Rausch mit Rechnung!
Thesen über die Dimensionen des Rausches im Kapitalismus
Streifzüge 44/2008
von Christoph Wendler
Mühsal prägt das Leben des homo oeconomicus. Nur zwischendurch wird dem doppelt freien Individuum eine Verschnaufpause gegönnt, ohne die es die Ware Arbeitskraft nicht regenerieren, geschweige denn erneut auf dem Markt verkaufen könnte. Und doch ist diese Freizeit nicht frei. Sie, die vermeintliche Untätigkeit, ist, wie einst Guy Debord betonte, „mitnichten von der Produktionstätigkeit befreit: sie hängt von ihr ab, sie ist unruhige und bewundernde Unterwerfung unter die Erfordernisse und Ergebnisse der Produktion; sie ist selbst ein Produkt von deren Rationalität. Außerhalb der Tätigkeit kann es keine Freiheit geben, und im Rahmen des Spektakels wird jede Tätigkeit verneint, genauso wie die wirkliche Tätigkeit vollständig für den globalen Aufbau dieses Ergebnisses aufgefangen worden ist. Daher ist die heutige , Befreiung von der Arbeit‘, die Ausdehnung der Freizeit, keineswegs Befreiung in der Arbeit oder Befreiung einer durch diese Arbeit geformten Welt.“ (Debord 1996; 24f. )
Auch die Betätigung in der Freizeit ist nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Ganzen. Selbst der wie auch immer geartete „Rausch“ stellt keine Ausnahme dar. So wie die Freizeit zur Reproduktion der Arbeitskraft und zur Konsumtion dient, so ist auch die Berauschung kein bloßer Gegenpart zum öden Arbeitsalltag, sondern ihm im Grunde dienlich; mit Horkheimer und Adorno gesprochen: „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.“ (Horkheimer/Adorno 2003; 158) Dies zu zeigen, ist mein Anliegen: „Rausch“ und „Rechnung“, die zwei zentralen Begriffe des Aufsatzes von Martin Scheuringer („Rausch ohne Rechnung“, in: Streifzüge 43), auf den sich meine Kritik bezieht, sind keineswegs zwingende Gegensätze, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille, nämlich: der kapitalistischen Konstitution.
„Es ist erschreckend aber wahr
Die Dürftigkeit in die wir Jahr für Jahr
In allen Lebenslagen lebenslänglich sozusagen
Eingeschlossen sind //
Wird mehr und mehr und mehr und mehr
Wird mehr und mehr und mehr und mehr
Und unerträglicher“
(Tocotronic, 1999: „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“)
Die Funktionalität des beschädigten Rausches…
Die Anforderungen, die einem der gesellschaftliche Zusammenhang tagtäglich stellt, die Monotonie des Alltags, aber auch die Events des Spektakels ziehen nicht spurlos vorüber. Ihnen entwächst die Sehnsucht nach einer Auszeit. Als besonders verlockend entpuppt sich eine Situation, die sich ganz allgemein als „Rausch“ charakterisieren lässt. Dessen Ausprägungen sind uns allen bekannt, weshalb ich vorerst auf einer allgemeinen Analyseebene verweilen möchte, um ein paar seiner grundsätzlichen Dimensionen im Kapitalismus darzulegen. Nähern wir uns der Berauschung entsprechend abstrakt an, dann erkennen wir Folgendes:
Der Reiz des Rausches ist seine Unreflektiertheit, seine Blauäugigkeit. Oft mündet er in ein Sich-Gehen-Lassen, bei dem dann kein Gedanke mehr an die Umstände verschwendet wird, schließlich will der Moment in vollen Zügen genossen werden, die Person um sich herum „alles vergessen“ (Scheuringer, S. 11), um sich von Kopf bis Fuß „dem lustvollen Bann“ (S. 8) hinzugeben. Das gleicht einer Kapitulation – trotz aller Euphorie jedoch in keinem erfreulichen Sinne.
Die Sehnsucht, blindlings einem Gefühl zu folgen, ist bezeichnend. Hier kommt die verquere Subjektkonstitution in der Warengesellschaft zum Vorschein: das Erfordernis immer rational kalkulieren zu müssen, um zu überleben, und zugleich dabei materiell, ideologisch usw. massiv beschränkt zu sein. Dieses Auseinandertreten von Wollen und Können wird als Mangel erfahren. Das betroffene Individuum versucht – bewusst oder unbewusst – die Enge seiner Existenzbedingungen abzustreifen; ohne jedoch auf die Idee zu kommen, an den ihr zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu rütteln. Das „stahlharte“, „faktisch unabänderliche Gehäuse“ (vgl. Weber 2004; 203f. ) bleibt dank Verblendungszusammenhang unreflektiert. Vielmehr soll der Rausch im Hier und Jetzt, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, Abhilfe schaffen. Aus diesem Grund gibt es allzu viele, die sich allzu gerne in ihm (auf)gehen lassen; zumindest solange seine trügerische Wirkung dauert. Kurzum, die Berauschung erscheint als Einlösung eines Glücksversprechens; ist sie aber nicht.
So irrational Rausch sein kann, als so funktional kann er sich erweisen. Er erfüllt im Kapitalismus eine gewisse Aufgabe: Er hilft das „beschädigte Leben“ (Adorno 2008) zu überstehen. Er gibt den Individuen für einen Moment das Glücksgefühl zurück, das ihnen sonst laufend verwehrt wird. Außerdem – so ließe sich angelehnt an Wilhelm Reichs Überlegungen sagen – dient er der Sublimierung unterdrückter Bedürfnisse und sexueller Triebe (vgl. Reich 2004). So ist in diesem Kontext der Verweis auf Sexualität, der häufig als Vergleich herangezogen wird, alles andere als ein bloßer Zufall. Auch zeigt er, dass es notwendig ist zu differenzieren: Rausch ist nicht gleich Rausch!
Jede Berauschung hat andere Qualitäten und Quantitäten, sprich Form, Maß und Art divergieren. Zum Beispiel lässt sich Ficken mit dem „begeisterten Zuschauen“ ( Scheuringer, S. 8) auf der konkreten Ebene nicht vergleichen oder gleichsetzen. Das, was beides nur vergleichbar macht, ist quasi der abstrakte „Tauschwert“ des Rausches, da dieser eine gewisse Funktion erfüllt. Dank seiner diversen Ventilfunktionen hält er die Individuen am Laufen und stabilisiert damit gleichzeitig die gegebenen Verhältnisse. Kurzum, er ist von Nutzen; und als funktional zu bezeichnen. Ist dies nicht der Fall, so wird die Berauschung gesellschaftlich entsprechend sanktioniert. Dies ist nicht zuletzt vor allem dann der Fall, wenn sie der kapitalistischen Verwertung schadet. Dysfunktionaler Rausch ist ungünstig für die vorherrschende Produktions- und Lebensweise. Infolgedessen ist insbesondere auf Ebene des Einzelkapitals eine übermäßige Berauschung unerwünscht. Alkoholkonsum stellt bspw. so lange kein Problem dar, solange er sich in der Freizeit bzw. in kontrollierten oder kontrollierbaren Bahnen bewegt. „Koma-Saufen“ gilt hingegen als maßlos übertrieben, Alkoholismus gar als zu heilende Krankheit.
Anhand von weiteren Fallbeispielen ergibt sich sodann ein differenzierteres Bild. Viele Formen der Berauschung sind gesetzlich verboten oder gänzlich verpönt. Selbst die Verwendung von leistungssteigernden Mitteln wird nur selten geduldet, wie im Musik- und Showbusiness (vgl. Dany 2007). Der aktive Einsatz derselben beschränkt sich auf den Ausnahmezustand. Manche Formen des Rausches sind also ins Private abgedrängt. Werden sie öffentlich, so ist eine Skandalisierung nur mehr eine Frage der Zeit; von „Rauschgift“ ist dann die Rede.
Zum legalistischen Diskurs kommt noch die gesundheitliche Dimension hinzu. Mancher Rausch ist schädlich und somit kontraproduktiv, sowohl für das vernunftbegabte Individuum als auch in Hinblick auf dessen Verschleiß am Arbeitsplatz. Genau hier setzt der aktuell um sich greifende Gesundheitswahn in Zeiten zunehmender Prekarisierung an. Er weist den Rausch schon von vornherein in seine Schranken, denn warum sollte ausgerechnet in der Freizeit die eigene Selbstvermarktung dermaßen leichtsinnig aufs Spiel gesetzt werden, schließlich ist die schrittweise Zerstörung des Körpers der Arbeitswelt vorbehalten!
Wie unschwer zu erkennen ist, wäre daher in den meisten Fällen wohl eher von einer graduellen Funktionalität des Rausches zu sprechen, die je nach Blickwinkel variiert. Darüber hinaus sind die gesellschaftlichen Funktionen keineswegs mit den individuellen identisch. Gewisse Räusche können den reibungslosen Ablauf stören, die konformistische Unterordnung, den Verkauf der Ware Arbeitskraft, das Abpressen von Mehrwert und in Folge die Akkumulation von Kapital beeinträchtigen, weshalb sie staatlich reglementiert werden. Die kulturindustrielle Bearbeitung der Bedürfnisse entschärft die Widersprüche, lenkt sie in harmlose Bahnen und bietet entsprechende Surrogate des Glücks an.
Der Rausch und sein Bedarf sind folglich keine ahistorischen Größen; Beschaffenheit und Ausdrucksform ebenso wenig. Von entsprechender Bedeutung ist gegenwärtig daher die kapitalistische Vergesellschaftung. Das ist trivial, soll aber erwähnt werden, um damit der Verklärung des Rausches einen ersten Riegel vorzuschieben. Es ist die vorherrschende Lebensweise, also die Art und Weise, wie der Mensch als bürgerliches Konkurrenzsubjekt sein Leben fristen muss, die das heutige Bedürfnis nach solch berauschten Situationen überhaupt erst hervorbringt. Wer daher ein emanzipatorisches, befreiendes Potenzial im Rausch zu erkennen meint (Scheuringer, S. 11), lässt diesen Aspekt außer Acht. Damit möchte ich weder jede Form des Rausches diskreditieren, noch irgendwem das „Recht auf Rausch“ oder eine berauschte Auszeit absprechen. Auch heißt das nicht, dass jeder Rausch und sein zugrunde liegendes Bedürfnis automatisch und ausschließlich dem Kapitalverhältnis entspringt oder von ihm zur Gänze determiniert ist. Es gilt lediglich im Hinterkopf zu behalten, dass Rausch per se weder gut noch schlecht ist, sondern im Hier und Jetzt affirmativ sein kann, sofern er ein Mindestmaß der besagten Kriterien erfüllt.
Rausch ist weder zwingend ein störender Faktor noch ein unberührter Ausdruck irgendeiner individuellen Leidenschaft. Er wird nicht bloß von irgendeiner „Rechnung“ (der Geldvergesellschaftung) usurpiert, die sich gleichsam parasitär auf ihn stürzen würde. Rausch entspringt ebenso dem Status quo! Die Kulturindustrie bedient sich nicht bloß an vorhandenen Bedürfnissen, sie bringt diese selbst immer wieder erneut hervor, wohlweislich in genehmer Art und Weise und stabilisiert so die strukturellen Bedingungen. Das Spektakel wiederum kanalisiert die Sehnsüchte und ermöglicht dadurch ihre systemkonforme Entladung. Die Berauschung lässt sich daher nicht so ohne Weiteres gegen gesellschaftliche Zwänge und Normen ausspielen. Auch hebt ihre gewisse Irrationalität die bürgerliche Rationalität nicht einfach auf. Der Rausch ist und bleibt Teil des falschen Ganzen, solange dieses fortbesteht!
… und seine konkreten Erscheinungsformen
Rausch lässt sich also zum einen von seiner potenziellen Funktionalität her bestimmen. Zum anderen hat er sehr heterogene Inhalte. Ich werde nun auf ein konkretes Beispiel eingehen, auf das „Mitfiebern“ beim Fußball, das gemeinhin als positives Erlebnis wahrgenommen wird, ohne seine konkrete Beschaffenheit jenseits des unmittelbaren Glücksgefühls zu analysieren.
Hier findet nicht nur das berauschte Mitgehen alleine statt, sondern zugleich die irrationale Identifikation mit einem Kollektiv, der Mannschaft, an deren Erfolg sich der fanatische Fan entweder aufgeilt oder an deren sportlichen Niederlage er/sie mitleidet. Im speziellen Fall des Ländermatches repräsentiert das Kollektiv sogar die Nation, für die dann die Daumen gedrückt werden. Dabei wird nicht zu vielleicht – sportlich gesehen – besseren SpielerInnen gehalten, die konsequentere Spielpraxis und dgl. beurteilt, sondern mit der „eigenen“ Mannschaft mitgefiebert, also aufgrund nationalistischer Ressentiments in primitiven In- und Exklusionsschemata gedacht. Selbst die Sprache nimmt dann entsprechende Züge an. Sie wird dabei nicht nur narzisstisch – eine Schicksalsgemeinschaft wird konstruiert. Phasenweise mutiert die Sprache gar zum Jargon, wenn bspw. in Ekstase hinausposaunt wird, dass „unser“ Stürmer das Führungstor erzielt. (S. 8)
Wie aus dem Text ebenfalls hervorgeht, spielt hier der Wunsch des Ineinander-Aufgehens eine Rolle. Ein Bedürfnis also, das sonst beim Lieben stark präsent ist. (Daher mein Verweis vorhin auf die diesbezügliche Sublimierungsfunktion des Rausches. ) Doch abgesehen von der sexuellen Energie, die sich hier teils versteckt widerspiegelt, gilt es die Identifikation selbst zu beleuchten. Im Unterschied zum Sex, wo sich die Sehnsucht nach dem Eins-Sein auf ein einzelnes Individuum oder auch auf mehrere (zugleich aber auf ihre Individualität) richtet, ist sie hier, im Falle einer Großveranstaltung auf etwas völlig anderes fixiert: auf eine Masse. Ihr möchte der Fan sich hingeben; und tut es auch. Nicht nur in ihr, sondern schon bei ihrem bloßen Anblick macht sich, wie Freud in der „Massenpsychologie“ festhält, eine „bei jedem Einzelnen hervorgerufene Steigerung der Affektivität“ (Freud 2005; 47) bemerkbar. Die Unmittelbarkeit und gemeinsame Emotionalität wird hypostasiert. Daraus speist sich die Libido, denn für die Beteiligten ist es eine genussreiche Empfindung, „sich so schrankenlos ihren Leidenschaften hinzugeben und dabei in der Masse aufzugehen, das Gefühl ihrer individuellen Abgrenzung zu verlieren“. (ibid; 48)
Das Mitfiebern mit der Masse stellt im Vergleich zum direkten Involviert-Sein eine abgemilderte Form der Berauschung dar. Die Faszination zielt ebenso auf den Wunsch auf Verschmelzung (mit dem Kollektiv und seinen Emotionen) ab, bleibt jedoch aufgrund räumlicher Distanz imaginär. Nichtsdestotrotz sind die Vorgänge im einzelnen Individuum sehr ähnlich. Eine Gefühlsansteckung ist das bezweckte Resultat. „Dann schweigt die Kritik des Einzelnen, und er lässt sich in denselben Affekt gleiten.“ (ibid; 48) Die betroffene Person taucht in den neuen berauschten Aggregatzustand ein. Das Es gewinnt folglich die Überhand und das Ich sagt: „Ich will voll und ganz im Geschehen stehen, nicht aber eine reflexive Position außerhalb des Banns einnehmen.“ (Scheuringer, S. 8) Kein Wunder, dass der verbliebene Rest an Vernunft dann als störend empfunden wird. Das ist nur konsequent; und eine logische Folge der affektiven Aufladung. Dementsprechend eng liegen rascher Rausch und Raserei beisammen. Denn dort, wo das Reflexionsvermögen aufhört, fängt ihr Potenzial an. Nachrennen statt Nachdenken lautet die Devise.
In der Masse kommt der Affekt dann erst so richtig zu sich und wird unkontrollierbar. Unter anderen Bedingungen kann er kaum zu solcher Höhe anwachsen (vgl. Freud 2005; 48). Im Extremfall wird die Masse zum Mob, zu einer gefährlichen „Hetzmasse“ (Canetti 2006; 54). Doch angelegt ist diese bereits im Wunsch nach dem Abschalten der Selbstreflexion. Das Sich-Gehen-Lassen-Wollen deutet den ersten Schritt in diese Richtung, den Anfang vom Ende des reflexiven Denkens an. Wer daher den „Jubel ohne Dazwischentreten [sic! ] einer freien Entscheidung“ affirmiert und „solche von der schweren Last des reflexiven Denkens erleichterte Momente“ (Scheuringer, S. 8) feiert, die einem angeblich die böse „Aufklärung und vorher schon das Christentum madig machen wollten“ (S. 11), gießt so gesehen Öl ins Feuer. Schmerzlich sticht die Nähe zur gegenaufklärerischen Ideologie ins Auge, wenn eine Regression auf einen mutmaßlich natürlicheren und vermeintlich von Zwängen freieren Zustand herbeigesehnt wird.
Um Missverständnissen zuvorzukommen: Fühlen und Denken sind deshalb noch lange kein zwingender Gegensatz, und im Gegenzug darf nicht einfach die „instrumentelle Rationalität“ beschworen werden. Sie und nicht der bloße Affekt machte damals die industrielle Massenvernichtung erst möglich. Im Falle des Mitfieberns aber droht die Emotion über die Vernunft zu triumphieren und in Barbarei umzuschlagen, schließlich verspricht sie in den Augen des Berauschten „den wunderbaren animalischen [sic! ] Genuss: das Eintauchen in das Objekt, die Ausschaltung der nervenden [sic! ] Rationalität.“ (S. 11) Er, der mit den Wolf tanzt, fällt hinter Hobbes zurück!
Bezeichnenderweise führt die Sehnsucht nach dem Rausch so wie das Verlangen nach Identifikation (ob mit einer Masse oder einer idealisierten Persönlichkeit) die Einsamkeit und Vereinzelung des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft deutlich vor Augen; jedoch nicht dem betroffenen Subjekt selber, da es zum Objekt seiner eigenen Begierden wird. Ansonsten würde es andere Wege wählen als primär den berauschten, sprich: nicht nur begehren, sondern aufbegehren.
Anyway. Es ist wichtig, das eigentliche Ziel nie aus den Augen zu verlieren, nämlich gesamtgesellschaftlich, also für jedes einzelne Individuum gleichermaßen (und nicht in egoistischer Manier), ein glückliches Leben anzustreben. Darüber hinaus gilt es, den Rausch in keinster Weise zu idealisieren, sondern ihn nüchtern als das zu betrachten, was er in dieser Gesellschaft in Wahrheit überwiegend ist: eine Ausflucht, keine Lösung. Der schwache Trost, der vielleicht bleibt, ist, dass es im Grunde „kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 2008; 19) geben kann und sich dieses gelegentlich mit Rausch leichter überstehen lässt als ohne. Damit ist freilich im Umkehrschluss keineswegs jeder Form des Rausches ein Persilschein ausgestellt, denn zwischen ihnen zu differenzieren, bleibt einem nie erspart: Manche sind und bleiben objektiv reaktionär, wie z. B. das Mitfiebern mit einer Nation. Weiters entlässt die frustrierende Realität noch lange nicht die handelnde Person, die sich dem Rausch hingibt, aus ihrer Verantwortung. Zum anderen stellt die Berauschung immer eine prekäre Gratwanderung dar, bei der permanent das Abrutschen in eine Apologie der vorherrschenden Totalität droht, denn: „Vergnügtsein heißt Einverstandensein. Es ist möglich nur, indem es sich gegenüber dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses abdichtet, dumm macht und von Anbeginn den unentrinnbaren Anspruch jedes Werks, selbst des nichtigsten, widersinnig preisgibt: in seiner Beschränkung das Ganze zu reflektieren. Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übrig gelassen hat. Die Befreiung, die Amusement verspricht, ist die von Denken als von Negation.“ (Horkheimer/Adorno 2003; 167)
„Selbst wenn wir beisammen sitzen
In unsrem Lieblingsbrauereilokal
Dann sollten wir wissen
Dass mit jedem Bissen
Den wir wie von Sinnen
Nahezu herunterschlingen
Ehe wir uns versehen
Unser Stolz und unsre Würde verloren gehen
Und die Alltäglichkeit
Die man uns jederzeit
Aus vollen Fässern zapft
Macht uns nicht mehr betrunken, sondern vielmehr bewusst
Dass das Unglück überall zurückgeschlagen werden muss“
(Tocotronic, 1999: „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“)
Der Rausch re-/präsentiert die Rechnung
Aus diesen Überlegungen lassen sich zusammenfassend folgende Schlüsse ziehen: Rausch ist eine Flucht, die zum Fluch werden kann. Im Hier und Jetzt bleibt er der kapitalistischen Vergesellschaftung verhaftet. Auch wenn er als Erlösung aus der teils unerträglichen Alltäglichkeit erscheint, eine Lösung ist er nicht! Im Gegenteil, seine reflexionsfeindliche Beschaffenheit ist alles andere als harmlos, der Effekt des Affekts, das Sein ohne Bewusstsein unter Umständen sogar gefährlich. Und selbst das Vergnügen entpuppt sich schlussendlich als trügerisch: „Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betrugs am Glück.“ (Horkheimer/Adorno 2003; 162) So gesehen erscheint der ernüchternde Kater nach einem exzessiven Rausch geradezu als Warnung vor dem Ausbleiben des Marxschen kategorischen Imperativs, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. (Marx 1844; 385)
Literatur
Adorno, Theodor W. (2008), Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M.
Canetti, Elias (2006), Masse und Macht, Frankfurt a. M.
Dany, Hans-Christian (2007), Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, Hamburg.
Debord, Guy (1996), Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin.
Freud, Sigmund (2005), Massenpsychologie und Ich-Analyse / Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (2003), Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M.
Marx, Karl (1844), Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1 (1976), Berlin.
Reich, Wilhelm (2004), Die sexuelle Revolution, Frankfurt a. M.
Weber, Max (2004), Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München.