Zwangsehe
Vom ewigen Flirt der Pädagogik mit der Emanzipation und ihrer Zweckheirat mit der Ökonomie*
Streifzüge 40/2007
von Erich Ribolits
Der Titel der gegenständlichen Veranstaltung signalisiert einen kritischen Blick auf das Verhältnis von Bildung und marktgesteuerter Ökonomie. Wer Probleme damit hat, dass Bildungsaktivitäten zu eng mit ökonomischen Gegebenheiten verkoppelt sind, idealisiert meist eine andere Ausrichtung der Pädagogik – ihre Orientierung an Mündigkeit und Emanzipation. Ich möchte mit meinem Vortrag diese Polarisierung zwischen einer pädagogischen Ausrichtung an Emanzipation einerseits und an Ökonomie andererseits kritisch hinterfragen. Ich möchte aufzeigen, dass es keineswegs so ist, dass die Pädagogik in den letzten Jahren quasi ihren Partner gewechselt hat und von ihrer ursprünglichen Beziehung mit der Emanzipation zu einer nunmehrigen mit der Ökonomie gewechselt hat. Wie der Titel meines Vortrags schon andeuten soll, hatte die Pädagogik meines Erachtens immer schon ein ziemlich fixes Verhältnis mit der Ökonomie, und ihre Beziehung zur Emanzipation bewegte sich stets bloß auf der Ebene eines oberflächlichen Flirts.
Es besteht natürlich durchaus Grund, schon allein die Tatsache zu feiern, dass das schulheft nach 30 Jahren noch immer existiert und regelmäßige, zum Teil recht kräftige Lebenszeichen von sich gibt. Trotzdem meine ich, dass es vielleicht gar nicht so sehr die lange Lebensdauer ist, die heute im Fokus der Reflexion stehen sollte – viel bedeutsamer scheint mir, dass es eine derart lange Zeit gelungen ist, mit dem schulheft ein Forum aufrechtzuerhalten, das eigentlich ziemlich bald nach seiner Gründung schon nicht mehr mit dem pädagogischen Zeitgeist kompatibel war.
Auf der schulheft-Homepage heißt es, dass die 1976 vorgenommene Gründung der Taschenbuchserie von der Aufbruchsstimmung der 68er-Bewegung getragen war und dass mit dem schulheft ein kritisch-pädagogisches Forum geschaffen werden sollte, das Theorie und Praxis verzahnt. Wenn es weiter heißt, dass diese Linie all die Jahre beibehalten wurde, auch wenn die einstigen Herausgeber/innen längst durch neue abgelöst wurden, dann stellt sich spätestens seit den 80er Jahren die Frage, wieso die hier als Initialzündung angeführte pädagogische Aufbruchsstimmung nur in derartigen Mini-Enklaven wie eben beispielsweise dem schulheft konserviert werden konnte und im Übrigen so rasch wieder versandet ist. Tatsächlich war dem Geist der kritisch-emanzipatorischen Erziehungswissenschaft, auf die hier rekurriert wird, ja nur ein äußerst kurzer Sommer vergönnt. Zum Zeitpunkt der Gründung des schulheft war die Zeit des Aufbruchs eigentlich schon wieder fast vorbei – die neokonservative Wende kündigte sich damals auch in der Pädagogik schon an allen Ecken und Enden an.
Dabei war das schulheft ja durchaus nicht die einzige Zeitschrift mit pädagogischem Impetus, die im Umfeld der so genannten 68er-Bewegung entstanden ist. Und es war auch keineswegs ein Zufall, dass diese Bewegung als Nebeneffekt Zeitschriften hat entstehen lassen, deren Ziel es war, nicht bloß eine andere, in irgendeiner Weise „modernere“ Erziehung und ein entsprechendes Lernen einzufordern, sondern radikal die Bedingungen zu hinterfragen, unter denen Sozialisation und Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet. Die über weite Strecken sehr unterschiedlichen und zum Teil auch widersprüchlichen gesellschaftlichen Experimente und Ansprüche, die heute rückblickend unter dem Sammelbegriff „68er-Bewegung“ zusammengefasst werden, verband ja eine gemeinsame Hoffnung: die Überwindung der durch die politisch-ökonomischen Strukturen bedingten Selbstentfremdung des Menschen. Das große Ziel lautete Emanzipation von der den gesellschaftlichen Strukturen innewohnenden Macht, die es den Menschen derart schwer macht, ihre prinzipielle Freiheit in Anspruch zu nehmen und ein humanes Miteinander zu verwirklichen.
Mit diesem Ziel wurde an die Vorstellung der Selbstbefreiung des Menschen angeschlossen, die untrennbar mit der neuzeitlichen Pädagogik – ja letztendlich mit der Moderne insgesamt – verknüpft ist. Das bildungstheoretisch entworfene Idealbild des bürgerlichen Menschen war das zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln befähigte, emanzipierte Individuum gewesen. Aus Gründen, auf die ich in der Folge gleich eingehen werde, blieb dieses Ziel allerdings immer ein ziemlich nebuloses Ideal, das kaum je wirklich in Beziehung zu den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen gesetzt wurde. Erst die im Gefolge von 68er-Bewegung und kritischer Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule entstandene – allerdings bald wieder im pädagogischen Untergrund verschwundene – emanzipatorische Pädagogik unterzog die überlieferten pädagogischen Konzeptionen konsequent einer Nagelprobe und entlarvte sie dabei über weite Strecken als bloße Ideologie.
Tatsächlich war die moderne bürgerliche Pädagogik ja von allem Anfang an in einem eigentümlichen Widerspruch gefangen: Als eine Disziplin, die im Zusammenhang mit den tief greifenden gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge der Machtübernahme des Bürgertums ihren eigenständigen Status erhalten hatte, verband sie ihre Leitbegriffe – Mündigkeit, Emanzipation, Verantwortung oder Autonomie – zugleich mit Eigensinnigkeit, mit Widerstand und Aufbegehren, mit gesellschaftlicher Umwälzung und mit Revolution. Die Vision des autonomen, über sich und die gesellschaftliche Ordnung vernünftig bestimmenden Menschen und die Verabschiedung des Glaubens an einen diesbezüglichen göttlichen Plan waren die Grundlagen der bürgerlichen Revolution. Die bürgerliche Kampfansage an die Prämissen der feudalen Ordnung war der im Bildungsbegriff kulminierte, freie, radikale und eigenverantwortliche Vernunftgebrauch. Letztendlich war der Bildungsbegriff nichts anderes als die pädagogische Entsprechung des politischen Kampfes des Bürgertums um gesellschaftliche Emanzipation – oder anders gesagt: Bürgerliche Mündigkeit war der Gründungsimpuls der modernen Pädagogik.
Allerdings erschöpfte sich die bürgerliche Emanzipationsbewegung in der politischen Befreiung. Sobald diese erreicht war, indem bürgerlich-demokratische Verhältnisse geschaffen waren, wurde der im Emanzipationsbegriff zum Ausdruck kommende revolutionäre Impuls umgehend wieder entsorgt. Zugleich fiel nun dem Bereich der gesellschaftlich organisierten Bildung die zentrale Reproduktionsfunktion der bürgerlichen Gesellschaft zu. Anstatt der kirchlichen übernahmen ja nun die pädagogischen Instanzen die Aufgabe der Zurichtung der Köpfe der zu Staatsbürgern gewordenen Untertanen. Das Ziel blieb dabei das gleiche – den gesellschaftlichen Status quo in seinem Bestand zu sichern.
Damit war aber das Dilemma der bürgerlichen Philosophie und Pädagogik geboren – nämlich an Begrifflichkeiten orientiert zu sein, deren radikale Ausrichtung letztendlich gar keinen gesellschaftlichen Niederschlag finden kann und darf. Folge dieser Entwicklung ist, dass die Pädagogik als philosophisch-reflektierende Wissenschaft zwar die hehren Ziele der menschlichen Emanzipation ständig wie einen Bauchladen vor sich herträgt, als Praxis jedoch dafür zuständig ist, deren Umsetzung klammheimlich zu verhindern. In letzter Konsequenz ist es somit die Pädagogik selbst, die den ehemaligen bürgerlichen Kampfbegriffen – trotzdem sie sie ständig idealisiert – ihre revolutionäre Brisanz nimmt.
Das ist der Grund, warum Mündigkeit, Emanzipation, Verantwortung, Autonomie und all die anderen erhabenen Leitmaßstäbe der Pädagogik heute weitgehend auf den Status hohler Pathosbegriffe reduziert sind; Begriffshülsen, die letztendlich inhaltslos sind und für die es keine beobachtbaren, dingfest zu machenden Verhaltenskategorien gibt. Als solche leeren Begriffshülsen können sie zugleich aber auch als attraktive Verpackung für nahezu jeden Inhalt herhalten. Dementsprechend leicht ist es ja auch, diese positiv aufgeladenen Leitbegriffe mit Inhalten zu füllen, die den aktuellen politisch-ökonomischen Vorgaben in die Hände spielen – etwas, was z. B. passiert, wenn Autonomie zu einem Kürzel dafür wird, dass Menschen flexibel, mobil und engagiert genau das machen, was sich die jeweilige Machtinstanz von ihnen erwartet.
Die Pädagogik als Wissenschaft erklärt es schlichtweg für unmöglich, konkrete Maßstäbe anzugeben, an denen sich ermessen lässt, ob ein Mensch sich hier und heute mündig verhält und sein Leben selbstverantwortlich führt. Wissenschaftlich ausgedrückt nennt sich das dann „das ungelöste Normproblem in der Pädagogik“. Ein Buch dieses Titels, das der deutsche Bildungswissenschafter Jörg Ruhloff fast zeitgleich mit der Gründung des schulheft herausgebracht hat, weist sehr genau nach, dass es keinem wissenschaftlichen Ansatz der Pädagogik je gelungen ist, verbindliche und aus dem Binnenraum der Pädagogik stammende, inhaltliche Umsetzungen der immanenten Ziele der Pädagogik zu entwickeln.
Sich damit zu beschäftigen, welche Verhaltensweisen von Menschen hier und heute als Indikatoren für mündiges Verhalten gelten könnten bzw. wie sich ein emanzipiertes Individuum den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen idealtypisch gegenüberstellen müsste, würde es der Pädagogik und den Pädagog/innen selbst abverlangen, sich gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den in ihr eingeschriebenen, konkreten Machtverhältnissen zu positionieren. Und das würde sie ziemlich rasch in ein gewaltiges Dilemma bringen: Da hieße es nämlich gegen eine ganze Reihe von strukturellen Bedingungen des Bildungssystems aufzutreten, was letztendlich bedeuten würde, politisch Stellung nehmen zu müssen. In letzter Konsequenz wäre es dafür erforderlich, dass sich die Pädagoginnen und Pädagogen selbst von ihrer Anhaftung an dem gesellschaftlichen Status quo emanzipieren. Da ist es natürlich viel bequemer, auf der Mikroebene der pädagogischen Beziehung zu bleiben und dort nach den „Bedingungen der Möglichkeit von Bildung“ zu suchen.
Dem widersprüchlichen Auftrag, auf der einen Seite aufgerufen zu sein, zu Mündigkeit und Emanzipation ihrer Klientel beizutragen, und auf der anderen Seite genau das nicht tun zu dürfen, sind letztendlich alle praktisch tätigen Pädagogen und Pädagoginnen ausgeliefert. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass diese Doublebind-Situation einen durchaus praktischen Nebeneffekt schafft: Indem den pädagogischen Praktikern suggeriert wurde, dass sie quasi einen von der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft unbeeinflussten Beruf hätten, waren sie auch immer besonders gut korrumpierbar. Die unterschwellig vermittelte, verführerische Botschaft lautet: Während „normale“ Arbeitnehmer in den die Triebkraft aller unter kapitalistischen Prämissen organisierter Arbeit darstellenden Prozess der Verwandlung von Geld in mehr Geld eingebunden sind, ist das bei Lehrern und Lehrerinnen nicht der Fall. Sie hätten quasi einen unschuldigen Beruf, der nicht auf der Ebene der Mehrwertproduktion, sondern auf der der Zwischenmenschlichkeit angesiedelt ist.
Dass Lehrer und Lehrerinnen die in den letzten Jahren stattgefundenen, sukzessiven Verschlechterungen ihrer Arbeitssituation ziemlich problemlos über sich ergehen ließen, hängt wahrscheinlich zu einem guten Teil mit diesem Glauben zusammen, dass es bei ihrer Tätigkeit tatsächlich um die Verwirklichung emanzipatorischer Ansprüche gehe und sie für ihren Beitrag zur Entwicklung des Menschlichen am Menschen bezahlt würden. Grundsätzlich ist es wohl für jeden Menschen, der seine Arbeitskraft gegen Bezahlung auf den Markt tragen muss, schwer zu akzeptieren, bloß ein Rädchen in der großen Profiterzeugungsmaschine zu sein. Für Arbeitende im pädagogischen Feld, die bei ihrer Tätigkeit mit ihrer ganzen Persönlichkeit gefordert sind und ganz massiv Beziehung als Werkzeug einsetzen müssen, ist das ohne Zweifel noch um ein gutes Stück schwerer. Dementsprechend verständlich ist es, dass sie umso krampfhafter an der Idee festhalten, dass es ein richtiges Leben im falschen gebe, – es macht sie allerdings auch besonders manipulierbar.
Wenn man das permanente Gerede von der Wissensgesellschaft ernst nehmen würde, müsste die Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern zwischenzeitlich zu den prestigeträchtigsten Berufen in unserer Gesellschaft zählen. Sie sind ja ohne Zweifel die Schlüsselpersonen bei der Vermittlung von Wissen und der Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Aber – so wie es Siegfried Bernfeld in seinem Buch „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ schon Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte – hat sich das periodisch auftretende gesellschaftliche Interesse an Erziehung noch niemals zu einer tatsächlichen Wertschätzung pädagogischer Leitmaßstäbe sowie der Pädagoginnen und Pädagogen verdichtet. An sie werden lediglich Erwartungen gerichtet, damit man dann, wenn die gewünschten Resultate nicht erreicht werden, einen Sündenbock namhaft machen kann. „Mit der Bejahung der Ziele der Pädagogik, mit Glauben an ihre Mittel, mit hoher Wertung ihrer Tätigkeit und ihrer Menschen hat dies (… ) nichts zu tun“, schreibt Bernfeld.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die pädagogische Idealisierung von Leitbegriffen wie Mündigkeit und Emanzipation ziemlich problemlos einer pädagogischen Praxis unterordnet, die diesen Zielvorstellungen Hohn spricht, darf ich – in meiner Funktion als Mitarbeiter am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien – derzeit tagtäglich miterleben: Wie viele von Ihnen wahrscheinlich wissen, ist die Universität gegenwärtig einem massiven strukturellen Umbau unterworfen. Dieser Umbau, der sicher die grundlegendste Veränderung der Universität seit der Humboldtschen Universitätsreform darstellt, intendiert nichts anderes, als die Universität zu einem nach ökonomischen Kalkülen operierenden Wirtschaftsunternehmen umzugestalten. Zu einem Unternehmen, in dem Forschung und Lehre auf den Status von Waren degradiert sind, die kostengünstig produziert und teuer verkauft werden, in dem Forschung an ökonomischer Verwertbarkeit orientiert ist – was sich am besten daran beweist, dass es gelingt, für sie Drittmittel einzuwerben – und in dem die Qualität der Lehre an einem möglichst kostengünstig produzierten und im internationalen Ranking möglichst gut gereihten Absolventenoutput gemessen wird.
Selbstverständlich ist auch das Institut für Bildungswissenschaften von den skizzierten Umgestaltungstendenzen massiv betroffen. Und – kraft ihrer fachlichen Kompetenz – ist den dort Tätigen natürlich auch klar, dass der Umbau der Universität zu einem Humankapitalproduktionsbetrieb im Sinne pädagogischer Leitbegriffe massiv zu hinterfragen ist. Und tatsächlich passiert das ja auch vielfach: Da gibt es beispielsweise einen Text des schon vorher erwähnten deutschen Erziehungswissenschafters Jörg Ruhloff, in dem dieser sehr pointiert den aktuellen Umbau der Universität zu einem Wirtschaftsbetrieb als Todsünde an der Idee der Bildung geißelt. Dieser Text wurde von einer ganzen Reihe von Erziehungswissenschaftern des deutschen Sprachraums positiv rezipiert und auch ein großer Teil der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Wiener bildungswissenschaftlichen Instituts steht begeistert hinter der Kritik Ruhloffs. Das geht soweit, dass der Text sogar manchmal in Lehrveranstaltungen verwendet wird, um den Studierenden aufzuzeigen, wie sehr doch der aktuelle Universitätsumbau die Bedingungen der Möglichkeit von Bildung konterkariert.
Aber sonst – nichts! Es ist keineswegs so, dass die wissenschaftlichen Pädagoginnen und Pädagogen verbissen Widerstand gegen den aktuellen Umbau ihrer Bedingungen des Forschens und Lehrens leisten. Und sie werden auch nicht permanent vorstellig bei den politischen Entscheidungsträgern, organisieren Protestkundgebungen oder versuchen sonst irgendwie Verbündete für ihren Kampf gegen den Niedergang ihrer pädagogisch gebotenen Möglichkeiten zu finden. Ganz im Gegenteil: In den diversen Kommissionen, in denen z. B. der Umbau des Studiums mit Hilfe eines Studienplans vorangetrieben wird, der weitgehend verschulte, nach ökonomistischen Kriterien gestaltete Strukturen schafft, wird nicht einmal ernsthaft über die pädagogische Fragwürdigkeit dessen diskutiert, was da aktuell passiert. Man hat sich abgefunden und exekutiert die Vorgaben der Universitätsleitung – weil es doch sowieso keinen Sinn macht, gegen die Auswirkungen eines Zeitgeists anzukämpfen, der sich ja auch sonst in allen Bereichen der Gesellschaft zeigt. Die Ideale Mündigkeit und Emanzipation werden nichtsdestotrotz selbstverständlich weiter hochgehalten.
Es ist ja nicht so, dass die wissenschaftlichen Pädagoginnen und Pädagogen die aktuell herrschenden, entfremdenden gesellschaftlichen Mechanismen nicht registrieren. Erst kürzlich ist von Mitarbeitern des Wiener Instituts für Bildungswissenschaft ein „Pädagogisches Glossar der Gegenwart“ erschienen, in dem eine ganze Reihe von Bildungswissenschaftern und Bildungswissenschafterinnen beklagt, dass es um die Sache der Bildung derzeit nicht gut steht. Anhand der unterschiedlichsten, die Diskussion um Bildungsfragen aktuell dominierenden Zauberbegriffen wie z. B. Autonomie, Employability, Humankapital, Modularisierung, Lebenslanges Lernen oder Qualitätsmanagement wird aufgezeigt, dass es heute kaum je darum geht, Menschen im Bildungswesen zu Mündigkeit zu verhelfen. Derartige kritische Analysen, von denen es eine durchaus erkleckliche Zahl gibt – zu nennen wäre da insbesondere noch ein kürzlich vom Wiener Philosophen Liessmann herausgegebenes Buch mit dem Titel „Theorie der Unbildung“ -, sind durchaus nachvollziehbar. Sie leiden bloß an zwei gravierenden Mängeln: Sie verklären zum einen implizit die Vergangenheit und weigern sich zum anderen standhaft, Schritte in eine bessere Zukunft aufzuzeigen.
Einerseits wird bei diesen Analysen in typisch kulturpessimistischer Manier so getan, als ob es seit Bestehen der bürgerlichen Pädagogik schon wesentlich bessere Zeiten für die Sache der Bildung mit ihren Zielparametern Mündigkeit und Emanzipation gegeben hätte. Als ob erst das fortschreitende Zutage-Treten der neoliberalen Ökonomie die Ursache dafür wäre, dass die Prämissen der Bildung nachhaltig untergraben wurden, früher aber tatsächlich die Förderung des mündigen Individuums stattgefunden hätte – in den vorgeblichen „guten, alten Zeiten“, als die Autorität der Lehrer noch etwas gegolten hat, die Universitäten noch wirkliche Bildungsstätten und nicht Massenbetriebe waren und – vor allem – das unschöne Kosten-Nutzen-Kalkül angeblich noch nicht auf Bildungsprozesse angewandt wurde. Als ob damals massenhaft emanzipierte, kritische und selbstbewusste Menschen die Schulen und Universitäten verlassen hätten. Letztendlich bewegt sich die Kritik, die in derartigen Analysen transportiert wird, auf dem Niveau einer rückwärtsgewandten Utopie, in der alte Zeiten idealisiert werden, bei deren genauerer Betrachtung allerdings unschwer erkennbar ist, dass sie im Sinne pädagogischer Zielvorstellungen zwar anders, aber um kein Jota besser waren als die heutigen.
Andererseits bewegen sich derartige Stellungnahmen letztendlich auch stets in einem argumentativen Zirkelschluss: Da wird auf der einen Seite moniert, dass Mündigkeit im Erziehungs- und Bildungsbereich deshalb nicht wirklich gefördert werden kann, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die von Ungleichheit, Machtstrukturen und den unterschiedlichsten Formen von Abhängigkeit und Herrschaft gekennzeichnet sind, dies nicht zulassen. Und auf der anderen Seite kann eine Veränderung der unzulänglichen gesellschaftlichen Bedingungen von den betroffenen Menschen nicht angegangen werden, weil durch die gegebenen gesellschaftlichen Strukturen systematisch ihre Mündigkeit untergraben wird. Im Sinne der Erkenntnis, dass Erziehung zum einen stets Ursache und zum anderen auch Wirkung ist – also immer gleichzeitig Bedingung und Bedingtes -, bleibt die Kritik in einem hermetischen Argumentationszirkel gefangen, der letztendlich eher zur Perpetuierung denn zur Überwindung der beklagten Zustände beiträgt.
Das Aufsprengen genau dieses Zirkelschlusses war im Grunde genommen das Ziel der kritisch-emanzipatorischen Pädagogik der späten 60er Jahre. Sie setzte sich von der bürgerlichen Pädagogik in erster Linie dadurch ab, dass sie das von dieser vorausgesetzte Postulat einer pädagogischen Autonomie radikal in Frage stellte. Es wurde die Vorstellung über Bord geworfen, Erziehung und organisiertes Lernen könnten umstandslos zu einer Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. Da die Entwicklung pädagogischer Theorien und pädagogisches Handeln in den aktuell gegebenen politisch-ökonomischen Kontext eingebunden sind, gleicht jeder Versuch, aus dem Binnenraum der Pädagogik Postulate für eine Praxis im Dienste menschlicher Emanzipation und Mündigkeit zu entwickeln, der Bemühung, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Bevor Pädagogen und Pädagoginnen emanzipatorische Schritte anleiten können, müssen sie sich erst selbst über ihre Instrumentalisierung als Vehikel der Reproduktion defizitärer gesellschaftlicher Verhältnisse bewusst werden, d. h. sie müssen sich erst einmal selbst emanzipieren.
Kritisch-emanzipatorische Pädagogik kann als der Versuch umschrieben werden, sich von der Ebene des Lamentierens über Oberflächenphänomene des bürgerlichen Erziehungs- und Bildungsgeschehens zu verabschieden und den kritischen Blick auf die dahinter wirksame Grundprämisse der bürgerlichen Gesellschaft – die Verwertungslogik des Marktes – zu richten. Damit wird es auch obsolet, das permanente Misslingen des Anspruchs, Menschen zu Mündigkeit und Emanzipation zu befähigen, durch noch avanciertere Maßnahmen innerhalb dieser Rahmenbedingung lösen zu wollen bzw. die auf der Verwertung von allem und jedem beruhende bürgerliche Ordnung durch eine Prise sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Bildungswesen konterkarieren zu wollen. Ein Transzendieren bürgerlicher Denkstrukturen kann nicht in der Sphäre einer Pädagogik geschehen, die ja selbst tragendes Element der bürgerlichen Ordnung ist und die deren Grenzen nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe überschreiten könnte.
Nimmt man diesen Ansatz ernst, relativiert sich allerdings auch die aufgeregte Klage über die derzeit vorgeblich stattfindende Ökonomisierung der Bildung. Zwar ist es tatsächlich so, dass heute allerorten verstärkt bildungsökonomisch argumentiert wird, dass ganz offen gesagt wird, dass sich die Investitionen im Bildungswesen in Form verwertbaren Humankapitals rentieren müssen und dass Bildungseinrichtungen genauso betriebswirtschaftlich optimiert werden können – und auch sollen – wie Betriebe, in denen für den Markt Kühlschränke, Schuhe oder Langstreckenraketen erzeugt werden. Und tatsächlich lässt sich heute ja nicht nur eine Tendenz zur Verbetriebswirtschaftlichung aller organisierten Bildung konstatieren, der Trend geht noch viel weiter, nämlich dahin, die Arbeitskräfteaufzuchtanstalten aller Ebenen überhaupt gleich von privaten Unternehmern führen zu lassen. Seit es state of the art ist, dass das Qualifikationsniveau des nationalen Arbeitskräftepotentials einen wesentlichen Einfluss auf die Chance von Ländern und Regionen hat, im internationalen Konkurrenzkampf gut abzuschneiden, ist Bildung zum zentralen Argument der Wettbewerbsstrategen verschiedenster Couleur geworden.
Aber eine großartige Neuigkeit ist die Verschränkung von Ökonomie und Pädagogik trotzdem nicht. Im Grunde genommen wird mit der derzeitigen Entwicklung bloß kenntlich, was von allem Anfang gegolten hat – Mündigkeit und Autonomie bedeuten in der bürgerlichen Pädagogik letztendlich nie etwas anderes, als sich innerhalb der Marktgesellschaft souverän verhalten zu können. Und mit Emanzipation war stets bloß politische Emanzipation gemeint, von der Marx einmal geschrieben hat, dass sie nichts anderes ist, als „die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person“. (Marx, K. : Zur Judenfrage. In ders. : Die Frühschriften. Hg. von S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 199) Politische Emanzipation zielt auf bürgerliche Freiheit, und die erschöpft sich im Wesentlichen in der Handelsfreiheit. Sie vereinzelt Individuen und macht sie zu Konkurrenten, die sich bestenfalls noch dafür zusammenschließen, um einen Wettbewerbsvorteil gegen andere Humankapitalgruppen zu haben.
Die Unterordnung der Bildung unter die Ökonomie beginnt nicht erst mit der Verbetriebswirtschaftlichung des Bildungswesens und auch nicht erst damit, dass nun auch der Bildungsbereich verstärkt der Kapitalverwertung zugänglich gemacht wird. Bildung ist eine Ware, seitdem der Besuch von Schulen und Universitäten zum Aufstiegsvehikel im Kampf um vorteilhafte gesellschaftliche Positionen geworden ist. Dass Bildungseinrichtungen zunehmend wie Kaufhäuser organisiert sind, wo Lehrende ihre Waren feilbieten und das Bildungswesen insgesamt immer mehr einer einzigen Kadettenanstalt zur Aufzucht von Arbeitskräften gleicht, ist bloß die logische Konsequenz der Vorstellung von der gerechtfertigten Besserstellung der so genannten Tüchtigen in der Gesellschaft. Der Wert von Menschen bestimmt sich in der bürgerlichen Gesellschaft anhand ökonomischer Dimensionen – mehr wert ist, wer besser verwertbar ist. Und die Verwertbarkeit von Menschen wird – zumindest dem Anspruch nach – im Bildungswesen geklärt, was letztendlich allerdings nichts anderes bedeutet, als dass Bildung und Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft in eins zusammenfallen!
Wenn in Bildungseinrichtungen bis jetzt der raue Wind des Marktes nicht ganz so intensiv zu spüren war, hängt das nicht damit zusammen, dass der Bildungsbereich bis jetzt losgelöst von der ökonomischen Sphäre funktioniert hätte, sondern damit, dass im Zuge der Intensivierung des allgemeinen Konkurrenzkampfes die ökonomische Generalmobilmachung nun eben auch diesen Bereich eingeholt hat. Und wenn Bildung heute kaum je mehr als Vorbereitung „auf das Leben“, sondern nahezu ausschließlich als Vorbereitung „auf das Leben als Arbeitskraft“ wahrgenommen wird, hängt das eben damit zusammen, dass es heute generell kaum mehr einen Aspekt des Lebens gibt, der nicht der Ökonomie untergeordnet ist.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Trotzdem die Pädagogik immer einen ganz verliebten Blick bekommt, wenn sie von der Emanzipation schwärmt, bestand zwischen ihr und der bürgerlichen Ökonomie immer schon eine unauflösliche Zweckverbindung. Seit sie zu einer eigenständigen Disziplin herangewachsen ist, ist die Pädagogik mit der Ökonomie fix verheiratet. Von der menschlichen Emanzipation hat die Pädagogik immer nur romantisch geschwärmt, ohne sich jemals auch nur ansatzweise damit auseinander zu setzen, welche Konsequenzen eine ernsthafte Beziehung mit ihr wirklich haben würde.
Ich bin damit am Ende meiner Ausführungen angelangt. Eine ziemlich schwierige Aufgabe habe ich allerdings noch zu bewältigen: Eine Kollegin, die in derselben Abteilung wie ich an der Uni arbeitet und meine Art zu argumentieren dementsprechend gut kennt, hat mich nämlich dringend gebeten, mein Referat mit einem positiven Ausblick zu beenden.
Und Sie können mir glauben – es hat mich ziemlich viel Zeit gekostet, eine solche positive Abschlusswendung zu finden. Aber schlussendlich ist mir eingefallen, dass es ja genau solche Veranstaltungen wie diese sind, die uns Mut machen können, an die Möglichkeit wirklicher und systemtranszendierender Veränderung zu glauben. Wie schon gesagt, besteht mit dem schulheft seit 30 Jahren ein Forum, in dem genau derartige, quer zum pädagogischen Mainstream stehende Überlegungen Platz finden. Und es gibt keineswegs einen Mangel an Autoren und Autorinnen, die bereit sind, sich aus thematisch sehr unterschiedlichen Richtungen mit dem Spannungsverhältnis von Pädagogik und politisch-ökonomischen Verhältnissen zu beschäftigen. Eine große und durchaus nicht stagnierende Zahl an Menschen, die das auch lesen wollen, gibt es ebenfalls – und das ist doch Grund genug, um positiv in die Zukunft zu blicken!
Und noch eine positive Botschaft für alle, die das schulheft noch nicht so gut kennen – es sind nicht alle Artikel so radikal wie das, was ich Ihnen heute vorgetragen habe.
* Vortrag bei der Tagung 30 Jahre schulheft: Markt – Macht – Bildung, am 24. Februar 2007 in der AK-Wien.