Der Bürger bürgt
Die Finanzmarktkrise ist kein Betriebsunfall des Kapitalismus, sondern gehört notwendigerweise dazu. Wen retten die »Rettungspakete« eigentlich vor was?
von Michael Heinrich
Nach einem weithin geteilten Verständnis verdankt sich die Finanzmarktkrise einerseits der »Gier« der Banker und Spekulanten, die immer größere Renditen und Einkommen erzielen wollten und sich dabei auf immer riskantere Geschäfte einließen, und andererseits einem erheblichen Mangel an staatlicher Regulierung der Finanzmärkte, wodurch jenes »unverantwortliche« Handeln erst in seinem ganzen Umfang möglich wurde. Entsprechend dieser Sichtweise muss nun zunächst das Finanzsystem gerettet werden, egal wie viele Steuermilliarden dies kosten mag. Danach soll durch neue Regeln sichergestellt werden, dass »so etwas« nie wieder passieren kann. In dieser Beschreibung der Krise trifft sich, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, ein ziemlich breites politisches Spektrum, das von Angela Merkel bis zu Oskar Lafontaine und großen Teilen von Attac reicht.
Einig ist man sich darin, dass eine »Fehlentwicklung« stattgefunden habe, der es künftig vorzubeugen gelte. Auch von manchen linken Ökonomen ist zu hören, dass der Finanzsektor aus dem Ruder gelaufen sei: Statt seine »eigentliche« gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen, nämlich Kapital von Anlegern zu Unternehmen zu bringen, sei es nur noch um Spekulation und die Erzielung phantastischer Gewinne gegangen. Bei derartigen Anklagen sollte man jedoch in Erinnerung rufen, dass es im Kapitalismus für alle Unternehmen darum geht, ihren Gewinn zu maximieren. Auch ein Autohersteller will nicht selbstlos zur Verbesserung der Mobilität beitragen, sondern mit den produzierten Autos Gewinn einfahren. Und wenn es die größten Dreckschleudern sind, die den meisten Gewinn abwerfen, dann werden genau sie produziert. Genauso sind für die Banken Finanzgeschäfte lediglich die Mittel, um einen möglichst hohen Gewinn zu machen.
Banken und Finanzmärkte sind keine Störung oder gar Parasiten eines »normalen« Kapitalismus. Ganz im Gegenteil: Kapitalverwertung ist ohne Kredit überhaupt nicht möglich. Dass dies sowohl für den Kreislauf des Einzelkapitals wie für die Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gilt, ist eines der großen Themen im viel zu wenig gelesenen zweiten und dritten Band des Marxschen »Kapitals«. Auf dem Finanzmarkt werden dann Aktien und Kredite (sowie davon abgeleitete Ansprüche, die verschiedenen »Derivate«) zu handelbaren Anlageformen von Kapital. »Finanzmarktspekulation« steht nicht im Widerspruch zu kapitalistischer Produktion (die ebenfalls stets ein spekulatives Element enthält), sondern ist ihr notwendiges Pendant. Und genau wie die kapitalistische Produktion zu Überproduktionskrisen tendiert, bringt der Finanzsektor immer wieder Überspekulationen mit einem anschließenden Crash hervor.
Dass die Finanzmarktkrise kein Betriebsunfall ist, sondern notwendigerweise zum Kapitalismus gehört, besagt nun aber nicht, dass Regulierungen des Finanzmarkts irrelevant wären. Während die Priester des Neoliberalismus die wundersame Kraft der Märkte gepredigt haben und mit diesen Beschwörungen bis weit in die Sozialdemokratie hinein erfolgreich Gläubige rekrutierten, erwies sich der Markt als eine außerordentlich bornierte und destruktive Instanz.
Die Finanzmärkte sind die freiesten und flexibelsten Märkte, die es gibt. Sie kommen dem neoliberalen Marktideal am nächsten – und gerade sie haben den größten Crash seit langem produziert. Der kapitalistische Markt braucht den Staat als Regulator, damit er nicht seine eigenen Fundamente völlig zerstört. Staatliche Regulation ist daher auch nicht das Anfang vom Ende des Kapitalismus, sondern eine seiner Existenzbedingungen. Allerdings sind die Art und das Ausmaß der Regulation keineswegs von vornherein klar. Hier existieren verschiedene Kapitalismusmodelle und unterschiedliche Kapitalfraktionen, und politische Lager bevorzugen durchaus unterschiedliche Varianten.
Die »Rettungspakete«, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und einer Reihe von europäischen Ländern beschlossen wurden, zeigen, dass die großen Staaten keineswegs ohnmächtige Akteure sind, denen nur noch die Möglichkeit bleibt, sich an die Zwänge »der Globalisierung« anzupassen. Dies wurde in den letzten Jahren nicht nur von Konservativen, sondern auch von der Sozialdemokratie bis hin zu den »Empire«-Theoretikern Michael Hardt und Antonio Negri immer wieder behauptet. Plötzlich wird der Staat sowohl in den USA als auch in Europa zum rettenden Netz der abstürzenden Marktakteure.
Erstaunlich sind auch die Summen, die in Rekordzeit bewegt werden können. Der gesamte Bundeshaushalt 2008 sah bislang Ausgaben von 283 Milliarden Euro vor. Auch nur eine oder zwei zusätzliche Milliarden, etwa für die von Hartz IV abhängigen Kinder, die de facto unter der Armutsgrenze leben, galt als unter keinen Umständen finanzierbar, würde es doch das hehre Ziel in Frage stellen, schnellstmöglich einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Jetzt werden über Nacht 480 Milliarden Euro, also weit mehr als das Anderthalbfache des gesamten Haushalts, bereit gestellt, um den Bankensektor zu retten. Dass es sich bei dieser Summe um 80 Milliarden Eigenkapitalhilfe, für die der Staat Eigentumsrechte bekommt, und um Bürgschaften in Höhe von 400 Milliarden handelt, von denen »vielleicht nicht ein Euro gezahlt werden muss«, wie mehrfach betont wurde, ist kein Gegenargument. Was die Eigentumsrechte, die der Staat jetzt erwirbt, in ein paar Jahren noch wert sein werden, kann heute niemand voraussagen; wäre es anders, müsste der Staat nicht einspringen. Und für Bürgschaften, egal ob es sich um staatliche oder private handelt, gilt: Wer eine eingeht, sollte auch einkalkulieren, dass sie fällig wird, alles andere wäre nur blauäugig.
Aber selbst wenn am Ende nicht die gesamten 480 Milliarden fällig werden, sondern nur 100 oder 200 Milliarden, der Betrag bleibt enorm. Und dieser Betrag muss am Ende von den Steuerzahlern aufgebracht werden. In den vergangenen 25 Jahren wurde das Steuersystem konsequent umgebaut: Die Spitzensteuersätze und zuletzt in diesem Jahr die Unternehmenssteuern wurden drastisch gesenkt, die Vermögenssteuer wurde bereits in den neunziger Jahren abgeschafft, dagegen wurde die Mehrwertsteuer kräftig angehoben. Während Vermögenssteuer und Spitzensteuersätze nur für Menschen mit Vermögen und einem Spitzeneinkommen anfallen, sind die Mehrwertsteuersätze für alle gleich, unabhängig vom jeweiligen Einkommen. Sowohl während der schwarz-gelben Kohl-Regierung als auch während der rot-grünen Schröder-Regierung hat die Steuer- und Sozialpolitik als gigantische Umverteilungsmaschine von unten nach oben funktioniert: Während die sozialpolitischen Leistungen auf breiter Linie gekürzt wurden, wurde die steuerliche Belastung von Vermögen, Unternehmen und Spitzenverdienern enorm gesenkt.
Auch die meisten Vorschläge, die jetzt als Reaktion auf die befürchtete wirtschaftliche Rezession zirkulieren, gehen in diese Richtung: bloß kein Konjunkturprogramm, aber Steuererleichterungen (wie etwa die steuerliche Absetzbarkeit von Krankenkassenbeiträgen), »damit die Menschen mehr Geld in der Hand haben«. Diejenigen, die schon jetzt viel Geld in der Hand haben, werden damit noch mehr bekommen, jene, die wenig haben, werden von solchen Maßnahmen nur wenig profitieren, und den Ärmsten, wie den Hartz-IV-Empfängern nutzen solche Steuererleichterungen überhaupt nichts. Damit ist aber auch klar, wer diese gigantische Rettungsaktion schließlich finanziert. Es ist die große Mehrheit der Gering- und Durchschnittsverdiener, auf die die Steuerlast zunehmend abgewälzt wird, sowie jene, die auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sind, denn diese Leistungen dürften in Zukunft noch schmaler ausfallen.
Im übelsten Sinne »populistisch« ist die bislang noch äußerst vage Regelung, dass die Gehälter von Managern, deren Banken Staatshilfen in Anspruch nehmen, beschränkt werden sollen (»im Normalfall« auf 500000 Euro pro Jahr): Dem Ärger in der Bevölkerung darüber, dass die »Zocker« staatlich aufgefangen werden, soll vorgebeugt werden. Doch selbst wenn ein paar Manager im nächsten Jahr geringere Gehälter erhalten sollten, ändert dies nicht das Geringste an der gesellschaftlichen Lastenverteilung.
Lediglich scheinradikal ist auch die Forderung nach Verstaatlichung des Bankensektors. Die staatlichen Landesbanken haben sich genauso verspekuliert und die besonders riskanten Spekulationen in ausländischen Tochtergesellschaften versteckt wie die privaten Banken. Es geht nicht um die Frage, wer die Bank besitzt, sondern nach welchen Regeln die Bank funktioniert. Diese Regeln sind aber nicht allein die Sache der Bank, sondern der gesamten kapitalistischen Wirtschaft, innerhalb der die Banken fungieren. Hier lässt sich aber nicht ohne weiteres ein einzelnes, zentrales Teilstück herausbrechen und einfach umpolen. Da müsste man schon über die Veränderung des gesamten kapitalistischen Systems reden – nicht über Rettungspakete, sondern über grundsätzliche gesellschaftliche Alternativen.
Jungle World, 23.10.2008