Kritik – allerdings nicht von links. Der völkische Stumpfsinn fühlt sich bedroht durch die Kommerzialisierung der Umgangsformen. Der altbackene Fußball-Adel kämpft auf diesem Spielfeld für gewöhnlich gegen die moderne Soccer-Bourgeoisie. Letztere will „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung“ (Marx und Engels im Kommunistischen Manifest). Obwohl Nation und Ökonomie schon immer aufeinander verwiesen waren, geraten sie heute20in einen Widerspruch: zwei Seiten einer Medaille, die nicht ohne einander, aber scheinbar auch nicht miteinander können. Sich für eine Seite dieser Medaille zu entscheiden ist dabei allerdings gar nicht nötig. Beide wollen den Sport, die Kultur, das Leben der Menschen für einen höheren Zweck einspannen. Beide wollen die Einzelnen der Gemeinschaft unterordnen –20 entweder als Standortsicherung oder als nationalen Selbstzweck. Dieser Unterschied zwischen aufgeklärtem und borniertem Nationalismus ist beileibe keiner ums Ganze. Es ist eher der Streit zwischen zwei Parteien, deren Zeit eigentlich mal gekommen wäre Platz zu machen für eine Welt, in der der Mensch im Mittelpunkt der Gesellschaft steht.
Was Scheuringer mit dem trotzigen Ausruf „Ohne kritische Theorie schmeckt’s besser!“ einfordert, hat mit Emanzipation schlichtweg nichts zu tun. Es ist vielmehr tiefstes Ressentiment. Sicherlich, in Einigem hat er recht: Kritik greift Menschen in ihrer Subjektivierung an. Alles das, was sie bislang dargestellt haben, steht plötzlich zur Disposition. Wer möchte sich da schon gerne drauf einlassen? Weshalb Kritik tatsächlich immer vor dem Problem steht, die an die Wurzel gehende Analyse so darzustellen, dass die Kritisierten tatsächlich auch die Möglichkeit haben, einen Schritt zurückzutreten und sich auf den Gedanken einzulassen. Das alles spricht aber nicht gegen Kritik, sondern formuliert allerhöchstens Ansprüche an die Art und Weise, wie sie daherkommt.
Denn der Reflex, mit dem Scheuringer hier jede Kritik an ihm zurückweist, ist allseits bekannt. Wann immer Menschen die Grenzen ihrer Mitmenschen überschreiten, ihre körperliche oder seelische Integrität antasten –20 sie beharren darauf, dass sich das alles so furchtbar authentisch angefühlt hätte. Richtig oder gar vertretbar wird es dadurch allerdings noch lange nicht. Es gehört kritisiert, keine Frage.
Aus dem Blick männlicher, weißer Heterosexueller wird hier allerdings für gewöhnlich affirmiert statt kritisiert. Sie spielen ja mit. Sie sind es, die sich die Welt untertan machen dürfen, zumindest soweit die bornierten Formen das zulassen. Und so projiziert Scheuringer dann auch seine männlich-heterosexuelle Sprecherposition auf den Rest der Menschheit: „Kritisches Wissen verdirbt nicht nur die Erektion, sie richtet ihn auch nicht wieder auf, und wenn du glaubst, mit deinen intellektuellen Spielereien kannst du eine Frau … lassen wir das.“
Der Kritiker, das ist für Scheuringer ein Mann. Er ist sexuell aktiv und erfährt die Welt mittels seiner Erektion. Darüber hinaus richtet sich sein Begehren stets auf die Frau, die für ihn bloßes Objekt ist und die weniger auf „intellektuelle Spielereien“ denn auf echte männliche Erektionen steht. Mir dünkt, da ist der Wunsch der Vater des Gedanken.
Das alles spricht nun aber weder gegen Sexualität als solche noch gegen den Versuch, sich das Leben angenehm zu gestalten. Sicher ist Askese keine Lösung. Aber es richtet sich gegen bestimmte Vorstellungen von Sexualität, die passive Frauen begehrende aktive Männer zur Norm setzen. Und es richtet sich gegen bestimmte Formen der Unmittelbarkeit, die im praktischen Ausleben des Herrschaftsverhältnisses vergessen, dass unreflektiertes Handeln nicht einfach neutral, sondern häufig (aus emanzipatorischer Perspektive) kontraproduktiv ist. Wer Nationalfahnen schwenkt, der oder die verhält sich nicht einfach unreflektiert. Hier wird nicht apolitisch gefeiert, hier wird politisch agiert. „Unpolitisch sein“, schrieb einst Rosa Luxemburg, das heiße lediglich „politisch sein, ohne es zu merken.“ Und so einfach sollten wir es uns dann doch nicht machen.
Wenn nun Scheuringer, wie er schreibt, Askese auf Anraten einiger theoretischer Tiefflieger jahrelang praktiziert hat, so wäre diesen ebenso Einhalt zu gebieten. Das reine Aufgehen in der Theorie ist ebenso falsch wie das reine Aufgehen im unreflektierten Handeln. Gerade die Vermittlung von gesellschaftlichem Erleben und theoretischem Denken wäre das anzustrebende Ziel emanzipatorischen Handelns. Das ließe sich tatsächlich von Adorno lernen, der sich bekanntlich stets schwer damit tat, sich einfach für eine der gängigen Varianten zu entscheiden.