Die sanfte Art, Menschen zum Funktionieren zu bringen
Streifzüge 41/2007
von Erich Ribolits
Führe mich sanft
Gib mir einen Trunktrank
Etwas das Eifer schafft
Eine geheime Wissenschaft
Die mich entkrampft
Führe mich sanft
Es ist alles so einfach
Tocotronic
(Indierock-Band/Hamburg)
Eines der großen Zauberwörter der heutigen Zeit heißt Beratung. Ohne sie geht heute kaum mehr etwas – in der Politik nicht, in der Wirtschaft nicht und im Leben des postmodernen Menschen schon gar nicht. Unternehmen, Institutionen und Behörden sind längst fest im Griff professioneller Berater/innen und auch die Gestaltung des Privatlebens erfolgt zunehmend beratungsgesteuert. Neben und vielfach statt der, ob ihres aus der Vor-Postmoderne stammenden Menschenbildes schon ein wenig antiquiert wirkenden Psychotherapie vermitteln heute Berater unterschiedlichster Art – Lebensberater/innen, Karriere-Coaches, Lifestyle-Expert/innen, Supervisor/innen, Mediator/innen oder Fitness-Gurus – Orientierung und letztendlich auch Lebenssinn. Waren es vordem die Priester bzw. die Lehrer/innen, die zuerst im Auftrag der religiösen und später der weltlichen Obrigkeiten den Menschen suggerierten, es würde reichen, den Verstand innerhalb der durch die jeweilige Ordnung vorgegebenen Grenzen zu gebrauchen, lässt sich heute durchaus die These aufstellen, dass es nunmehr die Berater/innen sind, denen die Aufgabe zukommt, „das süße Gift der Entmündigung“1 unters Volk zu bringen.
Noch nie in der Geschichte wurde so viel beraten wie heute und es war auch noch nie so einfach und zugleich so selbstverständlich, sich selbst für die spezifischsten Anforderungen des Lebens professioneller Unterstützung zu bedienen. Bis vor wenigen Jahrzehnten konsultierte man vielleicht eine/n gute/n Freund/in, eine/n wohlmeinende/n Verwandte/n oder bestenfalls einen Seelsorger, wenn man das Gefühl hatte, mit einem Problem allein nicht mehr weiterzuwissen, heutzutage lässt man sich bei der Lösungssuche immer häufiger professionell unterstützen. Und auch für Problemstellungen, die noch vor wenigen Jahren als selbstverständliche Hürden des Lebens galten, bei deren Überwindung das verständnisvolle Mitgefühl anderer Menschen zwar durchaus hilfreich sein kann, über die man im Übrigen aber selbst hinwegkommen muss, bietet zwischenzeitlich ein ständig wachsendes Heer von Problemlösungsprofis seine Dienste an. Ob bei der Suche nach dem richtigen Beruf, einem passenden Partner oder der optimalen Urlaubsdestination, ob beim Trauern, beim Basteln einer neuen Biografie, der Suche nach dem Lebenssinn oder bloß nach einem neuen Kleidungsstil – für alle menschlichen Probleme gibt es heute Spezialist/innen, die Unterstützung bei der Suche nach rational legitimierten Lösungen versprechen.
Laut ORF-Webradio ist die Branche der Beratungsberufe in Österreich in den letzten Jahren jährlich um 20-30 Prozent gewachsen. 2 Bereits 2003 ging die International Coach Federation von etwa 16.000 Coaches weltweit aus3 – inzwischen ist die Zahl wohl schon deutlich größer. Dazu kommt noch ein Vielfaches an Vertreter/innen anderer Beratungszweige: Biographiecounseler, Trauerbegleiter/in, Ruhestandsconsulter/in, Lebensberater/in, Personalentwicklungs-Supervisor/in, Scheidungsmediator/in oder Arbeitslosencoach – um nur einige zu nennen. Unter den abenteuerlichsten und auch immer wieder neuen Namenskreationen etablieren sich ständig neue Beraterberufe und werden auch permanent neue diesbezügliche Ausbildungen ins Leben gerufen. Die Zahl der Problemlösungshelfer, die unter steigendem Konkurrenzdruck ihre Dienste anbieten, wird ständig größer und nicht selten sind die am erfolgreichsten, die den Menschen neue Beratungsbedürfnisse suggerieren und dazu auch gleich passende Ausbildungen erfinden. Der Bedarf nach Unterstützung scheint aber auch tatsächlich riesig zu sein. Nicht umsonst boomt neben Ratgebern am Telefon, im Internet oder in Fernsehmagazinen auch die Ratgeberliteratur. Ob es darum geht, als Single ein zufriedenes Leben zu führen, sich für einen Job zu bewerben, gesund zu bleiben oder abzunehmen, sich gegen Mobbing von Kolleg/innen zur Wehr zu setzen oder trotz gelegentlicher Wünsche nach Gruppensex eine harmonische Beziehung zu führen – auch für das ausgefallenste Problem findet sich heutzutage ein Rezeptbüchlein.
Kaum jemand interpretiert es heute als Zeichen persönlicher Schwäche oder Unfähigkeit, sich von einem/einer Experten/Expertin darin unterstützen zu lassen, das Leben besser den gängigen Kriterien des Erfolgs entsprechend zu gestalten. Ganz im Gegenteil, gar nicht so selten gilt es schon als besonders hip, sich permanent durch irgendwelche Helfer mit Beratungsanspruch unterstützen zu lassen. Wer regelmäßig einen Ernährungs- oder Fitnesscoach aufsucht, oder sich einen Stylingberater leistet, verheimlicht das sicher nicht vor seinen Freunden; aber auch der Gang zum Paartherapeuten oder zum Lebensberater ist heutzutage kaum noch mit einem Makel behaftet. Und wer genug Geld hat, engagiert sowieso gleich einen Lifecoach, der ihm bei allen Lebensentscheidungen zur Seite steht. Dieses Berufsbild wurde in den 90er Jahren in den USA kreiert, mit dem erklärten Ziel, die Lebensqualität der Kund/innen zu verbessern. Ein Lifecoach gibt Empfehlungen bei problematischen Lebenssituationen, hilft beim Aufdecken persönlicher Lebensziele und bei der Lebens- und Karriereplanung. Sein Anspruch ist es, nicht bloß zugekaufter Problemlösungsunterstützer zu sein, sondern einfühlsamer Partner(ersatz), der mit seinen Klient/innen deren Probleme teilt.
Als Begründung für den ausufernden Beratungsboom wird meist mit der zunehmenden Komplexität des heutigen Lebens argumentiert. Die „Modernisierung“ der Gesellschaft und der galoppierende Wandel auf allen Ebenen bringe derartige Unsicherheiten und Orientierungsprobleme für die Gesellschaftsmitglieder mit sich, dass daraus ein anwachsender Bedarf nach Unterstützung bei der Lebensbewältigung entstehe. Schon in den 1990er Jahren wurde in der Soziologie ja die Metapher von der „neuen Unübersichtlichkeit“4 geboren und Soziologen gehen auch heute davon aus, dass der Wandel in der Werte- und Normenstruktur der Gesellschaft noch lange kein Ende finden wird. Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Bedingungen des Lebens – kurzfristige Arbeitsverhältnisse, mehr oder weniger lange Arbeitslosigkeitsperioden, unstete Partnerschaften, das Leben in Patchworkfamilien und dergleichen – sowie die daraus folgende Tatsache, dass Menschen mit völlig neuen Ansprüchen hinsichtlich der Bewältigung solcher Bedingungen konfrontiert sind, die mit ihrer „seinerzeit“ erworbenen Sozialisation oft nicht kompatibel sind, würden jene Verunsicherung hervorrufen, auf der das allgemeine Beratungsbedürfnis beruht. Der Beratungsboom ließe sich in diesem Sinn quasi als das Gegenstück zur – soziologisch ebenfalls sprichwörtlichen – „Risikogesellschaft“ erklären.
Tatsächlich ist es so, dass die „gesunde Normalpersönlichkeit“ immer nur in Relation zu den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen definiert werden kann. Welches Verhalten jemand zeigen muss, damit sein (relevantes) Umfeld ihm zu bescheinigen bereit ist, ein souveränes und „vernünftiges“ Individuum zu sein, leitet sich unmittelbar aus den aktuellen gesellschaftlichen Strukturen ab, die ihrerseits wieder den jeweiligen Machtverhältnissen geschuldet sind. Als „vernünftig und normal“ gilt das, was jeweils mit der Aufrechterhaltung der aktuellen Machtstrukturen kompatibel ist. Wenn es zur Normalität des heutigen Bewohners der Industriegesellschaft gehört, bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit Beratung in Anspruch zu nehmen, dann hat das somit nicht bloß mit einem unschuldigen gesellschaftlichen Wandel in Richtung von mehr Komplexität zu tun, sondern ebenfalls mit den vorfindlichen Machtstrukturen. Die Behauptung, dass Menschen heute zunehmend „flexible Persönlichkeiten“ ausbilden und ihr Ego ständig den aktuellen Anforderungen anpassen müssen, weil es die stabilen beruflichen und privaten Rollen, aus denen sich stabile Persönlichkeiten generieren, nicht mehr gibt und sie genau deshalb ständig nach Beratung suchen, mag eine korrekte Analyse sein; welche gesellschaftlichen Machtstrukturen die instabilen Lebensverhältnissen auslösen, erklärt sich damit jedoch keineswegs.
Neue Form der Menschenführung
Dass sich Beratung in den letzten Jahrzehnten zu einem Alltagsphänomen entwickelt hat, kann nämlich durchaus ganz anders gedeutet werden als bloß als eine Antwort auf die zunehmende Komplexität der Gesellschaft, nämlich als eine neue Form der Menschenführung. Im Sinne der von Foucault und Deleuze konstatierten, aktuell stattfindenden Mutation des Kapitalismus von einer Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft (siehe schulheft Nr. 118), etabliert sich gegenwärtig eine neue Form der Gouvernementalität. Konkret ist damit eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gemeint, sodass das, was jedes gesellschaftliche System zu seinem reibungslosen Funktionieren braucht – die Steuerung der Individuen im Sinne systemkonformen Verhaltens -, zunehmend eine neue Qualität annimmt. Um Gouvernementalität – die Form der Menschenführung – in der derzeit erodierenden „Moderne“ zu charakterisieren, benützen die beiden französischen Philosophen den Begriff Disziplinargesellschaft – konformes Verhalten der Gesellschaftsmitglieder wird in diesem System im Wesentlichen durch deren Einbindung in wechselnde Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, … ) und die dort jeweils wirkenden Disziplinierungsmechanismen erreicht. Die neue Führungsform der sich aktuell etablierenden Postmoderne charakterisieren Foucault und Deleuze als Kontrollgesellschaft – die Steuerung der Menschen in Richtung Normalität erfolgt hier durch unterschwellig wirkende und aufgrund der zunehmenden elektronischen Vernetzung immer unauffälliger wirksame Strukturen der Kontrolle und eine darauf aufbauende (scheinbare) Selbstdisziplinierung der Individuen.
Während in der Moderne eher harte Methoden der Zurichtung in Richtung Normalpersönlichkeit üblich waren – z. B. autoritäre Erziehung oder staatliche Gewalt -, etablieren sich in der Postmoderne weiche, an die verinnerlichte (ökonomische) Rationalität der Individuen appellierende Formen der Menschenführung – und dazu gehört eben ganz wesentlich auch Beratung! Folgt man dieser Lesart, ist Beratung nicht bloß der Not der Individuen geschuldet, sich in einer zunehmend komplexer werdenden Welt mit offenen Grenzen, anwachsenden technologischen Anforderungen, einer ökonomistischen Ausrichtung der Gesellschaft und erodierenden Familienstrukturen zurechtzufinden. Dies mögen vordergründige Auslöser sein, warum Menschen Beratungsdienstleistungen in Anspruch nehmen; Beratung ist jedoch trotzdem nicht bloß Begleiterscheinung, sondern wesentlicher Katalysator des gesellschaftlichen Wandels. Und Berater/innen sind nicht bloß freundliche Helfer/innen, die den Individuen beistehen, die dem Wandel geschuldete Unübersichtlichkeit zu bewältigen, sondern aktive Förderer dieses Wandels. Selbstverständlich ist ihnen das in aller Regel genauso wenig bewusst, wie es bisher den Lehrer/innen bewusst war, die bedeutendsten Sozialisationsagent/innen des gesellschaftlichen Systems zu sein. Diese Sichtweise macht deutlich, dass das auf allen Ebenen explodierende Phänomen Beratung letztendlich ein zutiefst politisches Phänomen ist, in ihm zeigt sich überdeutlich die „Pädagogisierung der Gesellschaft“ (siehe schulheft Nr. 116), jenes Prozesses, der Menschen dazu bringt, die ökonomische Logik derart zu verinnerlichen, dass sie die Zwänge des Kapitalismus nicht mehr als von Menschen auferlegt, sondern als naturgegeben begreifen.
Nicht umsonst gehört ja Beratung neuerdings auch zu den strategischen Maßnahmen der Europäischen Union. Neben dem schon seit etlichen Jahren propagierten „lifelong learning“ ist seit kurzem auch „lifelong guidance“ ein erklärtes Ziel der Union. In allen Mitgliedsländern sollen Beratungsmaßnahmen angeboten und ausgebaut werden, die „die Bürger jedes Alters in jedem Lebensabschnitt unterstützen, die strategisch richtigen Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsentscheidungen zu treffen sowie ihren persönlichen Werdegang in Ausbildung und Beruf selbst in die Hand zu nehmen“. Offenbar hat sich herausgestellt, dass viele Menschen noch nicht begriffen haben, dass sie nicht deshalb zu lebenslangem Lernen aufgefordert werden, um die Welt besser verstehen und besser in deren Gestaltung eingreifen zu können, sondern deshalb, „damit die Ziele der wirtschaftlichen Entwicklung, der Effizienz der Arbeitsmärkte sowie der beruflichen und geographischen Mobilität, die sich die Europäische Union gesteckt hat, erreicht werden können, indem sie die Wirksamkeit der Investitionen in die allgemeine und berufliche Bildung, das lebensbegleitende Lernen und die Entwicklung des Humankapitals und der Arbeitskräfte erhöht. „5 Sichergestellt soll werden, dass die im Rahmen der geforderten lebenslangen Lernprozesse notwendigen Entscheidungen, auch tatsächlich dem Metaziel der optimalen Vorbereitung des Humankapitals auf seine Verwertung untergeordnet sind – lebenslange „beratende Unterstützung“ der Menschen bei ihren „Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsentscheidungen“ scheint den zuständigen Gremien der EU ein diesbezüglich durchaus Erfolg versprechendes Rezept zu sein.
Das Instrument der sozialen Steuerung in der Kontrollgesellschaft ist das Marketing. Während sich in der Disziplinargesellschaft ein „anständiges Gesellschaftsmitglied“ durch das Bemühen ausgewiesen hat, den Erwartungen der ihm jeweils vorgesetzten Instanzen zu entsprechen, entscheidet sich gesellschaftliche Integration in der Kontrollgesellschaft über die mehr oder weniger gegebene Marktgängigkeit. Die nunmehrige Schlüsselfrage lautet: Was ist mein (Markt-)Wert? Wobei sich dieser im weltweiten System der Vernetzung zunehmend gar nicht mehr primär als Geldgröße ausdrückt, sondern verstärkt als unterschiedlich gegebene „Zugangsberechtigung“ in Erscheinung tritt – als ein am Chip gespeicherter Code, der mit Hilfe von Kreditkarte, Handy- und Internetanschluss oder einem sonstigen digitalen Schlüsselsystem in mehr oder weniger hohem Maß die Möglichkeit des Zugriffs auf Güter, Dienstleistungen und Informationen schafft. 6 Wer den Kriterien des Vermarktungssystems nicht entspricht, kann bestenfalls noch in einer Schattenwelt vegetieren, weitgehend abgekoppelt von den marktvermittelten Möglichkeiten, denn vom Markt belohnt wird nur, wer bereit ist, sich ganzheitlich am Markt zu opfern, und wessen Opfer vom Markt auch angenommen wird! Indem aber auch Gefühlswelt und Geselligkeitsbedürfnis des postmodernen Menschen immer stärker in warenförmiger Form im Bild-, Unterhaltungs-, Spiel- und Eventkulturbereich vermarktet werden, bedeutet „limited Access“ nicht bloß eingeschränkte materielle Möglichkeiten; letztendlich bedeutet nicht oder nur eingeschränkt „frei geschaltet“ zu sein verringerte Lebensmöglichkeiten im vollen Umfang seiner Bedeutung!
Flexibilität
Im disziplinargesellschaftlich-industriellen Kapitalismus bestand die Grundvoraussetzung, um im Konkurrenzkampf erfolgreich zu sein, darin, seine rationalen Fähigkeiten bestmöglich den vorab definierten Vorgaben einer möglichst hohen Position im hierarchischen Gefüge des Industriekapitalismus anzupassen. Im sich derzeit herausbildenden kontrollgesellschaftlich-postindustriellen Kapitalismus reicht es für den Erfolg jedoch nicht mehr aus, nach einem entsprechenden Ausbildungsprozess bescheinigt zu bekommen, eine in einem Fachgebiet zur Meisterschaft gelangte – gereifte – Persönlichkeit zu sein. Zu einem/einer Gewinner/in wird man im postindustriellen Kapitalismus nur, wenn man die Fähigkeit entwickelt, sich darüber hinaus permanent den Konjunkturen des Marktes anzupassen. Lautete die Metaforderung der Disziplinargesellschaft „Unterordnung“, heißt sie in der Kontrollgesellschaft „Flexibilität“. Genau deshalb erscheint heute der prototypische Lehrer – derjenige, der die ihm Anvertrauten an definierte Vorgaben heranführt – zunehmend anachronistisch, und deshalb wird auch von allen Seiten gefordert, dass er sich schleunigst zu einem (Lern-)Coach wandeln soll. Nicht der Lehrer, sondern der Berater entspricht den Strukturen der Kontrollgesellschaft – er orientiert sich nicht an einem Kanon ausgewiesener Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jemand entwickeln soll, er hilft bloß dabei, die je eigenen Stärken und Schwächen optimal an die aktuellen Erfordernisse des Marktes anzupassen. So wie im postindustriellen Kapitalismus die zeitlich limitierte Schule und Ausbildung dem lebenslangen Lernen und der permanenten Weiterbildung weichen muss, werden auch die Lehrer/innen zunehmend von den Berater/innen abgelöst.
Um die These nachvollziehen zu können, dass in der Kontrollgesellschaft zunehmend die Zunft der Berater/innen in die Rolle der zentralen Sozialisationsagent/innen schlüpfen und die Lehrer/innen aus der Funktion, die gesellschaftlichen Ordnungen und Machtverhältnisse nachhaltig in den Köpfen der Menschen zu verankern, verdrängen werden, ist es notwendig, die dem aktuellen Beratungsboom Pate stehende Philosophie zu verstehen. Beim eingangs skizzierten Beratungshype handelt es sich ja nur zum Teil um eine Ausweitung der klassischen Expert/innenberatung, wie sie beispielsweise beim Steuer-, Versicherungs- EDV- oder Finanzberater/in stattfindet. Zwar lassen sich auch in diesen „harten“ Beratungsbereichen gewisse Ausweitungen beobachten, dennoch ist es nicht das klassische Rat-Geben – bei dem sich jemand von einem besonders qualifizierten Fachmann sagen lässt, wie sich ein Problem optimal, dem aktuellen Expertenwissen entsprechend, bewältigen lässt -, das sich zunehmend zu einer zentralen Interaktionsform der Gesellschaft entwickelt. Überwiegend verweist der Begriff Beratung heute auf eine non-direktive Art der Unterstützung. Beratung in diesem Sinn gibt nicht Empfehlungen, dies oder jenes zu tun, sie versteht sich als „Hilfe zur Selbsthilfe“ – „Nicht-Bevormundung“ des Ratsuchenden gilt als ihr wichtigstes Prinzip. Diese als Prozessberatung bezeichnete Form ist dadurch gekennzeichnet, dass keine Lösungsvorschläge vorgegeben werden, sondern sich die Berater/innen nur als „professioneller Beistand“ begreifen, der die Klient/innen dabei unterstützt, selbst Problemlösungen zu entwickeln.
Was idealtypische Berater/innen somit von (klassischen) Lehrer/innen unterscheidet, ist, dass sie nicht mit dem Anspruch auftreten, jemandem zu sagen, „wo es lang geht“. Im Gegensatz zu Lehrer/innen, die Expert/innen für ein bestimmtes „Fach“ sind, sowie zu Rat gebenden Autoritäten, die einen „richtigen Weg“ auf Grundlage verbindlicher (Fach-)Prinzipien weisen, sind postmoderne Berater/innen – da sie ihre Unterstützungsleistung ja für die unterschiedlichsten Problemlagen anbieten – meist gar nicht in der Lage, eine aus fachlicher Sicht optimale Lösung vorzuschlagen. Die in anwachsender Zahl und unter unterschiedlichsten Titeln auftretenden Beratungsdienstleister/innen versprechen auch nur selten, für spezifische Problemstellungen die jeweils passende Lösung parat zu haben, sondern sie präsentieren sich in der Regel bloß als Expert/innen für das Problemlösen selbst. Sie unterstützen ihre – wie es im aktuellen Ökosprech nicht untypisch heißt – Kund/innen bei der Entscheidungsfindung nur mit Verfahrensvorschlägen zur Operationalisierung von deren Problemen. Selbst das wertfreie Aufzeigen von Lösungsalternativen gilt in der non-direktiven Beraterszene verschiedentlich schon als unzulässige Beeinflussung der Ratsuchenden. Aufgabe von Berater/innen sei bloß, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich der/die Klient/in bzw. Kund/in angenommen und sicher fühle, und ihm/ihr Vertrauen zu signalisieren, dass er/sie seine/ihre Probleme selbst zu lösen imstande sei. Mit dem Hinweis, dass jeder „echte“ Ratschlag ein Machtgefälle kreieren und die Souveränität der Ratsuchenden untergraben würde, wird argumentiert, dass die Entscheidung, was zu tun sein, dem/der Kund/in letztendlich niemand abnehmen darf, er/sie allein sei für die Lösung der Probleme zuständig und müsse den für ihn oder sie besten Weg selbst finden.
Maßstäbe des Status quo
Genau darin liegt aber die Crux der Sache: In postmodernen Beratungsprozessen existiert niemand, der aufgrund von mehr Wissen oder mehr Erfahrung für sich in Anspruch nehmen kann, den „richtigen“ Lösungsweg zu kennen – auf welches Kriterium der Evaluation baut aber dann die schlussendliche Annahme der Kund/innen auf, nach dem Beratungsprozess besser als vorher zu wissen, was sie tun sollen? Zur Verdeutlichung: Woraus könnte ein/e Lernende/r die Befriedigung schöpfen, selber einen Lösungsweg für eine Rechenoperation gefunden zu haben, wenn weit und breit niemand vorhanden ist, der ihm/ihr – aufgrund dessen, dass er ein mathematischer Experte ist – die Rückmeldung geben kann, dass das Ergebnis seiner Rechenoperation tatsächlich richtig ist? Ohne Kriterium, an dem sich beweist, dass eine Lösung richtig ist, gibt es keinen befriedigenden Lösungsweg! Die von der postmodernen Skepsis gegenüber objektiven Wahrheiten getragene, in der Prozessberatung praktizierte Abstinenz gegenüber normativen Wertungen verweigert aber genau dieses Kriterium. Die Professionalität des Beraters wird ja darin gesehen, Stellungnahmen bezüglich richtig-falsch, gesund-krank oder normal-abnormal im Klientenverhalten zu vermeiden. Indem sich Berater/innen in dieser Form weigern, als Autorität – als jemand, der hinsichtlich der Problemstellung mehr weiß – zu agieren, können sie weder eine Gegenautorität zu den gängigen gesellschaftlichen Erwartungen abgeben oder zu deren Hinterfragen anregen, noch können sie eine Instanz darstellen, an der Klient/innen sich „messen“ und damit ein Hinterfragen der gesellschaftlichen Normalität üben können. Als Kriterium, an dem sich die „Richtigkeit“ der im Beratungsprozess generierten Lösung beweist, bleiben somit letztendlich nur die Maßstäbe des Status quo übrig!
Das, was da an allen Ecken und Enden als Beratung angeboten wird, ist also keineswegs so ergebnisoffen, wie vielfach getan wird – durch Beratung werden Individuen systematisch den gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen! Während die Zurichtung der Köpfe in der Disziplinargesellschaft die unumstrittene Domäne von Lehrer/innen war, wird dieses Geschäft in der Kontrollgesellschaft von Berater/innen (bzw. von Lehrer/innen, die den Habitus von Berater/innen angenommen haben) übernommen. Und wurden den Menschen die Vorgaben des Status quo vordem mit den harten Methoden der Disziplinierung eingebläut, geschieht dies nunmehr durch die weichen Methoden der professionellen Befriedigung des menschlichen Urbedürfnisses nach Beziehung; die „Werkzeuge“ der Berater – Empathie, Vertrauen, Wertschätzung, … – stammen ja nicht zufällig durchwegs aus der „Beziehungskiste“. Es greift deshalb viel zu kurz, den Beratungsboom bloß als Reaktion auf den aktuell stattfindenden, durch anwachsende Unsicherheiten gekennzeichneten Wandel wahrzunehmen. Er ist keineswegs bloß „unschuldige“ Antwort auf diesen, sondern ganz wesentlich dessen Triebkraft! Berater/innen sind die Geburtshelfer/innen für die in der postindustriellen Gesellschaft geforderte permanente Selbstmodernisierung der Individuen. Sie sind die postmodernen Agenten der Normalisierung, die ihren Kund/innen auf sanfte – non-direktive – Art das Gift der Entmündigung einträufeln.
Die jeder Beratung zugrunde liegende Botschaft lautet: Unbefriedigende Situationen lassen sich durch Selbstveränderung optimieren. In einer Gesellschaft, die auf den Prämissen des Kosten-Nutzen Kalküls und der Marktkonkurrenz aufbaut, heißt das, sich im Sinne einer verbetriebswirtschaftlichten Lebensführung ständig um eine Verbesserung der Selbstvermarktungsfähigkeit bemühen zu müssen. Beratung war erfolgreich, wenn der Beratene gelernt hat, sein Verhalten dahingehend zu optimieren, dass er im Kampf jede/r gegen jede/n von der Verlierer- zur Gewinnerseite wechselt. Die Welt der „lifelong guidance“ ist untrennbar verknüpft mit dem zynischen Menschenbild des „survival of the fittest“. Beratung orientiert sich nicht an einem würdevollen Leben für alle, sondern am Sieg eines in Beratung stehenden Einzelnen oder einer als Kampfeinheit verbundenen Gruppe. Die Situation des/der Beratenen soll sich relativ zu der von anderen verbessern – das System, in dem das, was als „gutes Leben“ zählt, jeweils nur um den Preis möglich ist, dass andere zu Verlierer/innen gemacht werden, wird dabei in keiner Weise in Frage gestellt. Beratung steht in engem Konnex zum sich aktuell verschärfenden Konkurrenzkampf und fördert massiv das postmoderne Leitbild des „unternehmerischen Selbst“7 – permanent gilt es die eigene Marktgängigkeit zu optimieren, um auf den diversen Verwertungs- und Aufmerksamkeitsmärkten konkurrenzfähig zu sein. Im Sinne des Slogans einer bekannten Autofirma „Wer aufgehört hat, besser zu sein, hat aufgehört, gut zu sein“, gibt es für Marktfähigkeit aber kein Optimum – Beratung bleibt somit immer angezeigt. Und wer sich dieser Einsicht verweigert, braucht eines ganz gewiss, nämlich Beratung!
Anmerkungen
1 Titel eines Textes in: NZZ-Folio: Berater. Die Souffleure der hilflosen Gesellschaft. Februar 2006, S. 16ff.
2 Coaching im Betrieb. Professioneller Beruf oder nur Hilfe zur Selbsthilfe? In: http: //oe1. orf. at/highlights/53679.html (20.07.2007).
3 Tenzer, Eva: Gut beraten? In: Psychologie Heute 12/2003, S. 20.
4 Titel einer 1985 publizierten Aufsatzsammlung von Jürgen Habermas, in der dieser in den Entwicklungen in Politik und Gesellschaft einen neokonservativen Umschwung diagnostiziert und die Gesellschaft mit einem neuen autoritären Rechtsverständnis, einer Krise des Wohlfahrtsstaats und dem Verlust utopischer Energien konfrontiert sieht.
5 Entwurf zu einer Entschließung des Rates der EU über LLG.
6 Vgl. dazu insbesondere: Rifkin, Jeremy: Access. Das Verschwinden des Eigentums. Frankfurt am Main: Campus, 2000.
7 Vgl. : Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2007.
Dieser Beitrag erscheint auch im schulheft Nr. 127.