Ein Leben in einer Welt – Wie Kritik wirksam werden kann
2. Teil
Streifzüge 41/2007
von Lorenz Glatz
Es gibt viel mehr Menschen, denen die Ergebnisse und Früchte der herrschenden Ordnung falsch, gefährlich, ja unerträglich erscheinen, als es Leute gibt, die es für möglich halten, sie zu ändern und es auch versuchen. Es ist die Ordnung der Beziehungen, der Verhältnisse unter uns Menschen und vor allem die entsprechende Ordnung in jedem von uns, die nicht passt, die lähmt, unglücklich und mutlos macht. Kritik an Herrschaft und Kapital und ihren vielfältigen Instanzen – nur solche Fundamentalkritik ist im Folgenden gemeint – zielt auf Beseitigung. Diese Kritik bezweckt die Demontage der destruktiven Maschine Gesellschaft und einen gewaltigen Entwicklungsschub von uns Menschen, die diese Maschine täglich zugleich bauen und erleiden. So wurde es im ersten Teil behauptet. Dazu noch drei verstreute, Gedanken verschiedener Tragweite, destruktive einerseits, aber mit dem Zweck, „Hoffnung in den Trümmern“ aufzusuchen und freizulegen.
(Selbst-)Beherrschung
Die wirksamste Seite der Herrschaft und ihrer Verhältnisse ist unsere Selbstbeherrschung. Im Norm(al)fall, wenn wir gut funktionieren, gut drauf sind, führen wir uns im Denken und in unserem Umgang miteinander als (zumindest sich selbst be)herrschendes Selbst auf. Zwischen den Apologeten dieser Gesellschaft und ihren Kritikern ist da oft wenig Unterschied. Überhaupt können „Checker“ Sozialkritik meist besser denken und formulieren als die „Lazaruse“ der Gesellschaft. Dabei haben die ersteren das „freilich“ und „eigentlich“ nicht gar so dringend nötig. Man kommt ja selbst doch irgendwie zurecht, aber man kann, soll, muss es sich natürlich noch hier und da und überhaupt verbessern. Vor allem für die anderen, die schlechter drauf und dran sind.
Denn Checkerkritik ist sozial, es geht ihr um Erkenntnis der Verhältnisse, ihrer Logik und Dynamik, um daraus in Arbeitsteilung von Theorie und sozialer Bewegung die Bedingungen für den Bau der „besseren Welt“ zu entwickeln. Es wär doch schon was, wenn es wenigstens keiner schlechter ginge als mir schon jetzt, alle ihr Leben mindestens so checkten wie auch ich. Wollten die an den Klippen der Gesellschaft Scheiternden und die kopflos Aktiven nur mittun, die Ränder der Wege zur besseren Welt sind leidlich deutlich abgesteckt, sind meist auch in Büchern nachzulesen, werden auch gerne referiert.
Manchmal freilich fällt (Selbstbe)Herrschen schwer und erscheint uns gewissermaßen als Selbst-losigkeit. Wir „Selbste“ kommen uns dann leer vor und vor allem als Vollstrecker dessen, was herrschende Logik eben so verlangt, banal: was halt von uns erwartet wird, mit unseren Wünschen, die wir dann seltsamerweise nicht recht kennen, nichts zu tun hat. Hier begegnen wir wohl dem beherrschten Selbst. Es ist, wenn alles halbwegs rund läuft, „besser zu vergessen“. Es ist unspürbar, verleugnet und versteckt. Wenn es sich bemerkbar macht, dann als Störung, als Dysfunktionalität des laufenden Betriebs. Als „Hintergrundgräusch“ ist das bei den meisten gar nicht abzustellen, wenn die Störung aber überhandnimmt, soll man sich wie bei einer Grippe in aller Privatheit auskurieren, sich wieder „einkriegen“, wieder „gesellschaftsfähig“ machen.
Das Problem ist, dass der kritische Betrieb, auch seine theoretische Abteilung, diesen Vorgang mit dem affirmativen teilt. Hier liegt vermutlich ein wichtiger Grund dafür, warum so viele Anläufe zur Änderung des Unzumutbaren – ich meine die Herr-schaft und ihre bisher sachlichste Form, die Warengesellschaft – bloß zu neuen Varianten des Alten geführt haben. Gewichtiger jedenfalls als dass vielleicht zu wenig über Gesellschaftsordnungen gedacht, geforscht und erkannt worden wäre. Ja, es läuft darauf hinaus: Emanzipation, Befreiung, die legendäre „andere Welt“, den Kommunismus wird es in der einen Welt und dem einen Leben, die wir haben, nur geben, wenn Verstörung und Gestörtes gerade in kritischen Menschen nicht herrschaftskonform verdrängt, sondern ans Licht gebracht werden. Nicht um per Psychotherapie „hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln“ (wie Freud sagt), sondern um Kraft für Widerstand zu gewinnen und um wenigstens in nuce die Beziehungen unter uns befriedigend, erfreulich, liebevoll, solidarisch… und damit Kritik erst wirklich handlungsfähig zu gestalten. Das ist vielleicht der subversive Kern von Gesellschaftskritik. Ihn zu bilden, zu gestalten und zu schützen, braucht es Vorstellungen, Begriffe, Vorgangsweisen und Versuche und abermals Versuche. Wenn anderes als das Herrschende nicht jetzt schon – als „Vorschein“ wenigstens – erlebbar wäre, hätte Kritik keine Chance. Wenn Freundschaft ohne Außenfeind nicht jetzt schon – hie und da, aber doch – zu haben wäre, bliebe Konkurrenz ein Muss und die Menschheit als eine vom Wert arrangierte Monadensammlung der Weisheit letzter Schluss.
Es ist möglich, hier ein Stück weiterzukommen. Auch unter Kritikern glaubt sich nicht jeder Macher stets sein Image selber, nicht jeder Powerfrau ist ihr heimliches Unglück unbekannt und nicht alle, die „ausrasten“ oder „rausgebissen“ werden oder zwischen alledem oszillieren, haben sich in der einen oder andern Weise auch schon aufgegeben. Der souveräne Auftritt als Denker ist so systemkonform wie der in jeder anderen uns zugedachten Rolle, er bringt Kritik nicht weiter und ist auch für jene, die diese Geste eine Zeit lang schaffen, nur das Fake eines guten Lebens. Unsere Empfindungen und Gefühle konstituieren uns als bedürftige Menschen, nur sie lassen uns uns „selbst“ als solche erkennen und handlungsfähig werden, als Menschen, die sich an den Verhältnissen stoßen, weil sie einigermaßen warme emotionale Beziehungen zu Ihresgleichen und zur Welt brauchen.
Hoffnung und Sinnlichkeit
Um unser Unglück in dieser Gesellschaft zu wenden (die sich rundum glücklich fühlen, sind aus dem Schneider, sie ficht nichts an, solange sie das schaffen), braucht es für jeden Versuch die Hoffnung auf Gelingen. Nicht einmal das Denken wird noch vorankommen, wenn diese fehlt. Denn nicht nur Aktivisten, sondern auch Leute, die den Kapitalismus mit den Mitteln der Theorie bekämpfen, haben dafür das Motiv, dass ihr Tun auch ihr Leben hier und jetzt schön und frei machen soll. Gerade dieses Gefühl der Hoffnung, dieser unklare sinnlich-emotionale Selbstbezug auf die eigene Bedürftigkeit und Not macht negatives Denken und widerständiges Handeln zur Kritik, zum Teil möglicher Veränderung dieses begrenzten einen Lebens in der einen Welt, die wir haben. Hoffnung erweitert den Horizont wirksamer Kritik beflügelt Fürsorge und Verbundenheit für andere Menschen, über den engen Kreis und über unsere Zeit hinaus. Nur so kann aus dem Zwangskorsett Gesellschaft eine Gemeinschaft (Kommune) erahnbar werden, die die Einzelnen immer schon trägt und ihnen Raum für Entfaltung bietet.
Wo dieser Selbstbezug Hoffnung fehlt oder schwindet, wo er nicht als A und O des kritischen Denkens und Tuns gepflegt wird, bleibt Handeln ohne Perspektive, verblasst die Erkenntnis, wird das Denken schwarz und unfruchtbar. Mehr als die kümmerliche Ersatzbefriedigung, den Schönrednern geistig überlegen zu sein und immer schon gewusst zu haben, wie mies alles ist und noch werden wird, ist dann nicht drin. Höchstens bleibt noch der Wahn von Heldentum und Aufopferung oder gar die verzweifelte Verteidigung des unerträglichen Status quo gegen die in ihm vorgezeichnete Entwicklung zu noch mehr Barbarei.
Das Schicksal der Hoffnung hängt allerdings nicht unwesentlich daran, wie gut Analyse und Aktion den vorgefundenen Bedingungen angemessen sind und – das ist vielleicht der Knackpunkt – ob sie nicht bloß den Geist, sondern auch Phantasie und Emotion beflügeln können.
Engelhafte Theorie oder kritischer Zusammenhang
Moderne Theorie beruht auf einer strikten Trennung von Subjekt und Objekt, wobei ersteres als reiner erkennender Geist und zweiteres als jeweils passives Etwas fungiert. Die alten Philosophen haben schon die Anfänge dieser Art Erkenntnis als göttlich bezeichnet. Daran stimmt wohl, dass es zu den Möglichkeiten der Menschen nicht recht passt, so zu tun, als ließe sich alles, auch wir selbst, tatsächlich zum bloßen Objekt unseres Geistes machen.
Auf jeden Fall bedienen sich auch die Produzenten kritischer Theorie dieser Konstruktion, auch wenn (oder vielleicht sogar umso mehr weil) sie sich auf ihr Objekt, die Gesellschaft des Werts, nicht affirmativ, sondern rein negativ beziehen wollen. Gerade dadurch geraten sie allerdings als Menschen, die doch in ihrem Leben selbst gestalten möchten, leicht in die Lage des „Engels der Geschichte“, wie ihn Walter Benjamin geschildert hat: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Über den Begriff der Geschichte These IX)
Diese engelhafte Perspektive auf negative Erkenntnis, modernen Fortschritt und Wehrlosigkeit bereitet als menschliche Lebensform wohl noch erheblich größere Schwierigkeiten. Ich habe kaum Bedenken, dass Theorie statt einer „Festschau“ im alten Wortsinn heutzutage einen derartigen, wörtlich niederschmetternden Anblick bieten muss. Bloß, wie soll da ein Mensch emotional abstinent bleiben, die von der Theorie gebotene Distanz des Denkens zu seinem sinnlichen Dasein halten können, ohne an seinen verdrängten Ängsten, Leidenschaften und Begierden auf die eine oder andere Weise zu zerbrechen? Noch dazu wenn ihn gerade die Ungereimtheiten und Schmerzen seiner sinnlichen Existenz zu Empörung und zu kritischem Denken gebracht haben. Kritik mit ihrem Focus auf Veränderung kann mit diesem Engel der Geschichte und solcher Theorie wenig anfangen. Eingreiffähige Kritik entsteht unter und zwischen den Trümmern, um im Bild zu bleiben. Ihr Blick kommt nicht von außen, er ist beteiligt und geleitet von dem lebhaften Interesse, hier innen Handhaben zu finden, um in den Lauf der Dinge einzugreifen.
Der Fortschritt in der Geschichte hilft auch da nicht weiter. Er ist Ideologie der Aufklärung einschließlich des Marxschen Historischen Materialismus. Herrschaft und Unterdrückung haben keine historische „Umwegrentabilität“ für die Menschen, die sie erlitten. Sie sind ein Skandal und Gegenstand von Kritik, seit uns Geschichte überliefert ist. Und der Fortschritt der Produktivkraft der Arbeit ist ein Erfordernis von Kapitalverwertung und Wirtschaftswachstum, ein Erfordernis, das diese Produktivkraft der Arbeit zur weltbedrohenden Zerstörungsmaschinerie gemacht hat. Wohlbefinden der Menschen, Einfluss auf die Belange des eigenen Lebens, allgemeine sichere Befriedigung von Bedürfnissen, Entfaltung freundschaftlicher Beziehungen und kreativer Fähigkeiten, derlei Reichtum hat der Fortschritt in der Geschichte für die meisten Menschen kaum je vermehrt. All das war seit langem und ist bis heute Ziel von Kritik.
Dass und ob wir die gegenwärtige Gesellschaft der zunehmend destruktiven Herrschaft der Verwertung mit der Auflösung des Wertverhältnisses und von Herrschaft überhaupt beenden können, liegt in keiner Logik der Geschichte. Die kapitalistische Gesellschaft hat ein inneres Zwangsgesetz der wachsenden Verwertung, dem mit allen Mitteln des Friedens und des Kriegs Geltung verschafft wird. Das Kapital mag ja an einer inneren Schranke oder an den Grenzen der Natur scheitern, Herrschaft und Gewalt kommen damit jedenfalls nicht ans Ende. Wie eine solche postkapitalistische Gesellschaft aussehen könnte, ist bislang eher Gegenstand der Filmindustrie, und die Erwartungen sind rabenschwarz.
Viele erhoffen sich die Befreiung von Kapital und Herrschaft von der baldigen Entwicklung einer „radikal antikapitalistischen Bewegung“, die mittels Aneignung der Ressourcen mit der Gesellschaft des Gelds und der Ware Schluss macht. Doch so denkt sich eins die Überwindung des Kapitalismus wohl doch zu stark nach dem Vorbild Muster der französischen und der sozialistischen Revolutionen. Einige tausend Jahre Herrschaft und vier Jahrhunderte Geldwirtschaft lassen kaum sich im Schwung einer Anti-Bewegung hinwegfegen.
Hier braucht es jede Menge praktische Übung und Erfahrung, analysierendes Denken und Debatten. An den vielfältigen Initiativen z. B. , die sich seit einiger Zeit als „Solidarökonomie“ zu verstehen beginnen, interessiert denn auch weniger ihre Kleinheit, Widersprüchlichkeit und Unklarheit, oder all das, was sie mit dem alten Graus ja doch gemein haben. Jeden, der raus will aus der herrschenden Malaise, und grad auch jene, die mit dem Anspruch der Kritik debattieren, schreiben und publizieren, könnte mit mehr Gewinn an solchen Initiativen interessieren, wo man was miteinander kann, wo eventuell Neues entwickelt wird im Denken, in Lebensart und Umgang, wie verwandte Initiativen, wie diese mit dem lokalen Umfeld kooperieren, wie sie mit staatlichen Stellen, mit Kapitalvertretern, mit der Polizei umgehen, wo was wie zu unterstützen und zu propagieren wäre, wozu Kritik angemerkt, Hinweise, Hintergründe, Grundlagen erläutert werden könnten, wie eins sich beteiligen, wo wie sich nützlich machen kann. Und für den Umgang der Denker und Schreiber und ihrer diversen „Schulen“ gälte das erst recht.
Worauf es ankäme, wäre ein Zusammenhang von kritischen Menschen, in dem sich die Leute in gegenseitiger Achtung statt mit Verdächtigung, Ironie und Herabsetzung in vielfältiger Weise und verschiedenster Intensität aufeinander beziehen, miteinander kooperieren und die haarigen Probleme eines solchen Umgangs als unabdingbares, „inhaltliches“ Erfordernis auf dem Weg einer emanzipatorischen Bewegung verstehen lernen.