Hypothesen zu Sex und Kunst
Referatsunterlage zur gleichnamigen Veranstaltung am 13. November 2007 des Aktionsradius Augarten
von Franz Schandl
1) Die Doppelthese lautet: noch nie war eine Gesellschaft so geil wie diese, aber auch: noch nie war eine Gesellschaft so unbefriedigt wie diese. Dies hängt unmittelbar zusammen. Aufgabe der Kulturindustrie (und ihr Prototyp ist die Kunst oder besser kommerzialisierte Kunst) will auch gar nicht befriedigen, sondern sie will geil halten. Sie baut auf diesem Widerspruch („Dekorrespondenz“) auf.
2) Sexualität hat nicht mehr die Zeit, die sie haben muss, aufgrund der gesellschaftlichen Dimensionierung des Alltags: Arbeit, Haushalt und sonstige Verpflichtungen verfügen über unser Leben. Wir schlafen weniger, wir lieben weniger, wir vögeln weniger. Selbst wenn wir möchten, haben wir vielfach keine Möglichkeit, das anzustellen, was wir wollen. Wird sie aber auf Dauer unterbrochen oder unterbunden, verfällt auch die Sexualität. Die Gesellschaft des Komparativs führt zur Minderung elementare Qualitäten und Bedürfnisse.
3) Was wir permanent serviert bekommen, ist das kommerzielle Surrogat: von der Prostitution über Bettgeschichten der Yellow-Press, von der Oper bis hin zur gehobenen Literatur. Ohne Sex läuft nix. Ein Produkt, eine Person ohne Sexappeal, das soll es gar nicht erst geben. Das hat keinen Marktwert. Während die Frequenz sexueller Inszenierungen in der Kunst (wie in der gesamten industrialisierten Kultur, z. B. Werbung) steigt, sinkt sie im Leben. Sehnsüchte und Bedürfnisse finden aber dort ihren Ersatz.
4) Sex findet über Umwege statt, nicht in der Kommunikation zweier (oder auch mehrer Menschen) zueinander, sondern als einseitige Verfügung eines Warenbesitzers über das sexualisierte Produkt, ob Dessous oder Bücher oder Filme oder Internet. Da redet niemand zurück, da braucht man sich nicht anstrengen, da ist man ganz souverän in seiner Einsamkeit. Sexualität gestaltet sich ohne Beziehung, ist einseitiger Bezug, und somit reine Projektion, die selbstverständlich wieder kulturindustriellen Mustern folgt. Nicht die Produktionsmittel, sondern unsere Bedürfnisse sind vergesellschaftet.
5) Je mehr sich Sex in Projektionen (z. B. Internet) verdinglicht, desto mehr entkörperlicht und singularisiert er sich. Die Grundtendenz ist die tatsächliche Entsinnlichung des Sexuellen durch optische Optimierung der Geilheit. Was gegeben und gefördert wird, ist Permanenz und Kontinuität des Peeping. Ob wir wollen oder nicht, wir peepen.
6) Mein Standpunkt kann freilich nicht sein: Tu nur keine Surrogate nehmen, nein, im Gegenteil, ich glaube, dass das bürgerliche Subjekt, vor allem sein Prototyp, der weiße westliche Mann ohne diese gar nicht existieren kann. Gefordert ist allerdings, dass man sich dessen bewusst wird, wissen will, was da in einem vor- und abgeht, sich selbst also gerade nicht als unmittelbares Ich setzt.