Auf der Kippe
Die Auseinandersetzungen um die amerikanische Gesundheitsreform eskalieren
von Tomasz Konicz
Der 15. August könnte sich im Nachhinein als der Tag erweisen, an dem eine substanzielle Reform des amerikanischen Gesundheitswesens scheiterte. Bis vor wenigen Tagen war der amerikanische Präsident rastlos durch die Vereinigten Staaten gereist, um bei Bürgerversammlungen – den so genannten Town Hall Meetings – für sein Reformvorhaben zu werben. Nach New Hampshire und Montana machte der präsidiale Tross am Samstag in Colorado Station. Während einer dort folgenden, von dem US-Fernsehsatiriker Jon Stewart genial parodierten Fragerunde erklärte Präsident Obama: „Die öffentliche Option, ob wir sie nun haben werden oder auch nicht, ist nicht die Gesamtheit der Gesundheitsreform.“ In einem Nebensatz rückte somit Obama von dem zentralen Element seines Reformvorhabens – der Einführung einer landesweiten, staatlichen Krankenversicherung – ab.
Flankiert wurde der Präsident hierbei von gleichlautenden Medienauftritten etlicher Mitglieder der Administration am selben Wochenende. Gegenüber dem Nachrichtensender CNN erklärte die US-Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius, dass die öffentliche Krankenversicherung nicht mehr ein „essenzielles Element“ auf der Reformagenda der Administration darstelle. Robert Gibson, der Sprecher des Weißen Hauses, gab gegenüber dem Nachrichtensender CBS zu bedenken, dass der Präsident nur „bis jetzt“ der Meinung gewesen sei, eine öffentliche Krankenversicherung sei geeignet, „Wahlmöglichkeiten und Konkurrenz“ auf dem Gesundheitsmarkt zu befördern.
Die Ergebnisse dieses Kursschwenks der Obama-Administration konnten wenig später an den amerikanischen Aktienmärkten studiert werden. Die Aktien der amerikanischen Gesundheitsindustrie legten am folgenden Montag nämlich deutlich zu. Während die Wallstreet insgesamt einen durchwachsenen Wochenstart hinlegte, konnten die Kurse der privaten Krankenversicherer der USA wie Group oder Aetna Inc. Tagesgewinne von bis zu 4,7 Prozent verbuchen.
Die landesweit aus 1.300 Unternehmen bestehende, sich einen Markt im Umfang von 700 Milliarden US-Dollar teilende private Krankenversicherungsbranche könne nun „sehr viel leichter atmen, da die Führung der Nation sich von der öffentlichen Option“ im Gesundheitswesen distanziere, erklärte der Gesundheitsindustrieexperte Thomas Caroll gegenüber der Zeitung Newsday. Eine staatliche Krankenversicherung hätte das Ende „für die private Gesundheitsindustrie, wie wir sie kennen“ bedeutet, beteuerte der Gesundheitindustrie-Sprecher Robert Zirkelbach im selben Bericht. Im Falle der Einführung einer staatlichen Krankenversicherung wurde den privaten Krankenkassen ein regelrechter Aderlass ihrer „Kunden“ prognostiziert. Bis zu 120 Millionen Amerikaner hätten in diesem Falle die „öffentliche Option“ der privaten Konkurrenz vorgezogen.
Dies ist auch kein Wunder: Das größtenteils von privaten Unternehmen betriebene amerikanische Gesundheitswesen gilt als höchst ineffizient, verschwenderisch und schlicht lebensgefährlich. Jährlich sterben an die 22.000 US-Bürger an heilbaren Krankheiten, nur weil sie zu den knapp 50 Millionen Amerikanern gehören, die über keine Krankenversicherung verfügen. Ausufernde Behandlungskosten bilden einen wichtigen Faktor, der die Anzahl privater Pleiten und schließlicher Zwangsvollstreckung in den USA in die Höhe treibt. Jährlich werden 1,5 Millionen amerikanische Haushalte durch übermäßige Gesundheitskosten in die Zwangsvollstreckung ihrer Häuser getrieben.
Der freie Markt mit dem teuersten und ineffizientesten Gesundheitssystem
68 % derjenigen Menschen, die in den USA – inzwischen im Schnitt alle 30 Sekunden – eine Privatinsolvenz aufgrund übermäßiger Behandlungskosten anmelden, besaßen sogar eine private Krankenversicherung. Die privaten Versicherungsunternehmen bemühen sich nach Kräften, besonders schwer erkrankte „Kunden“ mit den miesesten Tricks aus ihren Versicherungsverträgen zu drängen. Die „Todesgremien“, von deren Einführung im Rahmen der Gesundheitsreform die amerikanische Rechte derzeit schwadroniert, gibt es längst – im vom „freien Markt“ geprägten Gesundheitssystem, wie amerikanische Blogger aus eigener Erfahrung berichten: „Du hast keine Idee, wie es ist, in einem sterilen Konferenzraum mit einem Krankenhausadministrator zusammen zu kommen, den du nie zuvor gesehen hast und der dir sagt, dass die Krankenversicherung deiner Mutter nur noch 30 Tage auf der Intensivstation bezahlen wird. Du hast keine Idee, was es bedeutet, von ihm beraten zu werden, „Entscheidungen zu fällen“ wie die Entlassung deiner Mutter „nach Hause zum Sterben“ oder ob Du eine weitere Woche auf der Intensivstation aus eigener Tasche bezahlen willst. Und wenn du fragst, wie viel das kosten würde, dann gibt man dir eine Zahl, die so unmöglich ist, dass du realisierst, es gibt da keine Entscheidung zu fällen. Die Entscheidung wurde bereits für dich gefällt….“
Dabei verfügen die Vereinigten Staaten über das teuerste Gesundheitssystem der Welt, dessen Kosten pro Kopf der Bevölkerung in etwa doppelt so hoch sind wie in vergleichbaren Industriestaaten. Die Gesamtaufwendungen für dieses durch den „freien Markt“ geformte kapitalistische Gesundheitssystem explodieren beständig, von 2,1 Billionen US-Dollar in 2006 über 2,5 Billionen in diesem Jahr auf geschätzte 4 Billionen Ende 2016.
Zugleich nimmt die Verschwendung und Unterschlagung von Finanzmitteln innerhalb der „Gesundheitsindustrie“ epidemische Ausmaße an. 2007 wurden 730 Milliarden US-Dollar an Beitragszahlungen durch unsachgemäße und überflüssige Behandlungsmethoden, überteuerte Medikamentenpreise und eine wuchernde private Bürokratie
verschwendet. Eine staatliche Krankenversicherung hätte diesem schlicht parasitären, profitorientierten Gesundheitssystem, das einer gigantischen – durch monopolistische Strukturen gekennzeichneten – Bereicherungsmaschinerie gleicht, sehr schnell ihre „Kundschaft“ abgejagt. Für viele progressive und linke Unterstützer Obamas bildete diese „öffentliche Option“ inzwischen das einzig unterstützenswerte Element der immer weiter verwässerten Gesundheitsreform. Folglich ließ die Reaktion auf den Kniefall Obama vor der Gesundheitsindustrie nicht lange auf sich warten.
Obama gerät in die Kritik seiner Anhänger
Linke Demokraten, die progressiven oder linksliberalen Aktivisten- und Mediennetzwerke, die maßgeblich zum Wahlsieg Obama beitrugen, wie auch prominente progressive Mediengestalten und Kommentatoren entfachten ein regelrechtes mediales Trommelfeuer gegen den als rückgratlos und schwach titulierten Präsidenten. Eine Gruppe von 83 demokratischen Abgeordneten schickte am vergangenen Dienstag einen Brief ans Weiße Haus, in dem sie ankündigte, jedweder Gesundheitsreform die Zustimmung zu verweigern, sollte diese nicht die Option einer staatlichen Krankenversicherung enthalten. Auch die einflussreiche Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, machte unverzüglich deutlich, dass eine Gesundheitsreform ohne staatliche Krankenversicherung den Kongress niemals passieren werde.
Angeführt wird dieser Aufruhr des linken Flügels von dem ehemaligen Gouverneur von Vermont und Vorsitzenden des Demokratischen Nationalen Komitees, Howard Dean, der fieberhaft Spendensammlungen für eine progressive Medienkampagne organisiert und den Präsidenten direkt mit öffentlichen Aussagen wie dieser angreift: „Es gibt viele Menschen, inklusive des Präsidenten selbst, die nicht verstehen, dass die öffentliche Krankenversicherung unauflöslich mit der Reform verbunden ist. Es gibt keine Reform ohne öffentliche Krankenversicherung.“
Bei einem Treffen von Aktivisten, die sich im Netzwerk Netroots Nation rund um die linksliberale Zeitung The Nation organisiert haben, zog Dean Anfang August die sprichwörtliche rote Linie, hinter die es für progressive Kräfte keinen Rückzug geben dürfe: Das einzige Stück der geplanten Gesundheitsreform, das der Unterstützung wert sei, sei die staatliche Krankenversicherung. Dies sei „der letzte Fetzen“ wahrer Veränderung, der nach etlichen Zugeständnissen an die Lobby der Gesundheitsindustrie und die Republikaner noch geblieben (siehe Telepolis: USA: Aufstand gegen die geplante Gesundheitsreform) – und unbedingt zu verteidigen – sei.
Die Obama-Administration sei „geschockt und überrascht“ von der Heftigkeit dieser Revolte des linken Flügels der Demokraten, berichtete der einflussreiche Ökonom Paul Krugman in seiner New York Times Kolumne: „Der Gegenschlag der progressiven Basis – die Präsident Obama bei den demokratischen Vorwahlen entscheidenden Auftrieb gab und eine wichtige Rolle bei seinem Wahlsieg spielte – baute sich über Monate auf. Der Kampf um die öffentliche Option hat reale politische Substanz, aber er ist auch ein Stellvertreter für weitere Fragen über die Prioritäten des Präsidenten und seinen allgemeinen Politikansatz. Innerhalb der Progressiven gibt es eine wachsende Wahrnehmung, dass sie verarscht wurden.“
Bereits die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung unter Beibehaltung des privaten Gesundheitswesens stellte für die Linke innerhalb der Demokraten einen Kompromiss dar, sprachen sich doch diese Kräfte eigentlich für eine einzige, landesweite, staatliche Krankenversicherung aus. Man könnte auch sagen, die breite fortschrittliche Graswurzelbewegung, die Obama zum Wahlsieg verhalf, ging einem durch eine geschickte Werbekampagne aufgebauten „konformistischen Rebellen“ auf dem Leim (siehe Telepolis: Der konformistische Rebell).
Obama verliert den Kurs
Inzwischen ist klar, dass die bisherigen staatlichen Gesundheitsprogramme für ältere und verarmte Amerikaner, Medicare und Medicaid, finanziell massiv beschnitten werden sollen. Zugleich sollen diese eingesparten Milliardenbeträge für indirekte staatliche Subventionen an die privaten Krankenversicherer aufgewendet werden, damit mehr US-Bürger die ineffektiven und überteuerten Krankenversicherungen der privaten Gesundheitsindustrie erwerben können. Die staatlichen Zuschüsse für verarmte US Bürger, mittels derer diese in die Lage versetzt werden sollten, sich die staatliche Krankenversicherung leisten zu können, wurden bereits auf Druck rechter Demokraten um 100 Milliarden US-Dollar gekürzt. Das Weiße Haus hat angeblich überdies mit der Pharmaindustrie und der Versicherungsbranche geheime Abkommen getroffen, die deren Reformkosten auf 80 beziehungsweise 155 Milliarden US-Dollar binnen der nächsten Dekade beschränken soll.
Bei derzeitigen Kosten für das US-Gesundheitssystem von 2,5 Billionen US-Dollar jährlich handelt es sich bei diesen Zugeständnissen um „Peanuts“. Das Weiße Haus ließ bei diesem Deal im Gegenzug durchblicken, dass die Regierung künftig nicht ihre Einkaufsmacht einsetzen werde, um niedrigere Medikamentenpreise durchzusetzen – wie es in den meisten Industrieländern eigentlich üblich ist. Der Versicherungsbranche scheint Obama hingegen versprochen zu haben, endgültig die „öffentliche Option“ im Rahmen der Gesundheitsreformen zu beerdigen.
Doch der unerwartet starke Gegenschlag des linken Flügels der Demokraten nötigte den Präsidenten jüngst zum erneuten Lavieren. Am Donnerstag musste Obama umständlich zurückrudern und erklären, dass die Regierung weiterhin den Aufbau einer staatlichen Krankenversicherung verfolge: „Was wir sagten, ist, dass wir denken, es [die staatliche Krankenversicherung] ist eine gute Idee, aber wir haben nicht gesagt, dies ist der einzige Aspekt der Krankenversicherung.“ Man habe nur klarmachen wollen, dass die anderen Reformschritte „genauso wichtig wie die öffentliche Option“ seien, so Obama.
Derzeit laufen zwei Prozesse im Rahmen dieses epischen Kampfes um die amerikanische Gesundheitsversorgung parallel ab. Zum einen sondieren die Demokraten die Möglichkeit, ohne Einigung mit den Republikanern die Gesundheitsreform durch alle parlamentarischen und gesetzgeberischen Hürden zu bringen. Zugleich laufen die Verhandlungen zwischen den Demokraten und Republikanern in einem Senatsausschuss über die Möglichkeit eines überparteilichen Kompromisses weiter.
zuerst erschienen in „Telepolis“ am 22.8.09