Feuer und Flamme für Demokratie und Freiheit
Thesen zum Fundamentalismus der „westlichen Werte“ in Zeiten ihres Zerfalls
Streifzüge 40/2007
von Norbert Trenkle
1.
Dem vorherrschenden Diskurs in den westlichen Metropolen sind Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit derzeit vom islamischen Fundamentalismus oder gar von „dem Islam“ bedroht. Demgegenüber wird eine Politik der Null-Toleranz propagiert. Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit, heißt es. Reine Selbstverteidigung soll das sein. Alles, was der Westen gegen die phantasierte „islamische Gefahr“ tut, geschehe aus reiner Notwehr. Freilich trägt dieser angebliche Anti-Fundamentalismus selbst alle Züge des Fundamentalismus, den er zu bekämpfen vorgibt. Wie jener so beruht auch dieser auf der paranoiden Konstruktion eines äußeren, existentiellen Feindes und wie jener spuckt er Gift und Galle gegen das Schreckgespenst eines inneren Abweichlertums: gegen den postmodernen und multikulturalistischen Relativismus, der die Grundlage der „westlichen Werte“ untergraben habe.
2.
Jeder Fundamentalismus beruht auf einem Konstrukt. Beschworen wird ein Fundament von angeblich vormals gesicherten kulturellen, religiösen oder gesellschaftlichen Werten, die in Vergessenheit geraten oder in ihrem Bestand bedroht sein sollen. Zurück zu den Wurzeln, ist das Motto. Geführt wird ein existentieller Kampf. Es geht um die Identität, um das Wesen einer Religion, einer Kultur, einer „Wertegemeinschaft“. Ein solcher Kampf muss mit aller Härte und Konsequenz geführt werden. Weichheit und Nachgiebigkeit kann man sich nicht erlauben. Einheit ist gefragt, die kollektive Identität ist wieder herzustellen und zu stählen. Die Welt zerfällt in Freund und Feind. Feind ist, wer als äußerer Angreifer identifiziert wird, ebenso wie einer, der als Ungläubiger und „Werterelativist“ die imaginierte Gemeinschaft von innen heraus zersetzt. Rücksicht ist beiden Fällen fehl am Platze.
3.
Die Verwandtschaft zwischen Islamisten und Vorkämpfern der „westlichen Werte“ ist kein Zufall, denn der Fundamentalismus ist der kapitalistischen Gesellschaft inhärent. Schon die geistesgeschichtliche Selbstbegründung der kapitalistischen Moderne trägt fundamentalistischen Charakter. Diese Ordnung, so hieß es, entspreche dem Naturzustand des Menschen. Spätere Philosophien fügten dem dann die Idee hinzu, die kapitalistische Gesellschaftsordnung sei Ausdruck der „vernünftigen Gesellschaft“ schlechthin, einer Gesellschaft also, die nach den Prinzipien „der menschlichen Vernunft“ konstruiert sei. Gemessen daran erscheint die gesamte bisherige Geschichte als Abweichung von diesem einzig richtigen Zustand. Das Rousseausche „Zurück zur Natur“ meint ja nicht ein romantisches „Zurück in die Wälder“, sondern ein „Zurück“ zu einer angeblich vorgängigen Ordnung, die nicht zufällig verdächtige Ähnlichkeiten mit der gerade erst entstehenden kapitalistischen Gesellschaft aufweist. Diese Konstruktion einer universell gültigen Grundlage verleiht der kapitalistischen Ordnung die Legitimation, sich die ganze Welt zu unterwerfen und nach ihrem Bilde zu formen. Nicht-kapitalistische Lebensweisen erscheinen als barbarisch und unzivilisiert und können – nein, müssen – daher aus Gründen der „Humanität“ zerstört und neu formatiert werden. Dass dabei zig Millionen von Menschen umgebracht und versklavt wurden, erschien als unvermeidbares Opfer vor dem ehernen Gang der Geschichte. So gesehen hat die Unterwerfung der gesamten Welt unter die Logik des Kapitals schon an sich fundamentalistischen Charakter.
4.
Zugleich hinterließ diese brutale Umwälzung aller Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens und die Schaffung einer ganz neuen, nur auf den abstrakten Formprinzipien der Warenproduktion gegründeten Gesellschaftlichkeit aber auch ein ungeheures Vakuum der Begründung. Dieses wurde sehr bald schon mit phantasmatischen Konstrukten von „Ursprünglichkeit“, „Eigentlichkeit“ und erfundenen kulturellen wie religiösen Traditionen gefüllt, die selbst fundamentalistischen Charakter trugen. Auch diese fundamentalistischen Strömungen sind nie ein Ausdruck vormoderner Denk- und Lebensweisen gewesen. Vielmehr sind sie Fleisch vom Fleische der warenproduzierenden Gesellschaft. So sehr sie sich auch in historisierende Gewänder kleiden mögen, so modern sind sie ihrem Wesen nach. In den letzten zwei Jahrhunderten steuerten diese Fundamentalismen ihren Anteil zum kapitalistischen Durchsetzungsprozess vor allem insofern bei, als sie den Stoff für die Formierung nationalstaatlicher Identitäten lieferten. Unter den Bedingungen gescheiterter kapitalistischer Modernisierung verwandeln sie sich jedoch in Antriebsmomente des nationalstaatlichen Zerfalls, des „molekularen Bürgerkriegs“ und der sozialen Desintegration.
5.
Das objektive Fundament der so genannten westlichen Werte ist die warengesellschaftliche Ordnung. „Westlich“ sind sie nur insofern, als der Kapitalismus eben in Europa entstanden ist und sich von dort aus über die gesamte Welt ausgebreitet hat. Im Kern sind sie der ideologische Ausdruck der kapitalistischen Grundprinzipien. Also solche standen sie aber nie für menschliche Befreiung, sondern hatten immer schon zutiefst herrschaftlichen Charakter. Die Freiheit des Individuums ist die „Freiheit“, sich überall und ständig verkaufen zu müssen, und die Demokratie ist das Verfahren, in dem die Marktsubjekte die Bedingungen dieses Geschäfts verwalten. Wenn innerhalb dieses „Gehäuses der Hörigkeit“ (Max Weber) in den kapitalistischen Kernregionen im letzten Jahrhundert gewisse individuelle Freiräume und Mechanismen sozialer Absicherung entstanden sind, dann spricht das nicht etwa für die „westlichen Werte“; vielmehr ist es das Resultat von langen sozialen Kämpfen gegen die Schwerkraft der kapitalistischen Prinzipien. Diese Kämpfe waren aber auch nur deshalb relativ erfolgreich, weil während der kapitalistischen Expansion im 20. Jahrhundert in den Metropolen relativ günstige Rahmenbedingungen – eine expandierende Ökonomie, eine privilegierte Weltmarktposition und relativ große Spielräume für eine staatlich-politische Regulation – gegeben waren.
6.
In der Aufstiegs- und Durchsetzungsepoche des Kapitalismus wurden die so genannten „westlichen Werte“ noch mit äußerstem Fortschrittsoptimismus durchgesetzt, mit dem guten Gewissen, eine „zivilisatorische Mission“ zu vollstrecken. Darin reflektierte sich der ungeheure Siegeszug der warenproduzierenden Gesellschaft über den gesamten Planeten. Umgekehrt verweisen die hysterischen und paranoiden Züge des gegenwärtigen westlichen Wertediskurses darauf, dass dieses System an seine eigenen absoluten Grenzen stößt, weil die unkontrollierbare Eigendynamik der Kapitalverwertung mit den sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen auch ihre eigenen Existenzbedingungen untergräbt. Je weiter diese Unterhöhlung der objektiven Fundamente der so genannten „westlichen Werte“ voranschreitet, umso lauter und schriller werden sie beschworen. Thematisiert wird nicht die Krise der objektiven Geltungsbedingungen dieser „Werte“, vielmehr werden sie zum Bezugspunkt für die Konstruktion einer kulturalistischen Kollektividentität „des Westens“. Diese Tendenz wird umso stärker, je mehr auch in den kapitalistischen Metropolen selbst die soziale Marginalisierung zunimmt, der Sozialstaat untergraben wird und die Spielräume politischer Regulation schrumpfen. Während so zum einen das Bedürfnis nach subjektiver Rückversicherung befriedigt werden kann, wird zum anderen mit der zunehmenden sozialen Disziplinierung und Kontrolle der repressive Kern der „westlichen Werte“ wieder deutlich sichtbar. Zugleich kann in ihrem Namen auch das mörderische Grenzregime der kapitalistischen Kernländer gegen die Immigranten aus den ärmeren Weltregionen als Schutz vor den „neuen Barbaren“ legitimiert werden.
7.
Das fundamentalistische Geltendmachen der „westlichen Werte“ ist aber nicht nur Reflex und Reaktion auf den kapitalistischen Krisenprozess, sondern selber ein dynamisches Moment davon. Werden Abstraktionen gegen die Wirklichkeit geltend gemacht, ist das immer ein Akt der Gewalt. In der Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus war die Durchsetzung seiner gesellschaftlichen Formprinzipien mit der Zerstörung nicht-kapitalistischer Lebensweise verbunden und bereitete so den Boden für die allgemeine Durchsetzung von Warenproduktion, Kapitalverwertung und Nationalstaat. Wo aber die Grundlagen der Warengesellschaft zerbrechen, führt der Versuch, ihre Formprinzipien gewaltsam aufrechtzuerhalten, letztlich zu einer Beschleunigung des Zerfalls. Als Paradebeispiel hierfür kann die militärische Intervention im Irak gelten, die nicht wegen irgendwelcher Interessen an den Erdölquellen stattfand, sondern weil die Fundamentalisten in Washington und anderen westlichen Hauptstädten tatsächlich von der Idee beseelt waren, auf diese Weise freedom and democracy in der Region zu installieren. Es ist gerade diese durch und durch ideologische Fixierung, die sie blind für die ganz offensichtliche Einsicht machte, dass sie dieses Ziel nicht nur zwingend verfehlen, sondern die katastrophische Lage nur noch verschlimmern würden, wie es die nüchternen Strategen aus der CIA und dem Militärapparat von Anfang an vorausgesagt hatten. Was bleibt, ist ein im Bürgerkrieg versinkendes Land, in dem die Grundlagen der Staatlichkeit täglich weiter zerstört werden, während gleichzeitig der islamische Fundamentalismus, der selbst schon ein Produkt gescheiterter Nationalstaatsbildung ist, weiter Auftrieb bekommen hat.
8.
In den kapitalistischen Metropolen werden die sozialen Errungenschaften und bürgerlichen Freiheiten meist ganz unmittelbar mit den „westlichen Werten“ identifiziert. Diese Sichtweise verdankt sich einer Verwechslung. Die (bisherige) relative Zivilität der Lebensverhältnisse in den kapitalistischen Kernländern ist letztlich nur auf deren überlegene Stellung im kapitalistischen Weltsystem zurückzuführen. Zu verteidigen und zu verallgemeinern sind also nicht die „westlichen Werte“, sondern bestimmte soziale und zivilisatorische Errungenschaften, die gegen die Schwerkraft der kapitalistischen Verwertung hart erkämpft wurden. Unter den Bedingungen der Krise ist aber selbst die Verteidigung dieser (ohnehin sehr begrenzten) Errungenschaften nur noch in einer antikapitalistischen Perspektive möglich. Dazu gehört auch eine radikale Kritik der „westlichen Werte“, aber nicht unter Berufung auf eine andere (religiöse oder ethnizistische) fundamentalistische Konstruktion angeblich „ursprünglicher Werte“, sondern im Namen der Befreiung von Herrschaft, Zwang und Gewalt.