Die Rückkehr der lebenden Toten
Geisterhafte Spekulationen mit Zombieaktien längst insolventer Finanzinstitute
von Tomasz Konicz
Extremster Exzess erneut ausartender Blasenbildung
Wer vor wenigen Monaten Aktien von Lehman Brothers erwarb, der ist heute ein gemachter Mann. Der Zusammenbruch der US-Investmentbank vor einem Jahr gilt heutzutage gemeinhin als die Initialzündung der Weltwirtschaftskrise, doch ihre Aktien werden immer noch gehandelt. Während die Bank längst aufgespalten ist und deren profitable Töchter verscherbelt wurden, hauchen spekulative Exzesse den Zombieaktien dieses Unternehmens ein kurzes Scheinleben ein. Die Lehman-Papiere dümpelten monatelang bei circa fünf Cent, doch Ende August zogen deren Handelsvolumina rasant auf circa 100 Millionen Anteilscheine an, so dass der Kurs kurzzeitig auf bis zu 32 Cent hochschnellte. Am Freitag, den 4. September, schloss dieses außerbörslich gehandelte Geisterpapier seinen Höhenflug mit einem Schlusskurs von 14 Cent bei einem Tagesumsatz von elf Millionen Anteilsscheinen ab.
Lehman Brothers feierte seine Wiederauferstehung von den Toten nicht allein. Die Aktien des von der amerikanischen Einlagensicherungsbehörde FDIC verwalteten Hypothekenfinanzierers Indymac zuogen Ende August um 86 Prozent an, während die längst von JP Morgan übernommene Bausparkasse Washington Mutual sogar Zuwächse um bis zu 186 Prozent verbuchen konnte. Selbst die Financial Times Deutschland (FTD) resümierte, dass diese Zombiehausse eigentlich „wieder der herrschenden Theorie“ ablaufe, da die lukrativen Sparten der insolventen Unternehmen längst veräußert werden und nur noch Holdings übrig blieben, die auf „problematischen Wertpapieren“ säßen.
Die Reanimation ganzer Legionen lebender Leichen des Finanzmarktkapitalismus sorge für ordentliche Umsätze auch an den US-Börsen im vergangenen August. Wie das Wall Street Journal Ende August berichtete, wurden zwischen dem 5. und 27. August 31,5 Prozent der Umsätze (consolidated volume) der New Yorker Börse (NYSE) mit dem Handel der Aktien von Fannie Mae, Freddie Mac, AIG, der Bank of America und der Citygroup erzielt. All diese Aktien gelten unter Börsianern als „Wertpapiermüll“, da die Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac längst unter Staatsverwaltung stehen, AIG und Citygroup nur dank massiver staatlicher Finanzspritzen am Leben erhalten werden konnten und die Bank of America sich bei der Übernahme von Merrill Lynch verhoben hatte. Diese Spekulationswelle ist sozusagen ein letzter Totentanz des in Auflösung befindlichen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der da auf den globalen Börsenparkett derzeit aufgeführt wird.
Diese Leichenfledderei auf den Aktienmärkten bildet aber nur einen skurrilen Nebenschauplatz der rasant zunehmenden spekulativen Tätigkeit, die bereits zu erneuter Blasensbildung führt. Da ist zum einen natürlich die generelle Hausse auf den Aktienmärkten, die eigentlich schon seit März 2009 anhält. Ermöglicht wurde dies einerseits durch die Übernahme fauler Hypothekenverpflichtungen (Mortgage Backed Securities – MBS) der großen Finanzinstitute durch die amerikanische Notenbank Fed, die bis 2010 an die 1,25 Billionen US-Dollar für dieses Programm aufwenden will. Gleichzeitig senkten die Notenbanken die Zinsen und erzeugten eine wahre Geldschwemme, die „zu historisch günstigen Konditionen in den Markt“ gepumpt werde, wie es die FTD formulierte. Selbstverständlich fließt dieses Geld nicht als Kredite in die – durch staatliche Konjunkturprogramme am Leben erhaltene – Realwirtschaft, die unter zusammenbrechender Nachfrage und Überproduktion leidet, sondern vor allem in die Spekulation.
Der ehemals bei Morgan Stanley als Ökonom tätige Analyst Andy Xie spricht in diesem Zusammenhang von einer globalen „Liquiditätblase“, die aufgrund der expansiven Geldpolitik der Notenbanken im Steigen begriffen ist. Eine solche auf exzessiver Liquidität basierende Blase kann aber laut Xie nicht lange aufrechterhalten werden, da ihre „Multiplikatoreffekte auf die Gesamtökonomie begrenzt“ sein. Die Lebensspanne einer spekulativen Blasensbildung hängt demnach von ihrer Fähigkeit ab, die breite Nachfrage zu stimulieren. Am längsten könnten Xie zufolge Spekulationen mit neuen Technologien und im Immobiliensektor aufrechterhalten werden. Insbesondere die gesamtökonomischen Auswirkungen der 2007 geplatzten Immobilienblase waren „vielfältig“, da sie Investitionen und Konsum in der realen Wirtschaft stimuliere. Auch die im Jahr 2000 geplatzte „Technologieblase“, bei der die „Investoren die Auswirkungen einer neuen Technologie auf Unternehmensgewinne überschätzten“, führe vermitteltes übermäßiger Investitionen in den neuen, betroffenen Industrisektor zu einer ökonomischen Belebung. Bei der nun sich entfaltenden Liquiditätsblase seien all diese Multiplikatoreffekte auf die reale Wirtschaft auf den „Wealth Effekt“ (Reichtumseffekt) begrenzt, bei dem erfolgreiche Spekulationsteilnehmer während der Boomphase einer Blasenbildung ein Teil ihrer Spekulationsgewinne für Konsumausgaben aufwenden. Solche Blasen platzten sehr schnell, so Xie: „Zudem kann einer pure Liquiditätsblase ohne Unterstützung von Seiten der Produktivität sehr schnell zur Inflation führen.“
In dieser derzeitigen Blasensbildung liegt auch die Ursache der – trotz expansiver Geldpolitik – weitgehend ausbleibenden Inflation. Bislang findet eine Inflation der Wertpapierpreise statt, erst bei deren Zusammenbruch kann ein enormer Inflationsschub einsetzen.
Die sich durch die Schleusenstore der Notenbanken ergießende Geldflut überschwemmt inzwischen auch die Märkte für Hypothekenverbriefungen, die eigentlich seit Zusammenbruch der Immobilienspekulationen in einer Friedhofsruhe verharrten. Während die Fed Billionen aufwendet, um faule MBS aufzukaufen, warnen erste Analysten bereits davor, dass die Preise für diese Hypothekenverbriefungen inzwischen wieder zu hoch seien und deren Ausfallrisiken weiter steigen, da nahezu zehn Prozent aller US-Hypothekennehmer mit ihren Zahlungen in Verzug sei. Der Wert vieler MBS ist laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg gerade deswegen seit März rasant gestiegen, weil viele Marktteilnehmer auf deren Wertsteigerungen im Zuge eines Aufkaufprogramms (PPIP) spekulieren, das die Fed sowie das US-Finanzministerium in Partnerschaft mit privaten Investoren durchführen. Viele der problematischen Hypothekenverbriefungen aus den Jahren 2006 und 2007 – wo auf dem Höhepunkt des Immobilienbooms nahezu ein jeder Amerikaner ohne Bonitätsprüfung eine Hypothek erhalten konnte – könnten sogar Zugewinne zwischen 55 und 80 Prozent verbuchen, meldete Bloomberg.
Auch bei den Verbriefungen von Gewerbeimmobilienhypotheken (Mortgage-Backed Security – CMBS) scheint sich ebenfalls ein ähnlicher Zusammenbruch anzukündigen, wie ihn der Markt für Wohnimmobilien bereits hinter sich hat. Trotz eines staatlichen Kreditprogramms, der den CMBS-Mark reanimieren sollte, könnte laut New York Times eine Kaskade von „Zahlungsverzögerungen, Zwangsvollstreckungen, und Insolvenzen“ bei den kommerziellen Hypothekenverbriefungen einen Crash auslösen, der den „verheerenden Immobiliencrash der frühen 1990er“ übersteigen dürfte. Die Ausfallrate bei kommerziellen Immobilien – besonders hart sind die als „Malls“ bezeichneten, riesigen Einkaufszentren betroffen – soll jüngsten Prognosen von den 2,25 Prozent Anfang 2009 auf über vier Prozent Ende dieses Jahres steigen. „Der nächste Einschlag eines Finanz-Tsunamis wird aus den weitverbreiteten Auswählen von Einkaufscenter-Hypothekten bestehen“, erläuterte ein Analyst gegenüber der Nachrichtenagentur UPI.
Leicht gekürzt erschienen unter dem Titel “Zocken mit Marktleichen” in “Junge Welt”, 19.09.2009