Die große Illusion
Streifzüge 44/2008
von Andreas Exner
Die „Regulierung der Finanzmärkte“ wird zum neuen Mainstream. Der CDU-Politiker Heiner Geißler erklärt, dass „die Marktideologie gescheitert“ sei. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac fühlt sich bestätigt. Hat man es doch seit Jahr und Tag gesagt: Die „entfesselten“ Finanzmärkte sind instabil. Nun fühlt Attac seine große Stunde gekommen, so scheint’s. Und man bläst zum Halali: „Die Krise ist die direkte Folge der Gier und der Skrupellosigkeit der Banker und Fondsmanager – und vor allem der Tatenlosigkeit der Politik“, tönt Attac Deutschland auf der Titelseite seiner Webpage.
Attac liegt falsch.
Die vermeintliche „Gier“ ist dem Kapitalismus eingebaut. In einer Geldwirtschaft macht Produktion nur Sinn, wenn mehr Geld dabei herauskommt, als investiert worden ist. Das erzwingt nicht zuletzt die Konkurrenz – wer keinen Profit macht, kommt darin um. Und weil am Markt niemand vor dem anderen sicher ist, wird der Profit auch nach Kräften maximiert. Attac fuchtelt daher zu Unrecht mit dem moralischen Zeigefinger herum. Mehr Moral hilft keinen Zentimeter weiter, wenn das Problem in der Struktur der Gesellschaft liegt. Skrupellos ist es, nur leben zu können, wenn man sich verkaufen kann. Dass Attac dagegen jemals aufgetreten ist, habe ich noch nicht gehört.
Darüber hinaus ist Spekulation kein Privileg der Finanzmärkte. Vielmehr ist jede wirtschaftliche Tätigkeit im Kapitalismus spekulativ. Kein Produzent kann sicher sein, dass sein Unternehmen auch erfolgreich sein wird. Wer keine Kristallkugel hat, muss also spekulieren – ob ein Betrieb nun Waren produziert oder ein Investmentfonds Unternehmen kauft.
Die „Gier“ der „Wallstreet“ anzuprangern ist aber nicht bloß falsch, sie grenzt an Heuchelei. Der globale Norden verbraucht ein Vielfaches des Südens an Ressourcen. Wir fressen der Welt buchstäblich die Zukunft weg. Dagegen sind die Eskapaden von Managern nichts als Peanuts. Die „Heuschrecken“ sind wir selbst.
Warum werden dennoch „die Spekulanten“ für die Krise einer Produktionsweise verantwortlich gemacht, für die letztlich alle die „Ursache“ sind, die Konsumenten, Arbeiterinnen und Wähler? – Erstens ist es immer bequem, „die anderen“ zur Wurzel eines Missstands zu erklären. Weit unbequemer z. B. wäre es, eine militante Kampagne gegen den individualisierten Massenverkehr zu starten. Unbequem wäre es auch, Arbeitskämpfe zu Kämpfen um die gesellschaftliche Kontrolle der Produktion zu radikalisieren.
Zweitens aber zeigt sich im Sündenbock-Denken genau die Ohnmacht und Perspektivlosigkeit, die Attac eigentlich bekämpfen will. Doch anstatt zu versuchen, das eigene Leben in die Hand zu bekommen, vom Alltag bis zur Organisation der Produktion, stellt Attac Forderungen an „Vater Staat“. Der kann vermeintlich alles regeln, wenn man ihn mit guten Argumenten und gutem Willen überzeugt. Damit ist die Chance, das eigene Leben selbst zu gestalten, schon vertan.
Tatsächlich ist die Krise kein begrenzter Brand an der Wallstreet, den man mit ein paar Löschaktionen und besseren Gesetzen in den Griff bekommen wird. Es zeigt sich vielmehr eine historische Grenze des kapitalistischen Weltsystems. Wir nähern uns dem Zusammenfluss einer Krise des Wachstums und der Beziehung der kapitalistischen Gesellschaft zur Umwelt, die sich beide seit dem Ende der 1960er Jahre aufgebaut haben.
Der Ölschock 1973 machte erstmals natürliche Grenzen des Wachstums für die breite Masse vorstellbar. Schon ein paar Jahre vorher hatte die Profitrate global zu fallen begonnen. Die 1970er Jahre waren deshalb ein Jahrzehnt schwachen Wirtschaftswachstums und zunehmender sozialer Auseinandersetzungen. Umso mehr, als viele Arbeit und Geldverdienen satt hatten und gegen Bosse, Politik und Normen rebellierten.
Erst die neoliberale Politik von Thatcher und Reagan setzte einen wirksamen Gegenschlag. Sozialabbau, Reallohnsenkungen, Verschärfung von Arbeitsdisziplin und Arbeitszwang – zunehmende Kontrolle der Lohnabhängigen durch Staat und Kapital – ließen die Profitraten wieder steigen. Der globale Norden schrieb sein Konsummodell fort und trieb auch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Vermüllung des Planeten massiv voran. Als in den 1990er Jahren dann die Tigerstaaten sowie Indien und China die Bühne der Weltwirtschaft betraten, nahm der Druck auf die Produktionsgrundlagen weiter zu.
Gestiegene Rohstoffpreise, eine langfristige Teuerung bei Lebensmitteln und Energie zeigen ebenso wie der Klimawandel: Unsere Produktionsweise erreicht ihre Grenzen.
Viele Unternehmen haben schon vor dem vollen Ausmaß der Finanzkrise Gewinnwarnungen ausgegeben – und zwar aufgrund der steigenden Rohstoffpreise. Die Provimi-Gruppe etwa, einer der weltweiten Führer im Futtermittelsektor, vermeldete deshalb 2007 um 15 Prozent geringere Profite als im Vorjahr. Ebenso der Autobauer Toyota. Auch die Profite der indischen Wirtschaft litten zuletzt unter anderem aufgrund hoher Rohstoffpreise. Die Liste solcher Meldungen ist lang.
Die Steigerung der Inputkosten schlägt sich auch auf die Erdölbranche nieder. So werden etwa Bohrungen teurer – eine der Ursachen für die Stagnation der Erdölförderung in Nicht-OPEC-Staaten. Die großen Ölfelder der Welt sind bereits alt und immer schwerer auszubeuten. Auch beim Erschließen von neuen Reserven wird bei steigenden Energie- und Materialkosten das Verhältnis zwischen energetischem Aufwand und Ertrag immer schlechter werden.
Der Finanzblase geht vor den Augen der Welt die Luft aus. Doch beteiligen sich all jene, die wie Attac den Ernst der Lage verkennen und billige Rezepte verkaufen wollen, an der Bildung einer neuen Blase, die mindestens genauso gefährlich ist: der Illusion der „Regulierung“. Diese Blase freilich wird viel rascher als die Immobilienblase platzen, wenn das wahre Ausmaß der Krise erst einmal schlagend wird. Dann aber ist wertvolle Zeit bereits vertan.
Angesichts der Ressourcenverknappung und des Klimawandels ist die Weltwirtschaft bereits im Ganzen eine „Blasen-Ökonomie“, eine monströse Wette auf eine Zukunft, die nicht mehr kommen wird. Diese Realität gilt es zu erkennen. Und die Konsequenz daraus zu ziehen: Wir müssen selbst Auswege suchen, die tragfähig sind. Die Politik wird dabei schwerlich helfen.