Der Kolumbusfalter
Streifzüge 41/2007
KOLUMNE Rückkopplungen
von Roger Behrens
Schon zu Beginn der Neuzeit, mit Shakespeare und Cervantes, galt die Literatur als Leitkunst im Kanon der Künste: Die Sprache war das Material, mit dem die Moderne ästhetisch legitimiert wurde; die bürgerliche Hochkultur entwickelte sich wesentlich als literarische Kultur. Mit der Klassik erreicht das seinen Höhepunkt; über die Literatur formiert sich das bürgerliche Subjekt, wird das individuelle Leben mit dem gesellschaftlichen Leben vermittelt. Schillers Forderung, das Theater als moralische Anstalt einzurichten, legt nicht weniger Zeugnis von der Bedeutung der Literatur ab wie die Selbstmordwelle, die Goethes , Werther‘ verursachte. In den anderen Künsten sucht man um 1800 sei’s solche Forderungen sei’s solche Wirkungen vergebens: Bildende Kunst, Musik, auch Architektur etc. waren weniger auf die vermittelt-vermittelnde Objektivität sozialer Verhältnisse bezogen, mehr auf „subjektive Innerlichkeit“. Erst im Übergang zur Romantik, die sich wesentlich auf diese Innerlichkeit kapriziert, entfalten sich auch die bürgerlichen Formen von Malerei und Tonkunst in voller Blüte.
Kunst ist Ausdruck der Geschichte; die Einheit des Kunstwerks bezeugt die Einheit des historischen Fortschritts. Doch mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Einheit über die Sprache der Ästhetik allein nicht mehr aufrechterhalten werden. Als System kann die Welt nur philosophisch begriffen werden; dass – nach Hegels Wort – das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich ist, kann Kunst allerhöchstens illustrieren; um Vernunft und Wirklichkeit zu erfassen, braucht es eine Logik des philosophischen Begriffs. Zwar bleibt die Literatur weiterhin Leitkunst, aber die Künste werden insgesamt in ihrer Funktion von der Philosophie abgelöst. Hegel deutet hier ein mögliches Ende der Kunst an – d. h. kein reales Verschwinden der Künste, sondern ihren Sinn- und Bedeutungsverlust. Die Romantik widerspricht dieser Diagnose: Das System selbst ist nicht aufrechtzuerhalten; die Behauptung einer philosophischen Einheit der Welt ist Illusion. Tatsächlich ist das Leben als Ganzes nur noch in seinen Fragmenten rekonstruierbar; die Philosophie kommt ohne die Kunst nicht aus, der Begriff nicht ohne das Bild. Damit steht aber auch die Leitkunstposition der Literatur infrage; andere Künste, die stärker auf das Bildliche ausgerichtet sind, gewinnen an Bedeutung, verbinden etwa wie die Musik Bild und Sprache zur Tondichtung.
Mit der Entfaltung der kapitalistischen Produktivkräfte im 19. Jahrhundert wird die Hochkultur zur Massenkultur, wird Kunst zur populären Kunst. Damit verwandelt sich der Erkenntnischarakter der Kunst, ihr Wahrheitsgehalt, zum Unterhaltungscharakter, dessen Aufgabe es gerade ist, von der Wahrheit abzulenken. Die Ästhetik der Rezeption und Produktion, die kontemplative Werkästhetik, die das Kunstwerk autonom und souverän setzt, wird nun konterkariert von einer Ästhetik der Zerstreuung. Mit der Massenkultur des 19. Jahrhunderts werden die Menschen nicht nur an die Kunst gewöhnt, sondern vor allem an die Gesellschaft.
Ganz entgegen der Hegelschen These vom Ende der Kunst bedeutet die kapitalistische Massenkultur für die Künste nachgerade einen Neuanfang. In der Funktionslosigkeit der Künste begründet sich ihre neue Funktion. Der technische Fortschritt erweitert ihren sozialen Wirkungsbereich enorm und bringt sogar neue Künste hervor. Hierbei ist nicht nur auf Fotografie und Film zu verweisen, sondern vor allem auch auf den Comic, die sequenzielle Bildergeschichte. Anders als Fotografie und Film, die zunächst noch mit Malerei oder Theater in Konkurrenz stehen, tauchen Ende des 19. Jahrhunderts Comics beiläufig in Zeitungen auf, finden schnell ein Massenpublikum. Dieser Kunstform sind die vermutlich weltweit bekanntesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu verdanken: Mickey Mouse und Superman. Comics haben sich sogar zum Leitmedium durchsetzen können, bevor sie vom Fernsehen in dieser Position abgelöst wurden.
In der Art und Weise, wie sich in Comics Bild und Schrift zu einer spezifischen ästhetischen Sprache verbinden, sind sie gegenüber Film und Fernsehen zwar nicht mehr unbedingt Leitmedium, aber in gewisser Hinsicht Leitkunst. („In gewisser Hinsicht“ heißt natürlich, dass diese These eingeschränkt werden muss, denn tatsächlich ist in der Popkultur die Popmusik Leitkunst, wenn auch wesentlich durch die visuellen Medien vermittelt. ) Comics sind die Fortsetzung der Leitkunst Literatur mit anderen Mitteln – mit Bildern. Mit anderen Worten: Comics sind die Leitkunst in der Gesellschaft des Spektakels. 1967 – also einhundert Jahre nach Marx‘ , Kapital‘ Band 1, auf dessen Anfangssätze hier angespielt wird, beginnt Guy Debord die , Gesellschaft des Spektakels‘ mit der These: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln … „. (Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 13) In der zweiten These konkretisiert er: „… Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.“ Das ist das Prinzip des Comics, zumindest der Geschichten, die Donald Duck, Tick, Trick & Track, Dagobert, Mickey, Goofy etc. seit vierzig Jahren in den so genannten „Lustigen Taschenbüchern“ erleben: Ebenfalls 1967 erschien das erste Heft, mittlerweile sind es 369 Ausgaben. Eine vierzig Jahre alte Bildgeschichte wie „Der Kolumbusfalter“ – wieder abgedruckt in der vierteiligen Jubiläumsedition – bezeugt den historischen Wert dieser Comics: weil es in dieser Welt nie Geschichte gegeben hat. Das moderne Leben in Entenhausen folgt seit jeher den Gesetzen der ursprünglichen Akkumulation; Kapitalismus ist nur ein Abenteuer zwischen Trickbetrug und Schatzsuche. Niemand muss hungern, kein Leben ist ernsthaft je bedroht. Das macht die Comics absurd, aber auch utopisch. Naiv ist damit jede Geschichte auch ein Entwurf einer anderen, besseren Welt; freilich ohne revolutionäre Hoffnung. Die einzige Perspektive ist, dass jeden Monat ein weiteres Heft erscheint und das Leben der Unlebendigen von Neuem beginnt – und auch damit spiegeln die Comics als Leitkunst etwas von dem Anspruch der bürgerlichen Ästhetik wider: Sie sind bloßer Schein.