Er und Ich
1923 in Wien geboren, 2007 in Vosnon verstorben: André Gorz.
von Franz Schandl
Nun ist sein erstes Buch aus dem Jahr 1958 wieder aufgelegt worden. Es ist kein Roman. Es ist keine Autobiographie. Es ist auch kein philosophisches Oeuvre. Aber es hat doch von alledem etwas, braucht keinen Vergleich zu scheuen. Auf jeden Fall ist es das Werk einer Selbstfindung. Wie der Titel sagt, ist es ein Verrat, sein Autor ein Verräter. Er verrät sich selbst. Laufend. Diese Offenheit fügt der Verletzung oft noch die Selbstverletzung bei. Sie ist von einer Unerschrockenheit gegen sich wie gegenüber der eigenen Familie, Vater jüdisch, Mutter arisch. Die Wunden haben gespürt zu werden. Immer wieder geht es um Kindheit und Jugend des Gerhard Hirsch (ab 1930 dann in Gerhard Horst umbenannt) in Ober St. Veit. Er erzählt von seinem Geiz, seiner Liebe zur baren Münze, aber auch von der ausdrücklichen Sympathie des jungen Gerhard für die Nazis, er spricht über seine Identifikation mit dem Aggressor, um den „Rassenmakel“ (S. 143) wettzumachen. Man lese nur die nichts beschönigenden Passagen (S. 140ff. )
Gorz schreibt nicht „Ich“, zumindest ganz selten, er schreibt „Er“, wenn er von sich spricht. Er will, ja muss zu sich auf Distanz gehen, um sich überhaupt erreichen zu können. „Ich bin ein Anderer“, behauptet er (S. 323). Er ist kein selbstbewusster junger Mann, aber ein bewusster. Dass „Ich und „Er“ nicht die selben sind, auch wenn sie als die Gleichen erscheinen, das war stets sein Programm. Diese Methode erlaubt ihm zu changieren, unterschiedliche Blickwinkel und Zeitpunkte deutlich zu machen, den Exponenten (der kein Held ist und auch keiner sein will) nicht als unabänderliche Integrität darzustellen. Diese Technik ermöglicht es, diverse Ebenen-, Analyse- und Perspektivenwechsel deutlich zu konturieren. Noch in einem seiner letzten Briefe hält er fest: „Selbst ist eigentlich nur die Distanz, die er zum Anderen, zu dem er sozialisiert wurde, behält. “
Zweifellos wollte er eines nicht sein, der personifizierte „österreichisch-germanisch-christlich-jüdische Widerspruch“ (S. 205). „Er hatte die Vorstellung aufgegeben, irgendwo zu Hause zu sein, er hatte seine Familie, seine Kirche, das Reich, Österreich, die Juden, seine Muttersprache, einfach alles verleugnet und beschlossen, das einzige zu sein, was er absolut nicht war: Franzose. Französisch lernen, schreiben, denken (im Jahre 1940, nach dem Zusammenbruch Frankreichs, in einer deutschen Schule französisch zu denken, war eine großartige, selbstzerstörerische Askese, eine durchsichtige Wahl der Nichtigkeit) und alles in der Umgebung verachten, was nicht französisch war.“ (S. 38)
Hier muss man sich den Moment vergegenwärtigen, in dem dieser Entschluss des Siebzehnjährigen, den seine Mutter (um ihn zu retten) in ein Internat nach Lausanne gesteckt hatte, in die Realität umgesetzt wurde. 1940 war Frankreich am Boden, unterworfen von den Deutschen, gedemütigt und geteilt. Gorz hat sich also nicht im Augenblick eines Triumphes, sondern einer Niederlage entschieden, „als es kein Frankreich und im Umkreis von vierhundert Kilometern keinen wirklichen Franzosen mehr gab“ (S. 174) „Französisch lesen, sprechen, denken wurde für ihn zu einer Chance, der Geschichte zu trotzen. Gegen das Sein verewigte er das Frankreich, das nicht mehr existierte, und schuf bei dieser Gelegenheit, gegen das Reale, eine Lebenswelt, in der der Mensch möglich wäre.“ (S. 203)
„Er hat sich immer nur beim Leben zugeschaut“ (S. 126) schreibt dieses Ich über das Sich. Aber er wollte nicht nur zuschauen, er wollte leben, doch um dies zu können, war es notwendig gewesen, noch besser und genauer zuzuschauen, was einem, also sich selbst, da geschieht und widerfährt. „Ich war mir schnuppe. Ich liebte mich nicht“ (S. 29), sagt Gorz und „Wenn er sich nicht endlich eingesteht, wie er sich fühlt, wird er auch nicht entdecken, was seine Existenz motiviert.“ (S. 35) Es war ein In-die-Welt-Schreiben, ein Kampf gegen „die leidenschaftliche Weigerung, sich zu veräußerlichen, sich draußen zu verlieren, sich inmitten der Welt als ein Wesen mit verletzlichem Fleisch zu fühlen“ (S. 72). Er kommt zu der Erkenntnis, „dass die unerschütterliche Treue in der Praxis Ablehnung der realen Existenz ist.“ (S. 303-304)
Der Autor konstatiert die Nichtung, eine objektive wie eine subjektive. Und doch ist das keine Selbstaufgabe, sondern im Gegenteil ein Schrei: Ich will mich haben und mögen können. Für Gorz war dieser Band der Versuch einer Reflexion seiner selbst. Da bemüht sich einer alles zu sagen, alles zu verraten, was ihn so treibt, auch auf die Gefahr hin, dass der Genichtete sich noch einmal nichtet. Aber gerade diese Offenheit des Verrats macht aus Gerhard Hirsch oder Gerhard Horst erst André Gorz. „Der Verräter löscht alles aus und beginnt sich selbst neu: Das verschafft uns heute die Möglichkeit, ein radikales Buch zu lesen“ (S. 434), meint Jean Paul Sartre, dem Gorz sein Leben lang verbunden gewesen ist: „Gorz ist, glaube ich, der erste, der das Problem konkret formuliert hat; und ich bin ihm dankbar dafür.“ (S. 422)
Das 1958 erschienene Buch ist wohl auch eines der zentralen Schriftstücke des französischen Existenzialismus gewesen. Die Wichtigkeit wird auch durch das umfangreiche Vorwort (in diesem Band als Nachwort abgedruckt), das kein Geringerer als Sartre beigesteuert hat, unterstrichen. „Er fühlt nichts, er erzählt sich“ (S. 397), schreibt er über Gorz. Es handelt sich um „ein Werk, das dabei ist, seinen Autor zu schaffen“(S. 403). „Der, von dem gesprochen wird, ist der, der spricht, aber es gelingt den beiden nicht, zusammenzuwachsen.“ (S. 399) „Der Verräter“ ist ein reichhaltiges Werk, kein zurechtgeschliffenes, sondern ein ungeschliffenes, überall Wunden und Blessuren und Flecken. Die wahre Stärke kommt aus diesen Schwächen, in denen er sich windet, um sich ihnen zu entwinden. Da wollte sich keiner absichern oder verschanzen.
„Diese schäbige und schmierige Welt am Ende akzeptieren“ (S. 209), war seine Sache nie. Inzwischen war er Kommunist geworden und auch bis zu seinem Ende geblieben, aber einer, der stets wusste, dass er es in der KP, auch der französischen, nie ausgehalten hätte. Die Partei war seine Sache nie, aber für die Sache ergriff er immer Partei. Der Sozialphilosoph Gorz ist ein Denker gewesen, aber kein strenger Denker, kein Sartre oder Adorno. Man sieht das insbesondere auch an vielen Schriftstücken, die dem „Verräter“ folgten. Da ist einer, der sich auch immer wieder zurücknimmt, streckenweise mehr laviert, als er postuliert. Kein rücksichtsloser Intellektueller war er fortan, gelegentlich sogar ein etwas vorsichtsloser.
André Gorz
Der Verräter (1958). Mit dem Essay „Über das Altern“ 440 S. , geb.
€ 27,50 (Rotpunktverlag, Zürich)