Zeit wird’s
Streifzüge 40/2007
KOLUMNE Dead Men Working
von Andreas Exner
Wie alltäglich diese Klage ist: zuwenig Geld zu haben oder zuwenig Arbeit. Als könnte eins von Geld abbeißen und von Arbeit leben. Das ist schon eigenartig. Immerhin, am Geld- und Arbeitsbedürfnis ist noch deutlich sichtbar, dass beides erst von dieser bestimmten Form von Gesellschaft in die Welt gesetzt wird.
Das Geld erkennen wir verhältnismäßig leicht als ein gesellschaftliches Ding. Gesellschaften, die Geld nicht kennen – und solche kennen wir – kennen ein monetäres Bedürfnis nicht. Auch die Arbeit verliert rasch jeden Anstrich einer natürlichen Notwendigkeit, relativieren wir sie am konkreten Kreis von Tätigkeiten, die im abstrakten Monotypus Arbeit nie und nimmer aufgehen. Um den Tiefenprägungen des Kapitals auf die Spur zu kommen, müssen wir dagegen längere Wege auf uns nehmen. Eine dieser Prägungen zeigt sich an einer Klage, ebenso alltäglich wie jene, über zuwenig Geld oder keine Arbeit zu verfügen, nämlich: zu wenig Zeit zu haben, unter Zeitdruck zu stehen. Wie kann die Zeit uns unter Druck setzen, wie kommt es, dass wir davon zuwenig haben? Wie überhaupt können wir Zeit eigentlich haben? Dieser Frage nachzugehen, das ist so diffizil wie zentral: Was macht das Kapital mit der Zeit? Oder anders: Was machen wir mit unserer Zeit, während wir das Kapital produzieren?
Einer Antwort darauf widmet sich „Blauer Montag“. Dieses Büchlein, vor kurzem in der Edition Nautilus im Hamburger Verlag Lutz Schulenburg erschienen, veröffentlicht in einer von Lars Stubbe überarbeiteten Übersetzung die klassische Studie von Edward P. Thompson mit dem Titel „Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus“. Einen Einstieg wie auch einen Kommentar dazu bietet ein Essay von John Holloway. Mit seinem Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ hat Holloway wichtige Impulse in eine Suche eingebracht, die auch Streifzüge wie die unseren motiviert. Für Holloway im Zentrum steht die Frage, wie wir Kapital und Staat überwinden können. In seinem Denken, seinem Schreiben reflektieren sich dabei zwei historische Erfahrungen. Erstens das Ergebnis der revolutionären Bewegungen alter Machart, die, wie Holloway herausstellt, die Formen des Kapitals nicht überwanden, diese auch gar nicht überwinden konnten, weil sie den Gegner mit seinen eigenen Waffen schlagen wollten. Anstatt die Kommandohöhen zu demontieren, ging es jenen Bewegungen darum, diese zu erobern. Der Staat erschien als ein Mittel der Befreiung. Ein Missverständnis, das der Sowjetstaat verkörperte. Zweitens sind in John Holloways Texten die Erfahrungen der zapatistischen Bewegung präsent, die viele dazu inspirierten, Befreiung nicht in staatlichen Formen und auf ihrem Terrain zu denken und zu suchen.
Unser Verhältnis zum Staat (der eines unserer Verhältnisse im Kapitalismus ist) ist nur ein Beispiel. Auch die Zeit ist eine Beziehungsdimension des Kapitalismus. Wie verhalten wir uns zur Zeit, zu unserem Sein im Kapitalismus? Welche Zeit ist das? Gleich zu Beginn gibt John Holloway die Richtung an, in der er eine Antwort sieht: „Thompson erzählt uns von dem Sieg der abstrakten Uhrzeit über die gelebte Zeit“. Die Zeit, nach der wir im Kapitalismus leben, die Zeit, in der wir also uns und die Welt erleben, ist abstrakt, inhaltslos, reine Form. Wir stellen sie uns vor als unabhängig von konkretem Wandel, von erlebter Dauer. Als einen leeren Zeitpfeil, den die Uhr in homogene, austauschbare Einheiten mess- und vergleichbar unterteilt. Dieser Sieg der abstrakten Uhr-Zeit war kein Automatismus – „Er ist das Ergebnis eines Kampfes, der Jahrhunderte andauert. Schließlich akzeptierten die Arbeiter jedoch die Zeit des Kapitals“. Folgenschwer ist das Resultat. Was bedeutet es für uns, die wir Kapital und Staat überwinden wollen, fragt Holloway.
Allem voran bedeutet es, so meint er, dass jeder Kampf um die Zeit, eine Auseinandersetzung etwa, die sich darum dreht, die Länge des Arbeitstages zu verkürzen, ein Kampf auf dem Terrain des Gegners ist. Holloway stimmt hier einer zentralen These Thompsons zu. So „ist ein Kampf um die Zeit, der nicht gleichzeitig auch ein Kampf gegen die Zeit ist, bereits verloren, denn obgleich er das Kräfteverhältnis zwischen der Arbeit und seinem Zwilling, der Muße, verändern mag, trägt er überhaupt nichts zur Schaffung von Freiheit, zur Schwächung der Abstraktion, die unser Leben der Bedeutung und der Menschlichkeit beraubt, bei“. Holloway hält an dieser Stelle etwas Wichtiges fest: „Der Kampf des Kapitals um die Durchsetzung seiner Herrschaft dreht sich vor allem darum, uns in einen Kampf nach seinen Vorgaben zu verwickeln.“ Daraus lässt sich folgern: Wir müssen danach trachten, das Terrain des Gegners zu verlassen. Die Kapitalherrschaft ist nicht mit größeren Herrschaftsmitteln zu besiegen; „besiegen“ lässt sich das Kapital im Grunde überhaupt nicht.
Wie aber können wir gegen die Zeit kämpfen? Erklären wir die Zeit zu einer Angelegenheit von Naturgesetzen, so ergibt diese Frage offensichtlich keinen Sinn. Doch wie die Arbeit ist auch die Zeit unserer Gesellschaft ein Spezifikum, das nicht in allen Gesellschaften existiert. Das zu zeigen ist das große Verdienst von Thompsons Studie, die uns darin Einblick verschafft, wie das Kapital seine Zeit der Gesellschaft einprägte. Ein Text übrigens – hier erging es mir wie John Holloway -, den zu lesen einfach Freude macht.
Für Holloway ist Thompsons Studie ein Ausgangspunkt dafür, zu überlegen, wie es gelingen kann, die Zeit des Kapitals zu beenden. Holloway spricht von einem „Kampf um den Bruch mit der Zeit, um das Untergraben der Zeit, um die Schaffung von Rissen in der Uhr-Zeit“ und spürt jener „Zeit ohne Namen“ nach, die der Uhr-Zeit entgegensteht. Er erkennt an ihr fünf Momente. Sie sollten wir beachten, meint Holloway, um Folgendes, mehr als bisher, zu tun: die Dauerhaftigkeit angreifen; den Moment öffnen; Momente des Überschusses schaffen; uns selbst die Zeit für die geduldige Erschaffung gesellschaftlicher Verhältnisse geben; die Tagesordnung bestimmen.
„Blauer Montag“ kann ich ans Herz legen. Dieses Buch ist wichtig. Es zeigt, dass wir über Zeit nicht nachdenken können, ohne über uns selbst nachzudenken. Wirklich über uns selbst nachdenken aber heißt – ich sage es in Worten von John Holloway -, darüber nachzudenken, wie wir aufhören können den Kapitalismus zu produzieren.
John Holloway / Edward P. Thompson: Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin. Aus dem Englischen übersetzt von Lars Stubbe; Edition Nautilus im Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 2007, 92 Seiten, ca. 11 Euro.