Grenzerfahrung
Streifzüge 41/2007
von Hedwig Seyr
Ein Juni-Morgen, 9 Uhr 11, Ankunft des City-Shuttle Wien-Bratislava, der kürzesten Verbindung zwischen zwei EU-Hauptstädten. Ein paar österreichische PendlerInnen wie ich in Erwartung eines Arbeitstages, beträchtlich mehr slowakische PendlerInnen nach einer Nachtschicht in Wien und Umgebung und viele gut gelaunte, meist ältere Tagesausflügler steigen aus, gehen, ihre Pässe oder Personalausweise herzeigend, an den je zwei österreichischen und slowakischen Polizisten vorbei durch den Transitraum, alles wie immer.
Doch bei den Slowaken steht ein fünfter Polizist, glatzköpfig, dickbäuchig, breitbeinig, Hände über dem Gemächt, Waffe und Schlagstock am Gürtel, Blick starr geradeausMein Blick folgt dem seinen und fällt auf die gegenüberliegende, im Dämmer liegende Nische:
Da stehen zirka zehn Männer, Gesicht zur Wand, Rücken den Passanten zugewandt, Hände auf dem Gesäß, aufgefädelt nebeneinander.
Ich bleibe irritiert stehen. Was bedeutet das, frage ich den Polizisten. Der bleibt starr und stumm, zuckt nicht mit der Wimper. Andere Passanten schauen auch zu den aufgereihten Männern in der düstern Nische. Wer sind sie? Woher kommen sie? Warum müssen die dort so stehen?
Unschlüssig, was zu tun wäre, gehe ich weiter und höre dann einen Mann sagen:
„Die werden schon nicht umsonst so dastehen! “ So wie die dastehen, so macht man es mit Verbrechern, das weiß man ja aus dem Kino. Wahrscheinlich „Illegale“, Leute, die ohne Bewilligung über eine Grenze wollen, weil man drüben besser leben soll. Was ist das für ein Verbrechen? „Die sind doch arm, aber was soll man tun“, antwortet eine Frau auf die Bemerkung ihres Begleiters. Die kurze Irritation ist bereinigt. Und alle – so auch ich – eilen weiter, der Mantel unseres Alltags, des Vergessens breitet sich über die gespenstische Szene.