Existenz und Terror
Vorschlag, den Terrorismus nicht mit seinen Begründungen gleichzusetzen
Streifzüge 39/2007
von Peter Klein
Motivation und Begründung
Wenn man das kausale Denken, das dem bürgerlichen Menschen zur zweiten Natur geworden ist, auf die terroristischen Anschläge projiziert, dann kommt es wie von selbst zu den bekannten Aussagen, in denen der Terrorismus immer schon als politisch oder religiös oder sonst wie ideologisch „motiviert“ dargestellt wird. Die Ideologen, die aus der Verzweiflung eine Strategie zu machen versuchen, werden damit gleichsam beim Wort genommen. Sie erhalten einen Rang und eine Verantwortung zugesprochen, die sie vielleicht gerne hätten, mangels eines funktionierenden Staatsapparates aber gerade nicht haben. Über die Verzweiflung selbst dagegen und all die anderen Gefühlsqualitäten, die ja bei denjenigen, die den Schritt zur Gewalt nicht bloß propagandistisch, sondern praktisch tun, eine nicht unerhebliche Rolle spielen dürften, wird achtlos hinweg getrampelt. Die Frage nach der Begründung, ob sie rationalen Ansprüchen standhalte oder nicht, scheint mir in ihrem Falle gerade nicht angebracht zu sein. Denn das heißt, jene Konstellation, in welcher Subjekt und Objekt fein säuberlich voneinander getrennt sind, auf eine Situation zu übertragen, in der das Herrschen jeglicher Allgemeinverbindlichkeit und damit auch die Objektform der gesellschaftlichen Beziehungen so ziemlich am Ende ist. Die Konstellation der Äußerlichkeit, die eine stabile Struktur von staatlichen Gesetzen und Einrichtungen zur Voraussetzung hat, bricht hier, beim Phänomen der substaatlichen Gewalt, ja gerade zusammen, also werde ich mir mit ihrer Hilfe eben keinen Reim auf die Situation machen können. Ich müsste denn ein Bild vom Menschen vor Augen haben, nach dem er sich immer, selbst noch in einer existenziellen Grenzsituation, außen befindet. Auf jemanden, den seine Lebensumstände zur terroristischen Aktion und zum Einsatz des eigenen Lebens treiben, scheint mir dieses „coole“ Bild vom abstrakten Ich, das nüchtern und sachlich seinen „Vorteil“ kalkuliert, aber ganz und gar nicht zu passen. Der Zynismus befindet sich auf der Seite des Bildes, nicht auf der Seite der wirklichen Menschen, die hassen und die verzweifelt sind.
Dass es Lebensumstände und Erfahrungen gibt, die einen dazu bringen können, auszurasten und in namenlosem Hass um sich zu schlagen, ist im bürgerlichen Weltbild offensichtlich nicht vorgesehen. Es kann nur die Entscheidung für ein falsches Prinzip, einen falschen Glauben oder ein falsches Konzept sein, was einen Menschen zum Terroristen macht. Die ideologische Begründung des Terrors hat sich an die Stelle der Motivation gesetzt, sie wird geradezu damit verwechselt. Dem herrschenden Rationalismus kann die Entsorgung der existenziellen Dimension des Problems nur recht sein. Der Forderung von Kant, dass es bei der Moral und dem Recht auf das Prinzip und sonst nichts ankomme, wird damit genau entsprochen. Alles, was „bloß“ empirisch und damit wechselhaft, unbeständig und an die jeweilige Situation gebunden ist – „Gefühl, Antrieb und Neigung“, wie Kant es formuliert – hat laut ihm außer Betracht zu bleiben. Nur dem Prinzip, nur der reinen Form des freien Willens als solcher, gilt die Aufmerksamkeit des Gesetzes, nicht der Materie des Willens, nicht dem, was den empirischen Menschen bewegt, nicht seinen Ängsten oder Wünschen, nicht seinem Glück oder Unglück. Für das Funktionieren des Rechtssystems ist es völlig ausreichend, wenn sich eine jede Rechtsperson an die Grenze hält, die das Prinzip des freien Willens darstellt. Die Willkür der einen Privatperson kann mit der Willkür der anderen Privatperson zusammen bestehen, wenn sie unter der gleichen Form des allgemeinen Gesetzes wie unter einem gemeinsamen Dach vereinigt sind. 1 Was sich diesseits davon abspielt, im Innern des privaten Gehäuses gleichsam, das der freie Wille darstellt, ist, solange es dort bleibt, vom gesetzlichen Standpunkt aus unerheblich. Es ist nicht von allgemeinem Interesse. Im Gegenteil, wenn allzu viel persönliches Schicksal, allzu viel „Gefühl, Antrieb und Neigung“, hinüberschwappt in die öffentliche Sphäre, dann kann dies für die Anwälte der Staatsräson geradezu lästig und störend sein, ein Hemmschuh beim Kampf gegen die Terroristen.
Der amerikanische Senator Tom Lantos, unzweifelhaft ein Kantianer, hat dies bei einer entsprechenden Gelegenheit deutlich gesagt: „Konzentration auf persönliche Tragödien, Gespräche mit den Familien von Menschen in Angst und Schrecken und Alpträumen kann den politischen Entscheidungsträgern auf staatlicher Ebene vollständig die Kräfte entziehen, die sie benötigen, um rationale Entscheidungen (! ) im nationalen Interesse (! ) zu fällen. „2 Wo bliebe die rationale Anstalt des Staates, wenn es auf die persönlichen Gefühle der Menschen ankäme? Die Worte stehen übrigens im Zusammenhang mit einer Flugzeugentführung des Jahres 1985, bei der es den Terroristen, Hisbollah-Mitgliedern aus dem Libanon, gelungen war, 756 in Israel einsitzende Schiiten im Austausch gegen 39 amerikanische Geiseln freizupressen. Die gefühlsbetonte Berichterstattung der amerikanischen Medien, täglich ausgestrahlte Interviews mit den Angehörigen der Geiseln, hatten es der Reagan-Administration quasi unmöglich gemacht, die 39 Geiseln der Staatsräson zu opfern, sie musste die israelische Regierung zum Nachgeben bewegen. Eine schreckliche Niederlage für all jene, denen das Prinzip wichtiger ist als das Schicksal lebendiger Menschen. Mit Verbrechern verhandelt man bekanntlich nicht, man muss sie bestrafen.
Wenn also die Bushs und Putins keinen Blick auf die näheren Umstände werfen, die einen Landstrich zur „Brutstätte des Terrors“ machen, dann verhalten sie sich nur artgerecht. Die Sache des Staates ist die Sache des Prinzips. Jede Gewalt, die nicht im Namen des Gesetzes ausgeübt wird, ist definitionsgemäß ungesetzlich, ein Verbrechen. Und das Verbrechen bekämpft man natürlich im Verbrecher. Die Primitiv-Psychologie, die uns auf die Frage nach der Ursache schlicht mit dem juristischen Verursacher-Prinzip antwortet: wer über einen freien Willen verfügt, ist für sein Handeln verantwortlich, ist hier durchaus am Platz. Das amerikanische Außenministerium legt Wert auf die „Betonung der vorsätzlichen und geplanten oder kalkulierten Wesensart von Terrorismus“. 3 Der Terrorismus wird von Terroristen verursacht, böse Taten kommen von bösen Menschen, so einfach ist das. Was soll da der Hinweis auf irgendwelche Flüchtlingslager oder eine hohe Kindersterblichkeit oder die brutale Effizienz des westlichen Kapitalismus? Von der existenziellen Dimension der Angelegenheit dürfen sich die Sachwalter der Freiheit nicht beeinflussen lassen.
Wer sich als Systemopposition versteht, muss nicht gleich eine neue Nomenklatur erfinden. Einen Bombenanschlag auf die Londoner U-Bahn als schrecklich und als Verbrechen zu bezeichnen, hat auch für einen Systemoppositionellen nichts Ungehöriges. Bei der Beurteilung des Anschlags sollte er aber eine Gewichtung vornehmen, die der des Staates genau entgegengesetzt ist. Er sollte also nicht das verletzte Prinzip, sondern die getöteten und mental und körperlich verletzten Menschen in den Vordergrund rücken. Dabei ist es zweitrangig, ob die aktuelle Situation sie nun gerade in der Täter- oder in der Opferrolle präsentiert. Die Rollen wechseln schnell – je nach dem, welchen Zeitrahmen und welchen Bedeutungszusammenhang man in den Blick nimmt. Die tschetschenische Selbstmordattentäterin, die sich am 10. Juni 2000 zusammen mit dem russischen General Rassul Gadschijew und acht seiner Leibwächter in die Luft sprengte, war an diesem Tage ganz offensichtlich eine Terroristin, zuvor aber hatte sie sechzehn ihrer nächsten Verwandten, darunter ihren Mann, zwei Brüder und eine Schwester, verloren – innerhalb eines Jahres getötet von ordentlichen oder regulären (oder wie man das nennt) russischen Militärs, die auf ihre Bitte um die Herausgabe der Leichname ihres Mannes und ihres Bruders nur mit der Drohung, wenn sie keine Ruhe gebe, werde man sie lebendig eingraben, reagiert hatten. 4 Auch von einem der dummen Jungen, die im vergangenen Sommer (2006) schlecht konstruierte Kofferbomben in deutschen Zügen platzierten, geht das Gerücht, er habe bei der Bombardierung des Libanons durch die staatlicherseits dazu ermächtigte israelische Luftwaffe einen Bruder verloren. Der Gedanke, dass es denjenigen, die terroristische Anschläge verüben, nicht unbedingt gut geht, ist, so scheint mir, wenigstens in diesen Fällen nicht von der Hand zu weisen. Die Frage aber, wer nun am Unglück dieser Menschen wirklich Schuld hat und inwieweit sie selber sich mit Schuld beladen, ist – da wird mir jeder beipflichten, der schon einmal versucht hat, die Metaphysik auf die Anklagebank zu setzen – ein weites Feld. Nur diesseits davon, unterhalb der Ebene, auf welcher sich die strategischen Konzepte und ideologischen Bekenntnisse tummeln, kann man dem schlichten Gedanken voranhelfen, dass die Ismen, zumal wenn sie konsequent gehandhabt werden, der Existenz der Menschen nicht eben förderlich sind.
Insassen des Imperiums
Als Insassen des westlichen Imperiums sollten wir im Terrorismus zu aller erst eine Gelegenheit sehen, das Thema der Existenz auf die Tagesordnung zu setzen – das Thema der Existenz, wie es sich hierzulande darstellt. Eben dieses Thema, in dem sich eigentlich jeder Mensch wiedererkennen müsste, ist es, das den entscheidenden Anstoß zu den terroristischen Anschlägen gegeben hat. Wegen des ideologischen Drumherum ist diese Ebene des Phänomens aber verschüttet und in den Untergrund verbannt worden. Der Terrorismus, wie er sich gegenwärtig präsentiert und wie er von den Ideologen des Westens nur allzu gerne dargestellt wird, kommt von außen. Und auf den ersten Blick trifft das auch zu. Die Desperados, die die Anschläge verüben, stammen aus den Verliererregionen dieser Welt, mindestens haben sie enge Kontakte dorthin, wo die kapitalistische Modernisierung gescheitert oder nie sehr weit über das Anfangsstadium der bloßen Destruktion traditioneller Lebensformen hinausgelangt ist. Wegen der Fremdheit, die das Phänomen in geographischer, kultureller und ökonomischer Hinsicht besitzt, liegt es für den oberflächlichen Betrachter nahe, auch die zugrunde liegende Problematik als eine fremde anzusehen, die vom aufgeklärten westlichen Menschen nicht leicht nachzuvollziehen sei. Weil der westliche Mensch sich „innen“ befindet, wohl geborgen im Schoß des reichen, friedliebenden, demokratischen und überaus zivilisierten westlichen Kapitalismus, gibt es für ihn angeblich keinen Anlass zu hassen und zu verzweifeln. Wenn seine Existenz bedroht ist, dann gewiss nicht von diesem wunderbaren System der westlichen Werte, das seine Freiheit sichert. Die Gefahr droht vielmehr von den Feinden dieses Systems und von all jenen, die sich mit ihnen – etwa durch ein bloß beschwichtigendes Verhalten – gemein machen. In dem Maße, in dem es gelungen ist, die Diskussion auf die ideologische Bahn zu lenken, wird das Feindbild von den islamistischen Terroristen geliefert, von wahnsinnig gewordenen Möchtegern-Hitlers, die sich allen Ernstes gegen die allein selig machende Normalität des westlichen Imperiums stellen und sogar nach der Atombombe greifen. Unter dem Stichwort „Kampf der Kulturen“ wird schon seit einiger Zeit in dieser Richtung Stimmung gemacht. Und nach dem 11. September erklang der Ruf, die öffentliche Meinung möge sich unter der Fahne der „westlichen Werte“ sammeln und entschlossen für sie eintreten, natürlich besonders laut und penetrant.
Das Pathos, in dem sich die Führer des Westens dabei versuchten, erinnerte in fataler Weise an die nationalistischen Aufrufe aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Echo allerdings, das sie in der Bevölkerung fanden, blieb bemerkenswert gedämpft. Kein Vergleich mit dem August 1914. Es hat momentan nicht den Anschein, als ließen sich durch das öffentliche Phrasendreschen noch nennenswerte Massen in politische Bewegung setzen. 5 Die Bewohner des Westens kennen die Demokratie aus eigener Erfahrung. Sie müssen sich unter dem Schutze der westlichen, auf das einzelne geldverdienende Individuum zugeschnittenen Werte täglich abhetzen, um den unmenschlichen Anforderungen in Sachen Effizienz und Flexibilität zu genügen – und haben bei allem Sich-Krümmen doch keine Gewähr, dass sie demnächst nicht abrutschen ins zunehmend verwahrlosende untere Drittel der Gesellschaft, das mit Drogentoten und verhungerten Kindern von sich reden macht. Sie sind nicht sonderlich aufgeschlossen für Politik-Konzepte, die sie in einen „Kampf der Kulturen“ zu hetzen versuchen. Nicht einmal der „Krieg gegen den Terror“ reißt sie zu Begeisterungsstürmen hin. Wir leben in den Zeiten der „Ausbildungsmüdigkeit“ und der „Politikverdrossenheit“, nicht in denen eines Kreuzzuges für die westlichen Werte. Diese stehen im Gegenteil unter Verdacht. Es greift eine Ahnung, ein Gefühl um sich, dass etwas faul ist an der schönen freien Warenwelt. Ein Punkt in einer Masse namenloser Punkte zu sein, mit anderen Menschen durch nichts als die Geldfunktion in Verbindung zu stehen, die tägliche Existenzangst aber in freier Selbstverantwortung aushalten zu dürfen – das ist nicht die Situation, für die man sein Leben aufs Spiel setzt und Heldentaten vollbringt. Die Demokratie, man sieht es an den Wahlergebnissen, bröckelt. Sie ist innerlich ausgehöhlt. 6 Die Skepsis gegenüber der Politik, dass von ihr keine Besserung der Lage zu erwarten sei, reicht weit über das rechts-demokratische Wählerpotential hinaus. Was fehlt, damit die bloß noch aus Heuchelei bestehende Fassade der Demokratie endlich zusammenstürzt, ist die ausdrückliche Kritik, die dem verbreiteten Unbehagen eine Richtung gibt und den Menschen Mut macht – Mut, sich dem herrschenden Funktionalismus zu verweigern, anstatt sich ihm mit immer noch mehr Beflissenheit anzudienen und sich jede immer noch weitere Anhebung der Normen, die man als Arbeitsplatzbewerber zu erfüllen hat, gefallen zu lassen. Hier, meine ich, auf der Ebene der tagtäglich zu ertragenden Existenzbedingungen, liegt der Angriffspunkt, auf den sich die Systemopposition, jede Systemopposition, konzentrieren muss – und eben nicht im Aushecken und Anpreisen von Strategien und Konzepten, mit denen die schöne „neue Gesellschaftsordnung“ zu verwirklichen sei. Mit Visionen und Konzepten werden die Leute gefüttert bis zum Überdruss. Dergleichen hängt ihnen zum Halse heraus. Den ideologischen Nebel beiseite schieben und die existenzielle Situation zur Sprache bringen, darum geht es.
Fühlen oder Funktionieren
Der Gedanke, der zu verbreiten ist, lautet: Nicht nur denen geht es schlecht, die „außen“ sind, weil sie der Kapitalismus ausgespuckt oder noch nie in Verwendung gehabt hat, sondern auch denen, die sich „innen“ befinden, die dem kapitalistischen Funktionalismus unmittelbar unterworfen sind. Nicht nur der Hass, der die Terroristen zu ihren Wahnsinnstaten treibt, ist existenziell nachzuvollziehen, auch jener Hass wäre es, mit dem sich der westliche Mensch gegen seine Existenzbedingungen aufzulehnen hätte – es aber bislang noch nicht tut. Er hätte allen Grund, sich an den Terroristen ein Beispiel zu nehmen – nicht gerade, was ihre Taten, sehr wohl aber, was diese Gefühlsqualität angeht. Dies muss zunächst einmal klar gesagt werden, bevor man den zweiten Schritt tut und ein umständliches Raisonnement darüber beginnt, in welche ideologische Richtung sich dieser Hass, wenn er denn einmal öffentlich wirksam und zur Staatskrise werden sollte, sich möglicherweise zu wenden oder lieber nicht zu wenden hätte. Die Ideologien sind zweitrangig. Noch kein Ideologe ist dort, wo er sich hingeträumt hat, auch angekommen. Aber noch jeder Ideologe musste sich auf die Existenzbedingungen der Menschen einlassen. Erst recht müssen das diejenigen tun, die den Ideologen das Wasser abgraben wollen.
Dem Hass und überhaupt allen elementaren Gefühlsqualitäten sich zuzuwenden, sie zu ermuntern, ihnen eine Stimme zu geben, ist gerade in den „hochzivilisierten“ Ländern des westlichen Imperiums eine eigene Aufgabe. Jeder, der das verkümmerte Seelenleben des westlichen Menschen kennt, wird mir darin zustimmen. Denn seine Not besteht ja eben darin, dass er ohne einen berechnenden Seitenblick in Richtung: wie kommt das an? noch nicht einmal traurig oder wütend sein kann. Dass er den Kontakt zu seinen elementaren Bedürfnissen verloren hat, dass er nicht einmal spüren kann, was ihm – außer Geld – vielleicht sonst noch fehlt, geschweige dass er sich im Namen dieser Bedürfnisse zu wehren vermöchte gegen die Zumutungen des Funktionalismus des Geldes. Ein moderner Arbeitnehmer, der sozusagen auf dem neuesten Stand der Zivilisation ist, bringt es ja fertig, sich schwerkrank in den Betrieb zu schleppen und den Tod zu riskieren – um nur ja der Gefahr der Entlassung vorzubeugen. Wer sich so verhält, hat es aufgegeben, einen Unterschied zwischen dem Leben und dem Funktionieren zu machen, der weiß vermutlich noch nicht einmal, wovon bei diesem Unterschied die Rede ist.
Der Funktionalismus, dem wir unterworfen sind, ist eben kein Ismus der herkömmlichen Art, keine Glaubensüberzeugung, der man durch den individuellen Akt des Nichtglaubens oder des Dagegenseins beikommen könnte, er bestimmt vielmehr als „objektive Realität“ unser tägliches Leben. Er befindet sich in dem modernen Individuum, das von klein auf und unter Schmerzen lernen musste, mit dieser Realität zurecht zu kommen. Das moderne Ich ist historisch überhaupt erst im Prozess der Anpassung an diese Objektivität entstanden. Als eine leere Abstraktion, die jeglichen Inhalt immer nur in dieser Form der Objektivität, als ein äußeres Gegenüber, wahrzunehmen vermag, ist es zur Kritik dieser Objektivität, an der ja definitionsgemäß nicht zu rütteln ist, gänzlich außer Stande. Es hat gelernt, das, was in der kapitalistischen Welt als Vorteil gilt, zu berechnen, es kann die vom Markt gebotenen Chancen ausnützen, aber von dem, was man nur spüren kann, von der Rücksichtnahme auf die materiellen Bedürfnisse, die ein gutes Leben ausmachen, versteht es nichts. Gerade in der Realitätsbeflissenheit des modernen Ichs steckt die Gewalt, die sich ein jeder und eine jede antun muss, der oder die unter den Vorgaben der Objektivität Erfolg haben oder auch bloß auf anständige Weise überleben will.
Mit der Friedensliebe, die zum Standardvokabular der Demokratie gehört, ist immer der öffentliche Friede gemeint. Dieser aber verdankt sich nur zum kleineren Teil der Staatsgewalt, zum größeren beruht er auf der Selbstvergewaltigung des einzelnen Individuums, die eben darin besteht, dass es ein solches vereinzeltes (und in der Vereinzelung vom Staat gesetztes und affirmiertes) Individuum zu sein hat. Das moderne Individuum ist daran gewöhnt, nicht nur den Erfolg, sondern auch den Misserfolg als seine Privatangelegenheit zu betrachten. Es übersetzt den Druck, der von der Objektivität her kommt, ins Persönliche und trachtet danach, auf eigene Faust damit fertig zu werden. Die moderne Gesellschaft der abstrakten Individuen besitzt daher eine unerhörte Kapazität beim Verdauen und Abpuffern von Frustrationen, die sich gerade in der Krise bewährt. Das millionenfache Unglück, das sie erzeugt, wird erstens bloß in den herrschenden Kategorien von Ware und Geld wahrgenommen, zweitens betrifft es lauter Einzelne, die meinen, von einem persönlichen Unglück getroffen worden zu sein, das sie sich womöglich auch noch selber, ihrer eigenen Untüchtigkeit und Unfähigkeit, zuzuschreiben haben. Die Ideologie der individuellen Freiheit, die mit den Bildern des Erfolges nicht geizt, gaukelt ihnen vor, dass es auch ganz anders hätte kommen können, dass die Pechsträhne, in der sie sich vermeintlich befinden, jederzeit und vielleicht schon bald durch eine Glückssträhne abgelöst werden kann. Mindestens eine Hintertür, ein individuelles, höchstpersönliches Schlupfloch, das sich durch ein noch Mehr an Leistung, durch ein noch besseres Funktionieren aufmachen lässt, muss es doch geben. Die kapitalistische Krise entschärft sich auf diese Weise selbst durch die Form, in der sie wahrgenommen und erlebt wird. Sie versickert gleichsam in der privaten Struktur, die als die „Würde“ des vereinzelten Individuums von der herrschenden Staatspartei nach Kräften zelebriert wird. Sie wird absorbiert von der Unzahl der Einzelschicksale, die sich alle voneinander unterscheiden.
„Je länger die Stille, desto fürchterlicher, was sich in der Tiefe zusammenbraut“
Der Druck, der auf den existenziellen Bedürfnissen lastet, wird durch die privaten Ausflüchte und Verarbeitungsformen der Krise nicht etwa abgemildert, sondern verstärkt. Aber das Anziehen der Schraube geschieht (jedenfalls für die Verhältnisse eines Menschenlebens) allmählich, und bis die private Form hinlänglich abgenützt und zerschlissen ist und als solche in Misskredit kommt, vergeht Zeit, viel Zeit. Darin aber besteht die Gefahr, in der wir uns gegenwärtig befinden. In mentaler Hinsicht ist das abstrakte, allen Inhalts entblößte Ich des demokratisch vergesellschafteten Menschen so armselig und so verwahrlost, wie es die sogenannten boat-people, jene Elendsgestalten, die sich mit letzter Kraft von der geographischen Peripherie des Kapitalismus ausgerechnet in sein Zentrum zu retten versuchen, der äußeren Erscheinung nach sind. Aber anders als diesen, die sich über ihren Zustand keiner Täuschung hingeben können, fehlt dem abstrakten Individuum das entsprechende Bewusstsein. Es wäre sonst keines. Die Unterwerfung unter die Marktgesetze erfolgt ja unter dem Vorzeichen der Freiwilligkeit. Das ordentliche Funktionieren im Rahmen der herrschenden Objektivität gilt nicht nur als ein Gebot der Moral, im landläufigen Verständnis ist sogar die Hoffnung auf Glück damit verbunden. Entsprechend heftig muss die Enttäuschungsreaktion ausfallen, wenn die privaten Illusionen zerfallen, wenn sich das unwiderlegbare Gefühl verbreitet, dass der „ständige Kampf“, in dem sich viele Menschen stehen sehen7, ohne jede Aussicht auf Erfolg geführt wird, dass er nur in der Erschöpfung und in der Krankheit münden kann – und in sonst nichts. Je länger die Menschen weitermachen im alten Trott des Funktionalismus, je mehr Zeit vergeht, in der die unterdrückten Bedürfnisse sich aufstauen, desto verheerender die Gewalt, mit der die Emotion, das unbekannte Wesen, schließlich hervorbrechen wird. „Je länger die Stille, desto fürchterlicher, was sich in der Tiefe zusammenbraut. „8
In diesem Sinne ist der Terrorismus ein Menetekel. Die Botschaft, die er dem verstockten, seelisch verhärteten, im Korsett der Objektivität erstarrten westlichen Menschen zuruft, lässt sich, entkleidet von den ideologischen Floskeln, vielleicht in die folgenden Worte fassen: „Ja, das gibt es tatsächlich: Menschen, die derart verzweifelt sind und hassen, dass sie kein Funktionalismus mehr einfangen kann; die so gründlich aus dem Normengefüge der kapitalistischen Gesellschaft herausgefallen sind, dass sie keinem ihrer Effizienzkriterien mehr genügen – und auch gar nicht mehr genügen wollen; die der westlichen Militärmaschinerie hoffnungslos unterlegen sind, sich aber dennoch nicht unterwerfen – weil sie vor lauter Unglück und ohnmächtiger Wut selbst das nicht mehr fertig bringen; die sich lieber selbst in die Luft sprengen, als im Zustand des Elends, der Erniedrigung und der Hoffnungslosigkeit weiterzuleben. Wäre dieses unleugbare Ende der westlichen Ausstrahlungskraft für Dich, westlicher Mensch, nicht endlich ein Anlass zu stutzen und Dich auf Deine eigene existenzielle Situation zu besinnen? Wie lange willst Du in dieser stumpfsinnig rotierenden Maschine des Kapitalismus, die von Dir nur immer noch mehr Anpassung an die sich laufend steigernde Geschwindigkeit verlangt, noch weiterfunktionieren? Wann wirst Du endlich Deine vitalen Bedürfnisse ernst nehmen, Deinerseits Halt rufen und mit dem fälligen Aufstand beginnen? “
Im Nahen und Mittleren Osten empfinden die Menschen das westliche System – bis zu einem gewissen Grade sicher zu Recht – als eine von außen kommende Bedrohung, als militärische Besatzungsmacht. Dieses von einschlägigen Erfahrungen genährte Gefühl interferiert mit dem auf dem Wege der Modernisierung liegenden Erfordernis, eine neue, eine politische Identität zu entwickeln. Die terroristischen Anschläge lassen sich hier mit Leichtigkeit politisch interpretieren und in einen Bedeutungszusammenhang einordnen, den man in Erinnerung an die entsprechende Phase der europäischen Geschichte als späte Version der „Nationalisierung der Massen“ bezeichnen könnte, kollektiver bürgerlicher Identitätsfindung also. In dieser Richtung hat der westliche Mensch nichts mehr zu suchen. Seine Identität, in der die Systemzwänge als objektive Realität vorausgesetzt werden, ist so kollektiv, dass es kollektiver nicht geht. Mehr Vergesellschaftung als die zum „Menschsein überhaupt“ ist nicht möglich. Die Opposition, die ihm noch bleibt, kann nicht in einen neuen Glauben an ein neues, noch umfangreicheres System gegossen werden. Oppositionell sein heißt hier kehrtmachen und jegliche Systematik verweigern. Nur, wenn er für seine stofflich-realen Bedürfnisse eintritt, für elementare Dinge wie ausreichenden Schlaf, gesundes Essen und Zeit für die Liebe, wenn er sich angesichts der „objektiven Anforderungen“ des Systems für inkompetent und unbrauchbar erklärt, wenn er gleichsam offensiv kapituliert und im Namen seiner Unzulänglichkeit auftrumpft, wenn er seine Langsamkeit, seine Begrenztheit, sein Nicht-mehr-mithalten-Können geltend macht, kann er eine Art von Sabotage zu Stande bringen und den auf ihm lastenden Druck vermindern.
Und nur in diesem Falle, wenn es gelingt, die eine oder andere Schleuse schon vorher zu öffnen, lässt sich hoffen, dass die auf uns zurollende Tsunami-Welle, die das soziale Erdbeben – im Aufruhr der französischen Vorstädte und in vielen anderen Vorzeichen (z. B. im Umkreis der Fußballstadien) kündigt es sich bereits an – in seinem Gefolge haben wird, in ihrer zerstörerischen Wucht abgemildert werden kann. Nur dies, wirksamer Widerstand, der sich im Inneren des westlichen Systems selber bemerkbar macht, der den allzu heiß gelaufenen Motor zum Stottern bringt, wird auch den Druck, zumindest den militärischen Druck, von den Verliererregionen des Weltkapitalismus nehmen und es ermöglichen, dass dort ein differenziertes Bild des „Systems Westen“ um sich greift und dass die Überzeugung der Terroristen, hier würde man ohnehin „immer die Richtigen“ treffen, an Boden verliert.
Anmerkungen
1 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 337 (Band 8 der Weischedel-Ausgabe).
2 B. Hoffman, Terrorismus, S. 176.
3 B. Hoffman, a. a. O. , S. 48.
4 Mainat Abdulajewa, Warum sie morden, FAZ vom 4.9.2004, S. 35. Von den achtzehn Frauen, die an der Besetzung des Moskauer Musical-Theaters beteiligt waren, weiß der Artikel ähnliche Schicksale zu berichten: „Alle hatten sie ihre Männer, Brüder, Kinder verloren oder Folter und Gewalt durch russische Soldaten am eigenen Leib erfahren. “
5 Was, wie schon an anderer Stelle gesagt, die Fähigkeit, Krieg zu führen, leider nicht allzu sehr beinträchtigen muss.
6 „Woran es mangelt, ist die Wärme, mit der wir uns zu unseren Werten bekennen. Ansteckend kann die Demokratie nur wirken, wenn sie nicht routiniert betrieben oder anderen mit Gewalt aufgezwungen, sondern mit Enthusiasmus gelebt wird.“ (Wolf Lepenies in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2006, SZ vom 9.10.2006, S. 17) So kläglich klingt die Demokratie heute, wo sie bloß noch in den Gewohnheiten stark ist, ihren historischen Sinn aber eingebüßt hat.
7 Laut der kürzlich von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Armuts-Studie „empfinden 46 Prozent der Bürger ihr Leben als ständigen Kampf´“ (SZ vom 16.10.2006, S. 1).
8 Der Spiegel 44, 2006, S. 182, zur Frage eines möglicherweise bevorstehenden Vesuvausbruches. Von dem destruktiven Potential, das in der massenhaft empfundenen Enttäuschung und Verbitterung enthalten ist, darf man sich durchaus auch an Hand der nationalsozialistischen Bewegung ein Bild machen. Die Energie dieser Bewegung wurde seinerzeit vom Staat noch weitgehend der Totalisierung und Modernisierung nutzbar gemacht, was bei dem heute erreichten Grad der Verstaatlichung, wo sich die Menschen in der Gleichschaltung sogar frei zu sein dünken, wohl unmöglich geworden ist.