Wahl oder Los?
Zu Bernard Manins „Kritik der repräsentativen Demokratie“
Streifzüge 40/2007
von Franz Schandl
Vorerst ist man hin- und hergerissen. Es ist nicht unspannend zu lesen, was Bernard Manin, über das Losverfahren, das die attische Demokratie dominierte und auch in den Stadtstaaten Italiens eine bedeutende Rolle spielte, so alles zusammengetragen hat. Das Los verhindere Aristokratisierung, weil es „egalitärer sei als die Wahl“ (S. 96), schreibt er. Jenes verteile die Chancen, gewählt zu werden proportional, die Wahl hingegen ungleich, so die in sich logische, aber doch verblüffende Argumentation. Das Wahlprinzip bevorzuge die Gewählten gegenüber den Wählern. Sowohl Montesquieu als auch Rousseau hingen übrigens ähnlichen Vorstellungen an. In dieser Tradition dürfte sich Manin, der politische Philosophie in New York und Paris lehrt, auch verorten.
Nicht selten hat man aber das Gefühl, dass bei Manin gerade aufgrund seines retrospektiven Forschungseifers die aktuellen Entwicklungen zu wenig Beachtung finden. Die Interpretation des Lossystems mag durchaus von Interesse sein, aber was sagt es uns heute? Ist der Vergleich nicht doch etwas zu weit hergeholt? Gibt er soviel her, dass man gleich ein Drittel des Buches damit voll schreiben muss? Ist nicht ein Demokratie-Begriff, der vom klassischen Athen bis zur aktuellen Mediendemokratie alles mit einer Kategorie belegt, fragwürdig? Wenngleich es stellenweise erfrischend und anregend ist, anstatt eines abgeklärten, zynischen Realismus einen demokratischen Idealismus präsentiert zu bekommen, so ist das Dargebotene oft dürftig. Demokratie nimmt Manin ernster als Demokraten das gemeinhin tun. Manchmal wirkt er wie ein wissenschaftlicher Sonntagsredner.
Die eherne Verbindung von Wahl und Demokratie ist neueren Datums. Die Begründer der modernen repräsentativen Demokratie verabschiedeten sich allerdings recht schnell vom Los. Im 19. und 20. Jahrhundert setzte sich das allgemeine und gleiche Wahlrecht durch. Manin zeichnet einen Weg von einer Parlamentarismus genannten Honoratiorendemokratie über eine Parteiendemokratie hin zur Publikumsdemokratie. Alle diese Typen sind ihm eine „Regierungsform der Eliten“ (S. 316).
Wählen bedeutet Auswählen, den Wählern muss daher ein Motiv geboten werden für diese und nicht für jene Liste oder Person ihre Stimme abzugeben. Zweifelsfrei. Allzuoft verliert der Philosoph sich jedoch in Plattheiten: „Ein durchschnittlicher Kandidat wird kaum auffallen und nur geringe Chancen haben. Und einen Kandidaten, der aufgrund seiner ungewöhnlich negativen Eigenschaften auffällt, wird man ablehnen.“ (S. 197) Ist dem so? Demonstriert nicht der Aufstieg der politischen Anmache, insbesondere der Populismus anderes? Hier wäre doch ein feineres Sensorium vonnöten. Zur aktuellen Demagogie und ihrer Verwandtschaft mit der Werbung findet sich keine Zeile. Manins Demokratieverständnis ist formalistisch. Vor lauter Verfahrenskunde bleiben inhaltliche Bestimmungen auf der Strecke.
Ist die jederzeitige Abberufbarkeit wirklich ein praktikables System, das nur technisch gelöst werden müsste? (S. 228) Man stelle sich bloß vor, welchen Aufwand und welche Ermüdung dessen Realisierung zur Folge hätte. Wie könnte überhaupt diese Anbindung an die Wähler zwischen den Wahlen funktionstüchtig gemacht werden? Erhöhen solche Ansprüche die Partizipation oder nerven sie das Publikum? Auf jeden Fall korrespondiert die Strapazierung des Souveräns mit direktdemokratischen Modellen meistens mit rückläufiger Anteilnahme.
Zum freien Mandat schreibt der Autor: „Dagegen ist die Unabhängigkeit der Abgeordneten offensichtlich ein nicht-demokratisches Merkmal von Repräsentativsystemen.“ (S. 233) Das stimmt schon und wäre eigentlich ein starkes Argument für ein imperatives Mandat. Indes, wer gibt es vor? Wer ist die Basis, die es ausstellt? Noch dazu ist kein freies Mandat wirklich frei, vom Klubzwang über den Lobbyismus bis zum gekauften Abgeordneten gibt es da viele Möglichkeiten, jenes auf kaltem Weg auszuhebeln. Auch darüber lesen wir bei Manin so gut wie nichts. Ebenfalls nichts zu den informellen Spielregeln, die das formelle Procedere ermöglichen und ergänzen, aber gelegentlich schwer konterkarieren. Nichts auch zur Politikverdrossenheit, im Gegenteil: „Das Neue am heutigen Wechselwähler ist , dass er gut informiert, politisch interessiert und gut ausgebildet ist.“ (S. 315) Geradezu hanebüchen auch die Analyse der Meinungsumfragen (S. 313f. ).
Dass Parteien ihren Einfluss auf den Wahlkampf nicht verloren haben (S. 334), kann ernshaft bezweifelt werden. Moderne Wahlkampagnen werden nicht bloß ausgelagert, sondern sind Agenturen übereignet. Die Parteiapparate bilden nur noch Scharniere zwischen Werbung und Mobilisierung. Reklamefeldzüge dienen stets mehr einer Stimmungskonkurrenz, einem „democratic circus“, wie ihn die Talkings Heads („Naked“, 1988) einst besangen. „Das Wahlverhalten ist heutzutage überwiegend reaktiv.“ (S. 302) Im Wahlkampf geht es freilich nicht um den kontinuierlichen Absatz eines Produkts, sondern um die Terminisierung einer Momentaufnahme. Dieser Augenblick ist der Wahlakt. Die Motivationsarbeit läuft dabei primär in Richtung ungebundene Wähler (S. 337). Man will gewinnen, wen man noch nicht hat. Die schrumpfenden Kernbelegchaften braucht man zwar nicht unmittelbar zu bewerben, allerdings darf man sie auch keineswegs vergrätzen. Denn dass Stammwähler immer wählen gehen, wie Manin behauptet (S. 339), ist nicht verifizierbar. Parteien müssen heute immens aufpassen, nicht von der eigenen Klientel durch Enthaltung abgestraft zu werden. Zu große Siegesgewissheit ist ebenfalls gefährlich. Die Angst, dass die Stammwähler aus verschiedenen Gründen zu Hause bleiben, ist realistisch.
Was sind eigentlich Kernwähler? Früher hätte man sie als Wähler eines Lagers oder über die Klassenzugehörigkeit definieren können. Doch gilt das noch? An einer Stelle spricht Manin von einer „affektiven Bindung“ (S. 338) der Kernwähler an die Parteien. Aber wird hier nicht eine hehre Selbsteinschätzung mit der Wirklichkeit verwechselt? Möglicherweise waren die Wähler weniger affektiv an die Partei als effektiv an die Parteiapparate gebunden. Zur Differenzierung: Affektiv meint, sie halten was davon; effektiv meint, sie haben was davon. Freilich überschneiden und bedingen sich diese Aspekte auch, doch die Frage, welcher dominiert, ist schon von Interesse. Warum eigentlich (gerade in Österreich) niemand auf den banalen wie naheliegenden Gedanken kommt, dass die Parteien auch deshalb an Einfluss verlieren, weil sie Wohnungen oder Jobs nicht mehr freihändig vergeben können? Also nicht weil sie Protektion betreiben, sondern weil die Protektion aus verschiedenen Gründen zunehmend versagt.
Abschließend stellt sich die Frage, ob der Titel des Buchs nicht falsch gewählt ist. Man erwartet jedenfalls eine Kritik der Mechanismen der westlichen Demokratien, stattdessen wird eine Geschichte der Auswahlverfahren seit der Antike aufgerollt. Es ist eine Geschichtsschreibung, die Geschichte weitgehend außen vor lässt. Sie skizziert politischen Setzungen, ohne zu sagen, was da sonst noch gewesen ist. Nicht einmal der Anschein der Notwendigkeit einer analytischen Einbettung wird erweckt. Demokratie wird anhand ihrer Modi dargelegt. Doch daran erschöpft sie sich keineswegs. Positiv zu vermerken bleibt, dass der Band ohne große Vorkenntnisse zu lesen ist und man nachher um einiges mehr weiß als vorher.
Bernard Manin
Kritik der repräsentativen Demokratie
Aus dem Englischen von Tatjana Pletzer
350 S, geb. , € 34,90 (Matthes & Seitz, Berlin)