Capitalism dies slowly. Der Kongress tanzte nicht
von Andreas Exner
Vor einer Woche fand von 6.-8. März der Attac-Kapitalismuskongress in Berlin statt. Der Kongress war groß. Soviel vorne weg. Die VeranstalterInnen hatten mit 1.000 Leuten gerechnet. Gekommen waren 2.500. Kurz: Die TU-Berlin war voller Podien, Workshops, Menschen.
Der Eindruck jedoch war zwiegespalten – zwei Pole, die das Eröffnungs- und das Abschlusspodium zum Ausdruck brachten. Am ersten Abend nämlich, da sprach Heiner Flassbeck, Chefvolkswirt der UNCTAD. Ganze 45 Minuten, wenn mich meine innere Uhr nicht betrog, auf jeden Fall zu lang. Mag sein, dass die Otto Brenner-Stiftung – die neben anderen den Kongress unterstützte – Flassbeck zu verantworten hatte. Das Leitmotiv, das Flassbeck formulierte, war jedenfalls grundfalsch. So wie es zu befürchten war, kam es denn auch: Flassbeck betonte, dass nicht der Kapitalismus schuld an der Krise sei, sondern die Gier. (Diese Fassung “Krisenanalyse” führt allerdings zur Frage, was für Flassbeck, der sich ansonsten nahtlos in die “Nieder mit der Gier”- Fraktion der neuen “Kapitalismuskritiker” einreihte, dann Kapitalismus ist – von einem Strukturbegriff kapitalistischer Vergesellschaftung über den Wert ist Flassbeck ja Äonen weit entfernt. )
Weil der Kapitalismus an sich gut ist, gelte es also nicht den Kapitalismus abzuschaffen, sondern neu zu regulieren. Das bedeute heute, so Flassbeck, Liquidität schrankenlos auszudehnen. Wer Cash wolle, solle das auch kriegen. Die Krise zeige, dass es dem neoliberalen Kapitalismus an Ideen gemangelt habe – nur Geld verdienen wollen sei eben zuwenig. Entscheidend sei vielmehr die Steigerung der Produktivität, und die ließ zu wünschen übrig. Als wollte er sich selbst übertölpeln, forderte Chef-Volkswirt Flassbeck frech: “wir müssen das Casino reparieren”. Nachdem er langatmig den Casino-Kapitalismus gescholten hatte, kam das etwas unvermittelt – kurze Atempause im Publikum, Schrecksekunde Flassbecks, dann Lachen im Auditorium. Mein Sitznachbar urteilte kühl und richtig: “Ein Freudscher Versprecher”.
Das Podium danach enthielt Frank Bsirske, Daniela Dahn, Aleksandr Buzgalin und Saskia Sassen. So falsch wie Flassbecks Töne, so mau ging es dann über weite Strecken weiter. Vereinzelt sorgten Buzgalin und vor allem Daniela Dahn für Lichtblicke. Dahn stand aber der positive Bezug auf die Demokratie im Weg. Auch fehlte ihr als Gegengewicht zu ihrem klugen Blick, der aber essayistisch blieb, eine kräftige Begleitung Kritik der Politischen Ökonomie. Sassen bot ihr diese nicht. Auch Buzgalin kam kein Wort der Kritik in Hinblick auf Geld, Ware und Wert über die Lippen. Sein Klassenkampf-Selbstorganisations-Marxismus kam ziemlich witzig rüber – in einigen Punkten richtig, wenngleich einseitig: “I have to be honest with you! We are professors. We have to tell you: this will be open struggle” – der Russe lächelte dazu. Für Bsirske allerdings war solches pures Gift. Der Mann wand und krümmte sich, sodass man im Publikum noch sein Unbehagen spürte. Der große Schwachpunkt Buzgalins war seine Idee der “Sozialisierung des Finanzsystems”. Das, so schien mir, vertrug sich auch reichlich schlecht mit seiner Kritik des Staates, den er, ganz richtig, als positiven Bezugspunkt abservierte.
Beim Abschlusspodium ging es eindeutiger zur Sache. Jutta Sundermann von Attac, die den Kongress mitorganisiert und initiiert hatte, stellte klar: Das ist keine Finanzkrise, auch nicht allein eine Wirtschaftskrise, sondern weit mehr – eine Epochenkrise des Kapitalismus. Frigga Haug formulierte wohltuend die Essentials emanzipatorischer Kapitalismuskritik – der abstrakte Selbstzweck des Profits sei die Wurzel des Sexismus, auch der ökologischen Krise; Geschlechterverhältnisse gälte es verstärkt zu beachten – gerade weil sie untrennbarer Teil der kapitalistischen Produktionsweise sind; einer Staatsfixierung erteilte sie eine Abfuhr; auch der Idee des Masterplans.
Die größte Überraschung war das Duo Heiner Geißler und Hans-Jürgen Ulbrich. Ersterer weil er die Hälfte des Publikums mit sozialer Marktwirtschaft und “neuer Ethik” zu quälen wusste – der Mann ist Attac-Mitglied, was er für einen Freibrief hielt, seine Ansichten in hausbackener Manier in den Hörsaal zu posaunen. Schwer erträglich. Man fühlte sich an Flassbeck erinnert – Politikergewäsch eben.
Ganz anders überraschte dagegen Ulbrich. Nicht nur, dass der Mensch denken kann und rhethorisch brillierte. Was er sagte, eröffnete tatsächlich so etwas wie Perspektive. Wir müssen eine radikale Kapitalismuskritik entwickeln, hielt Ulbrich fest. Die soziale Marktwirtschaft habe ausgedient, sie sei nichts anderes als eben Kapitalismus und deshalb zu bekämpfen. Ein Schlag in Geißlers Gesicht, sozusagen, der den Kapitalismus natürlich böse, die Marktwirtschaft aber ganz niedlich fand. Was Ulbrich damit meinte, skizzierte er an der Autoindustrie. Es könne nicht darum gehen, die Branche zu retten so wie sie existiert. Man muss sie konvertieren, und zwar indem man die vorhandenen Kompetenzen für ein ökologisches, öffentliches Verkehrswesen einsetzt. Strategisch setzte Ulbrich auf eine “Mosaik-Linke”, wie er sie nennt. Sie werde vielfältig bleiben und nicht zu einer gemeinsamen Linie kommen. Doch sie müsse die Frage aufs Tapet bringen, was wir wie produzieren wollen.
Als Ansage klar und eindeutig war das sehr gut, vor allem vor dem Hintergrund, dass Ulbrich seines Zeichens als geschäftsführender Generalsekretär der IG-Metall tätig ist. Problematisch war bei Ulbrich aber, dass er einen “geordneten Übergang” für nötig hielt. Fast als wollte er sich entschuldigen, stellte Ulbrich klar: Er als Gewerkschafter könne nicht einfach zusehen, wenn Betriebe bankrott gehen. Von zunehmendem Elend erhoffe er sich keine Radikalisierung in einem positiven Sinn. So richtig Ulbrichs Ansatz ist, jedem Masterplan von vornherein eine Absage zu erteilen, und den Punkt zu betonen, dass für konkrete Betriebe konkrete Lösungen – etwa der Konversion – gefunden werden müssen, so defizitär bleibt dieses Konzept, wenn nicht mitgedacht wird, dass die Konversion ja keineswegs die bestehenden Industrien und Arbeitsplätze 1:1 in ökologisch saubere Branchen ummodeln kann. Vieles wird stillgelegt werden müssen. Wie aber bei fehlender Verwertung des Kapitals die Wertförmigkeit der Beziehungen auch nur ansatzweise integrierenden Charakter beibehalten kann, bleibt nicht nur unklar, weil sie gar nicht erst thematisiert wird. Eine solche Idee, die wohl 99% des Publikums unhinterfragt vorausgesetzt haben, ist schlicht unmöglich.
Und der Übergang wird kaum nach deutscher Ursehnsucht “geordnet” stattfinden können. Hier deutete sich auch bei Ulbrich – allem Klassenkampf zum Trotz – das Einfallstor der altbekannten Staatsfixierung an.
Und damit eine sehr problematische Tendenz, die Ulbrich bloß diskursiv streifte, nicht wenige Kongressbesucher allerdings mit ganz anderen Obertönen deutlich artikulierten. Da war im Workshop zur Wachstumskritik zum Beispiel des öfteren die Rede davon, dass “wir ja seit 30 Jahren schon alles wissen, wie es richtig geht”, dass man “endlich die Politiker dazu bringen muss, das umzusetzen”. Ein 19-jähriger meinte unverhohlen, und ohne jede Ironie, dafür mit einem Ernst, der erschreckte, er fühle sich existenziell durch den Klimawandel bedroht, und deshalb müssen wir rasch handeln, die “Macht erobern” und “das Richtige” tun, das, so suggerierte er, offenbar alle mit selben Augen sehen. Das Binnen-I hier wegzulassen ist Absicht – denn nur Männer hörte ich in dieses Horn des Alleswissers und Staatseroberers blasen. Zufall? Wohl kaum.
Mein Freund dachte offenbar dasselbe wie ich: “Wo wird der wohl in dreißig Jahren sein” – bei den Rechten oder bei den Linken? Es war vielleicht nur ein Fünftel der Besucher, die in dieser Art nach dem Staat und seiner (vermeintlichen) Macht riefen ohne Gedanken an die historischen Erfahrungen staatlicher Krisenbewältigungsstrategien und ohne eigene emanzipatorische Wünsche zu spüren, die ja wohl nicht in berufsrevoplutionären Funktionärskarrieren gipfeln dürften. In Verbindung mit der verbreiteten Angst vor “ungeordneten Verhältnissen” und einem spiegelbildlichen Wunsch nach einem “geordneten Übergang” – wohin auch immer – werden hier die Stränge eines Denkens sichtbar, dass alles nur noch schlimmer machen kann. Ein ökologisch verbrämter Autoritarismus zeichnet sich in diesem Diskurs ganz deutlich ab.
Besser als die vielen Wortmeldungen des Workshops zur Wachstumskritik, in denen sich Zinskritik, der Diskurs der Bevölkerung mit “wir wissen ja schon alles seit 30 Jahren” paarte, gefiel mir, was die Organisatoren der Runde – allesamt von Attac-Mainz – uns erzählten: einerseits zeigten sie nämlich das komplexe Geflecht der “Alternativen” auf, die die Debatten prägen und von allem möglichen, aber sicher nicht von der “großen Lösung” künden; andererseits hoben sie daraus die Solidarische Ökonomie als einen Ansatz, der sich von Staatseroberung deutlich abgrenzt, klar hervor.
Unser Podium, auf dem ich mit Andrew Simms und Bruno Kern diskutierte, fand vor besagtem Workshop statt. Ich fand’s sehr spannend. (Das Podium gibt’s hier als Mitschnitt zu beziehen.) Simms war rhethorisch blendend. Und das im Doppelsinn – so sympathisch er auch ist, er war ein Blender. Und zwar in dem Sinn, als Simms einerseits einer Wachstumskritik á la Herman Daly das Wort redete – die ich im Grundsatz durchaus teile – andererseits aber das Konzept eines “Green New Deal” stark machte. Wie das zusammengehen soll, blieb völlig unklar. Macht den Kern des New Deal auf Grün doch aus, dass man die Effizienz steigern soll und der Arbeit vor dem Einsatz von nicht-erneuerbaren Energien den Vorzu geben soll. Die Schmähs (auf Wienerisch: “Witz”) von Simms waren nett, aber nichts weiter als ein Schmäh war auch sein Konzept.
Effizienzsteigerung ist ein inhärentes Merkmal des Kapitalismus und völlig ungeeignet ihn zu ökologisieren. Menschliche Arbeitskraft statt nicht-erneuerbare Energien einzusetzen mag in bestimmten Bereichen sinnvoll sein. Das taugt aber weder als Generalschlüssel für ein gutes Leben noch für einen “Green New Deal”, der, Vorbild verpflichtet, ja wohl nur ein Wachstumsdeal sein kann und – Simms schien das eher verschämt zu verschweigen – auch sein will. Im Hintergrund stand auch bei Simms – wie so oft in der Debatte – die zwar nicht falsche, aber oberflächliche Kritik des BIP als vermeintlichem “Wohlstandsindikator”. Unterschlagen wird dabei, dass das BIP-Wachstum eine Messgröße ist, die einen viel tieferliegenden Prozess, die Kapitalakkumulation nämlich, widerspiegelt. Durch eine Änderung der Messgröße von “Wohlstand” ändert sich am Kapital selbstredend gar nichts. Herman Daly selbst hat solch einen Ansatz übrigens grundsätzlich problematisiert, und damit auch seinen eigenen Wohlstandsindikator ISEW.
Bruno Kern betonte, dass er über mich “hinausgeht” und “einen ganz anderen Ansatz” vertritt. Hier, so denke ich, hat Bruno über das Ziel der Kontroverse hinausgeschossen. Er betonte, dass das Industriemodell zum Scheitern verurteilt sei, worin ich ihm recht gebe. Weiters meinte er, dass die Produktivität zurückgehen wird, was ich nicht anders sehe.
In der ökologischen Kritik des Kapitalismus sind wir uns also weitgehend einig. Viel eher gibt es Differenzen in der Konzeption dessen, was ein gutes Leben sein soll; so denke ich, dass ein freier Zugang zum Lebensnotwendigen nicht nur machbar ist, sondern das erste Ziel einer befreiten Gesellschaft sein muss; “Arbeit” halte ich – ganz sicher im Unterschied zu Saral Sarkar, mit dem Bruno Kern eng zusammenarbeitet – als kein erstrebenswertes Ziel; es ginge für mich vielmehr darum, die Trennung zwischen Freizeit und Arbeit positiv zu überschreiten durch Rücknahme der Tätigkeit in die kollektive Verfügung, Aufhebung in das “prozessierende Miteinander”, um eine Formulierung von Gerold Wallner aufzugreifen; davon abgesehen bin ich keineswegs davon überzeugt, dass mit Ausfall der fossilen Energien der Einsatz menschlicher Lebensenergie dermaßen zunähme. Mittelalterliche Bauern und Bäuerinnen in England haben häufig wahrscheinlich nur 150 Tage pro Jahr “gearbeitet” – wobei Arbeit als eine separate Lebenssphäre damals nicht existiert und keineswegs der durchrationalisierten, brutalen Lebensenergieverausgabung im Kapitalismus entsprach.
All dies allerdings war am Podium nicht Thema. Die Wortmeldungen aus dem Publikum waren kontrovers und spannend. Besonders wichtig fand ich die Warnung vor technokratischen Lösungen – der Green New Deal zählt sicherlich dazu. Essenziell dagegen sei, so jemand aus dem Publikum, sich an den Praxen und Kämpfen konkreter sozialer Bewegungen zu orientieren.
Der Workshop von Heide Gerstenberger zu nationaler Souveränität als Quelle privaten Profits war ein Lehrstück theoretischer Analyse. Gerstenberger stellte die mangelnde Trennung zwischen Staat und Markt insbesondere in Afrika als Strukturmerkmal der dort existierenden Produktionsweise heraus. Wichtig war ihr zu zeigen, dass der nicht-bürgerliche, afrikanische Staat, wie er im subsaharischen Teil des Kontinents dominiert, nur in enger Wechselbeziehung zum bürgerlichen Staat des globalen Nordens zu verstehen ist. Eine Wechselbeziehung, die sie am Beispiel der “flags of convenience”, also der Ausflaggungspraktiken nicht zuletzt deutscher Reeder, die ihre Schiffe oft unter der Fahne Liberias und anderer afrikanischer Staaten ohne Gesetzeskontrollen fahren lassen, illustrierte.
Korruption, so Gerstenberger, sei ein Wesensmerkmal des modernen Kapitalismus. Die afrikanischen Staaten stünden in einem Korruptionswettbewerb um die Konzerne des globalen Nordens, die ihre Vermögen in Steueroasen anlegten und privilegierte Zugänge zu Ressourcen erhielten. Solange aber der Staat in Afrika keine relative Eigenständigkeit gegenüber der Produktionssphäre erhalte, weil sich keine bürgerliche Öffentlichkeit herausbilde, wie das historisch in Frankreich oder England geschehen sei, die der Herrschaft Grenzen setze, indem sie diese entpersonalisiere, könne sich der Markt nicht freisetzen.
Damit komme es nicht zur bürgerlichen Eingrenzung von Herrschaft, wie Gerstenberger formulierte. Auf meine Nachfrage, ob denn dies ein Ziel sei und überhaupt möglich, lächelte sie: sie sei ja vor sich selbst erschreckt, als sie meinte, “der Markt” könne sich in Afrika “nicht freisetzen”; aber da sei sie Theoretikerin der bürgerlichen Revolution. Schmerzlich-berührende Erinnerungen stiegen in ihr für uns alle sichtbar hoch, als sie ansetzte zu sagen: Hätte man sie in den 1990er Jahren gefragt, ob Südafrika jemals ohne Apartheid sein könne…
Summa summarum: das Medieninteresse am Kongress war sehr groß, das Interesse der BesucherInnen auch. Es dominierte allerdings der Nebel eines Verständnisses von Kapitalismus, das Vergangenes immer nur fortschreibt. Und nach der Krise kommt der Aufschwung. Nur vereinzelt blitzte die Erkenntnis durch, dass es sich, wie Sundermann ganz richtig sagte, um eine Epochenkrise handelt und nichts Weniger als die Überwindung des Kapitalismus ansteht. Dass dies kaum je so klar gesagt worden ist, lässt die Reminiszenz von Frigga Haug, sie fühle sich an 1968 erinnert, ein wenig unglaubwürdig wirken. Entweder war 1968 wirklich so langweilig, oder wir müssen 1968 erst noch vom Kopf auf die Füße stellen.
Immerhin: ein Anfang ist gesetzt.