Resümee: Beichte und Selbstkritik
von Berthold Unfried
aus: Berthold Unfried, „Ich bekenne“. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Campus, Frankfurt am Main-New York 2006, 388 Seiten, 44,90 Euro.
Die in der sowjetischen Staatspartei institutionalisierten Formen der Selbstthematisierung, die von einem selbstkritischen Modus geprägt waren, wurden der Einfachheit halber in diesem Buch als Selbstkritik bezeichnet. Parteimitglieder waren angehalten, in selbstkritischer Form über sich selbst zu sprechen, in der Regel im Rahmen von Parteisitzungen. Insofern diese Partei grundsätzlich als Kaderpartei konzipiert war, handelte es sich also um die Selbstthematisierung einer Elite. Sie färbte aber auf die ganze Gesellschaft ab. In den Selbstkritikkampagnen von 1928 und 1937 waren auch Nichtparteimitglieder zur Teilnahme aufgerufen.
Grundsätzlich ist Selbstkritik eine Konzept gegenseitiger Überwachung von Gleichen (als Parteimitglieder). Darin liegt ein grundlegender Unterschied zur Beichte. Die okzidentale sakramentale Ohrenbeichte (wenn wir absehen von den nichtsakramentalen Formen des mönchischen Sündenbekenntnisses, für die das nicht unbedingt gilt) ist gekennzeichnet vom Bekenntnis an eine pastorale Autorität, einen Vorgesetzten im Glauben und in der religiösen Praxis. Dieses pastorale Element fehlt in der Praxis der Selbstkritik.
Ein weiterer grundlegender Unterschied ist die Asynchronität der Konjunkturen von Beichte und Selbstkritik. Als die Praxis der Selbstkritik ihren Aufstieg nahm, in den Dreißiger Jahren des 20. Jhs. , befand sich die Beichte schon seit langem im Niedergang. Die Blüte der Selbstkritik war kurz. Schon in nachstalinistischer Zeit, also seit Mitte der 1950er Jahre, verlor sie in den „realsozialistischen“ Systemen ihre Dynamik und war schon vor dem Zusammenbruch dieser Systeme weitgehend zu einer leeren Form erstarrt. Nach einer mimetischen Wiederbelebung in bestimmten linksradikalen Gruppen der 1970er Jahre in Westeuropa ist diese Form heute tot und hat sich damit wesentlich schneller überlebt als die jahrhundertelange Beichtpraxis.
Ins Auge sticht die unterschiedliche Quellenlage. Der grundlegende Unterschied zwischen der Selbstkritik als einer öffentlichen und der Beichte als einer prinzipiell nichtöffentlichen Veranstaltung schlägt sich auch in den Quellen nieder. Die Selbstkritik hat, da öffentlich, reichlich Quellen hinterlassen. Sie wurde, auch in einer Überwachungsabsicht, oft wörtlich protokolliert. Die Quellen zur Beichtpraxis hingegen sind wegen des Beichtgeheimnisses sehr rar. Der Beichtvorgang wurde nicht verschriftlicht.
Was spricht angesichts dieser Unterschiede dafür, diese beiden asynchronen und in unterschiedlichen Gesellschaften beheimateten Formen zu vergleichen?
Zunächst die Seltenheit solcher Praktiken der Selbstthematisierung: Es gibt im europäischen Raum keine anderen institutionalisierten Formen des Sprechens über sich selbst, die mit einem vergleichbaren Maß an Verbindlichkeit ausgestattet waren. Ein Vergleich empfiehlt sich schon, um diesen beiden Formen ihre ideologische Fixierung zu nehmen und sie überhaupt einmal auf eine gemeinsame Ebene als Formen des Sprechens über sich selbst zu bringen. In der Essenz waren Beichte und Selbstkritik Praktiken institutionalisierter Selbstthematisierung, der Formierung des Subjekts im Rahmen von hierarchischen Institutionen. Der Einzelne spricht über sich im Rahmen dieser Institutionen und zwar anhand der von diesen Institutionen vorgegebenen Muster. Die Subjektkonstituierung geht von der Institution aus und nicht vom Einzelnen. Ähnlichkeiten der Form und der Funktion werden vor dem Hintergrund der tiefgehenden Unterschiede deutlich.
Auf der Ebene der Themen war in der Beichte die Bedeutung der Sexualität größer. Die Sexualität erscheint geradezu als zentrales Thema der Beichte und ihre Kontrolle als eine Hauptsorge der Kirche. In der Selbstkritik ist die Sexualität ein zwar spektakuläres, aber doch nicht allzu häufiges Thema. Es gibt weniger Diskurs dazu, und ihre Kontrolle scheint jedenfalls nicht die Hauptsorge der Partei gewesen zu sein. Eine Gemeinsamkeit ergibt sich in der Frage der Geschlechterverhältnisse, obwohl diese im Stalinismus ganz anders gestellt und beantwortet wurde als in der katholischen Kirche. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass beide Formen einen Ausweg zur Mediatisierung männlicher Gewalt boten. Kirche und Partei bemühten sich, die Sexualität, und insbesondere die männliche Sexualität, in die zu ihrer Ausübung vorgesehenen sozialen Rahmen zu bringen: Das war in beiden Fällen die Familie, wenn auch die Vorstellungen von der Familie beträchtlich differierten. Beichte wie Selbstkritik waren ein Mittel zu dieser Männersozialisierung. Sie boten den in eben dieser Familie drangsalierten Frauen überdies ein Forum zur Thematisierung ihrer Nöte. Unkontrollierte, nicht an die erwünschten sozialen Formen gebundene Sexualität um ihrer selbst willen erscheint in beiden Formen als Ausdruck eines asozialen Individualismus. Was in der stalinistischen Selbstkritik „kleinbürgerlicher Individualismus“ heißt, erscheint in der Beichte als „übersteigerte Ich-Betonung“. Beides ist eng an die Sexualität geknüpft.
Das Element der Schuldtilgung fehlt in der stalinistischen Praxis von Kritik und Selbstkritik. Aufrichtiges Bekenntnis ist keine Garantie, sich damit der Schuld und Sünde zu begeben. Das Bekenntnis wird protokolliert und in den Kaderdossiers aufbewahrt. Es kann jederzeit wieder aktualisiert werden, eine Möglichkeit, von der auch reichlich Gebrauch gemacht wurde, wie zahlreiche Beispiele zeigen. In der Ohrenbeichte ist durch das Prinzip des individuellen und geheimen, den anderen Gemeindemitgliedern entzogenen Sündenbekenntnisses an den Spezialisten der Potenzialität, dass Sündenbekenntnis im Kollektiv in gegenseitigem Terror mündet, ein Riegel vorgeschoben. Durch die Absolution werden die Sünden ausgelöscht. Sie können zwar im Rahmen einer Generalbeichte wieder zur Sprache kommen. Doch kann ihre Vergebung nicht rückgängig gemacht werden, falls sie gültig erfolgt ist. In diesem Sinn erledigte Rechnungen können nicht wieder neu eröffnet werden. Die Gemeinde hat dabei nichts mitzureden.
Diese Unterschiede kommen auch in der autobiographischen Darstellung des Einzelnen zum Ausdruck. In der Beichte, zumindest in ihrer elaborierten Form, stellt der Einzelne sein Leben als Sündenbiographie dar. Diese Selbstdarstellung wird nicht verschriftlicht, sie verbleibt allenfalls im Gedächtnis des Beichtvaters (falls er als ständiger Seelenführer agiert) und vor allem des Poenitenten, dessen autobiographisches Bewusstsein sie beeinflusst. Die „Autobiographie“ des Parteikaders dagegen wird auf vielfältige Weise verschriftlicht und archiviert. Sie ist zwar auch in einem selbstkritischen Grundton verfasst, aber keine reine Sündenbiographie. Dafür ist sie festgeschrieben und nicht geheim. Sie bleibt am Einzelnen sein Parteileben lang hängen. Dieser Umstand, dass jeder seinen verschriftlichten Lebenlauf samt der darin verzeichneten Fehler auf Dauer mit sich führt und sich mit ihm beschäftigen muss, mag „biographiestiftender“ wirken als die abschnitthafte Sündentilgung in der Massenform der Ohrenbeichte.
Als zentraler Unterschied kann resümiert werden: Wenn sich das okzidentale Individuum – in Foucaults Sicht – durch nichtöffentliches (Sünden-)Bekenntnis an vorgesetzte Spezialisten (von Priestern bis zu Psychoanalytikern) als Subjekt konstituiert hat, so das sowjetische Subjekt durch öffentliches Bekenntnis und Reuebezeugung im Kollektiv, also einer Gemeinschaft von prinzipiell Gleichgestellten. Als wichtigste Gemeinsamkeit, die dennoch einen Vergleich erlaubt: Beides waren „subjektivierende“, subjektkonstituierende Praktiken. In ihnen treten uns über die Quellen, die sie hinterlassen haben, Menschen als Subjekte entgegen, indem sie von sich selbst sprechen. Sie sprechen in einem vorgegebenen Rahmen und in einem normierten Diskurs, aber mit dem Thema ihrer eigenen Biographie. Sie sprechen von sich selbst, indem sie über ihre Fehler und Sünden sprechen. Beichte und Selbstkritik haben das gemeinsame Charakteristikum, dass es sich um Selbstthematisierungen in Form von Selbstbezichtigungen, von Selbstanklagen handelt. Es sind Praktiken der Identitätsstiftung in institutionellem Rahmen. Der Einzelne steht der Institution in einem Verhältnis der Schuldigkeit gegenüber. Nicht vom Einzelnen wird in diesem Verhältnis ausgegangen, sondern von der Institution. Das Subjekt, das sich so konstituiert, unterscheidet sich von dem autonom gedachten Individuum als Subjekt der modernen bürgerlichen Gesellschaft.
19.1. Scham, Schande und Schuld
Beichte und Selbstkritik können auch als Einrichtungen gesellschaftlicher Konfliktbewältigung, der Korrektur von Fehlern („Sünden“, „Abweichungen“) und der Wiedereingliederung von Devianten gesehen werden. Das ist zweifellos eine Funktion, in der sie vergleichbar sind.
Die US-amerikanische Anthropologin Ruth Benedict hat versucht, nach der Art, in der die Thematisierung von Verfehlung und Devianz erfolgt, eine Einteilung in Kulturen der Scham und Schande und in Kulturen der Schuld vorzunehmen. Als Schande soll hier der öffentliche Sanktionsvorgang verstanden werden, und Scham als Gefühl, den diese Prozedur in jenem Menschen hervorruft, der dieser öffentlichen Schande ausgesetzt wird. Schande ruft also Scham hervor. In „Schamkulturen“ erfolge die Thematisierung von Fehlern in einer dem Blick der Gemeinschaft offenen Weise. Andersherum gesehen erzeugt Scham nur, was dem Blick der Gemeinschaft zugänglich geworden, was sozial bemerkt worden ist. Die Gemeinschaft kontrolliert den Einzelnen über Prozeduren, die ihn der Schande aussetzen. „Schuldkulturen“ basierten dagegen auf einem internalisierten Schuldbewusstsein, dem Gewissen, das sich in Bekenntnissen eine Stimme verleihe. Der schuldbewusste Mensch kontrolliert sich selbst.
In den nicht christlich geprägten Kulturen Afrikas, macht sich der Journalist Ryszard Kapuscinski dieses Konzept zu eigen, gebe es den Begriff der Sünde nicht. Die Verfehlung, das Böse, äußert sich nur in Handlungen, eine böse Absicht wird nur dann sozial geahndet, wenn sie sich in Handlungen niederschlägt und entdeckt wird. „In der christlichen Tradition wird die Schuld verinnerlicht: Die Seele leidet, das Gewissen zwickt, der Kummer quält uns. [… ] Anders in Gesellschaften, in denen das Individuum nicht für sich existiert, sondern nur als Element der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft nimmt die private Verantwortung von uns, es gibt keine individuelle Schuld und damit auch kein Gefühl von Sünde.“ In der afrikanischen Tradition sei „kein Platz für die Zerrissenheit und das Drama Raskolnikows. [… ] Denn entweder habe ich nichts Böses getan, weil nichts entdeckt wurde, oder das Böse wird, wenn es ans Tageslicht kommt, im selben Moment bestraft – und damit wieder aufgehoben.“ Das Konzept der Sünde in Gedanken und in Worten sei diesen Gesellschaften fremd. Die Sünde der Werke wird als Vergehen betrachtet, das durch seine soziale Bestrafung sogleich aufgehoben wird.
Hinter dieser Unterscheidung zwischen „Schamkulturen“ und „Schuldkulturen“ ist leicht die von Mauss ausgehende Unterteilung in „soziozentrische“ und „egozentrische“ Kulturen zu erkennen, die zu Beginn dieses Buches skizziert wurde. „Soziozentrische“ Kulturen regulieren Norm und Abweichung durch den öffentlichen Blick auf den Einzelnen, „egozentrische“ dadurch, dass sie im Einzelnen Schuldgefühle erzeugen, die wirksam sind, auch wenn sie vom Kollektiv nicht bemerkt und sanktioniert werden. Der Einzelne bekennt sie selbst.
Das ist eine Unterscheidung, in die wir die Geschichte der Beichte, verstanden als das Sakrament der Buße, im Sinne einer jahrhundertelangen Entwicklung von „Scham“ zu „Schuld“ noch einschreiben können. Diese Tendenz mag in ländlichen Milieus und in der religiösen Volkskultur wenig sichtbar gewesen sein, wo Beichte und Buße bis ins 20. Jh. hinein Elemente einer Schandprozedur hatten insofern als von jemandem, der nicht zur Kommunion ging, angenommen werden konnte, dass er die Absolution nicht erhalten hatte. Der Zustand der Sünde, die nicht vergeben worden war, wurde dadurch in überschaubaren Gemeinschaften indirekt nach außen hin sichtbar. Für die lange historische Entwicklung mag man das Konzept einer Entwicklung von „Scham“ zu „Schuld“ aber noch anwendbar finden. Die Beichte hätte sich in diesem Sinn grosso modo von einem Ritual des Ausschlusses und der Wiedereingliederung in die Glaubensgemeinschaft zu einem dem Blick der Gemeinschaft entzogenen inneren Tribunal entwickelt, in dem die Zeichen der Reue und des Willens zur Umkehr des Poenitenten dem Urteil des Spezialisten in der Materie, des Priesters, unterworfen werden. Im Zuge der Säkularisierung, des Rückzugs kirchlicher Praktiken aus der Gesellschaft, und der „Psychologisierung“ der Beichte hätte die Beichte immer mehr den Charakter eines gesellschaftlichen Fehler- und Schuldbewältigungsvorganges zugunsten weltlicher Institutionen (der Gerichtsbarkeit, der Psychologie, etc. ) verloren.
Ruth Benedict meinte aber auch, dass „Schamkulturen“ nicht zu Bekenntnissen von Schuld disponierten. Das mag vielleicht für die japanische Kultur gelten, die Benedict untersuchte, allenfalls auch für die chinesische. Auch der traditionellen chinesischen Kultur soll Selbstkritik fremd gewesen sein, da sie mit „Gesichtsverlust“ vor der Gemeinschaft verbunden gewesen wäre und damit mit „sozialem Tod“. Für chinesische Studenten habe die Praxis der Selbstkritik die Übernahme eines letztlich christlich-europäisch geprägten Konzepts bedeutet. Im maoistischen Herrschaftssystem in China wurde Kritik und Selbstkritik im Rahmen von „Gedankenreform“ praktiziert. Das Durchbrechen der Schambarrieren durch die öffentliche Selbstkritik einer Person löste Emotionen – Angst, Hass, Verzweiflung – aus. Dieser „Gesichtsverlust“ war Voraussetzung für den Erwerb eines neuen, eines „Parteigesichtes“. Dazu wurden die freigesetzten Emotionen energetisch nutzbar gemacht. Die chinesische Form der Selbstkritik wirkte in dieser Interpretation also mit der Übertretung des traditionellen Schamgebots, die durch öffentliche Selbstanschuldigung bewirkt wurde. Sie integrierte eine traditionelle Schandprozedur, indem im Rahmen von „Kampfsitzungen“ eine Person mit äußeren Zeichen der Scham versehen – in gebeugter Haltung und mit „Schandhut“ angetan – der konzentrierten „Kritik“ der Gruppe ausgesetzt wurde, die sich durchaus nicht in Worten erschöpfen musste, sondern auch handgreiflich werden konnte. Das wären Zeichen einer „Kultur der Scham“ bzw. „Kultur der Schande“ im Sinne Benedicts.
Die sowjetische Praxis der Selbstkritik lässt sich allerdings nicht wirklich gewinnbringend in einen Gegensatz zwischen „Scham“, die durch eine öffentliche Schandprozedur hervorgerufen wird, und einem „Bekenntnis“ von „Schuld“ stellen. Ein Ritual der „Schande“ ist darin mit einem Bekenntnis von Fehlern verbunden. Im Wesentlichen ist die Selbstkritik ein Sprechakt, der unter dem Blick des Kollektivs in Parteisitzungen (oder auch in den Schauprozessen) auch zu einem „Schandritual“ werden konnte. Die Thematisierung von Verfehlungen, von Devianz, ist in der Tat außenbestimmter als in der Beichte. Ob Selbstkritik ein Gefühl innerer Schuld zum Ausdruck brachte, ob also jemand, der von seiner „großen Schuld“ der Partei, dem Kollektiv gegenüber sprach, sich auch tatsächlich schuldig fühlte, darüber sagen uns die Quellen meist nicht sehr viel. Aber es kann nicht einfach auf die Abwesenheit von Schuldgefühlen geschlossen werden. Die sowjetische Praxis der Selbstkritik hat jedenfalls eine kaum zu übertreffende Menge an Dokumenten von Bekenntnissen und „Geständnissen“ hinterlassen. Die Nachfolgerin Benedicts im selben Regierungsauftrag, die Kulturen von Kriegsgegnern der USA im Zweiten Weltkrieg zu analysieren, die Anthropologin Margaret Mead, hat in Bezug auf die Sowjetunion auf den Internalisierungs- und Subjektivierungsprozess aufmerksam gemacht, den die sowjetischen Bemühungen zur Schaffung eines neuen Menschentyps angestoßen hätten.
Externalisierung, öffentliche Darstellung und gesellschaftliche Bearbeitung von Schuld finden auch in „Schuldkulturen“ statt. Könnte man nicht die Selbstenthüllungen in heutigen Talk-shows als öffentliche Thematisierung von Scham werten? Und ist es nicht ein Schamtheater, wenn ein US-Präsident mit tränenerstickter Stimme und allen Zeichen von Zerknirschung im Fernsehen sichtbare „Reue“ für sexuelle „Verfehlungen“ übt? Drücken solche Übungen ein Gefühl von Schuld aus, welches eine innerpsychische Instanz, das Gewissen, erzeugt hat? In Benedicts Sicht wären aber die USA mit ihrer puritanischen Tradition zu den „Schuldgesellschaften“ zu zählen. Geht man vom Kriterium des öffentlichen Blicks aus, dann könnte die sowjetische Selbstkritik zweifellos zu den Praktiken einer „Schamkultur“ gezählt werden, allerdings auch die Selbstenthüllung in der Talk-show. Bei letzterer ist es wiederum fraglich, ob sie wirklich primär als eine Prozedur interpretiert werden kann, in der es um Scham geht, oder nicht eher um eine Form von narzisstischem Exhibitionismus. Hinter entäußerter, veröffentlichter Scham kann auch inneres Schuldgefühl stecken. Es ist nur in den Quellen – wie jenen zur Selbstkritik – schwer zu fassen. Soll man aber daraus schließen, dass es nicht vorhanden war? In diesem Licht zeigt sich die Benedict’sche Trennung von Gesellschaften der Scham und Gesellschaften der Schuld unscharf und nicht mehr operationell.
Um Vergleichbares zwischen Beichte und Selbstkritik herauszuarbeiten und gleichzeitig den Blick für die Unterschiedlichkeit dieser beiden Formen zu schärfen, erscheint ein Zugang von zwei anderen Richtungen erhellender. Erstens vom Blickwinkel auf die Formen der Einbettung, auf die sozialen Rahmen, innerhalb derer die Selbstthematisierung stattfindet. In beiden Fällen war das eine gesellschaftsumspannende hierarchische Organisation, die Kirche und die Partei. Öffentliche Selbstkritik eignet Gemeinschaften, die sich als Elite („Virtuosen“) eines Menschenreformprojektes verstehen. Selbstkritik vor der Elitengemeinschaft ist dazu ein Instrument. Selbstkritik mit diesem Impetus, der Menschenreform mit unbedingter Parteitreue verband, etwa im Verhältnis der Geschlechter zueinander als Parteimitglieder, gab es in maoistischen Gruppen in Westeuropa während der 1970er Jahre, in jüngerer Zeit auch in Gruppen wie der kurdischen PKK oder dem peruanischen Sendero luminoso. Selbsterziehung und Erziehung durch das Kollektiv werden durch Kritik und Selbstkritik miteinander verbunden. Die Ausweitung dieser Elitenpraxis auf eine Staatspartei, somit auf einen großen Teil des Staates und der Gesellschaft, ist unweigerlich mit einer Verwässerung des umfassenden Umgestaltungsanspruchs des Menschen und mit einer Ritualisierung der Praxis der Selbstkritik verbunden. Was bleibt, ist die normative Ausrichtung des Einzelnen an den Richtlinien der Partei. Diese Einbettung der Selbstthematisierung des Einzelnen in eine Institution, die in der Gesellschaft verankert ist und zu der der Einzelne in einem Verhältnis der Unterordnung und der Schuldigkeit steht, ist ein großer Zug der Gemeinsamkeit mit der Beichte. Auch die Beichte hat eine Tradition des öffentlichen Bekenntnisses von Verfehlungen in der Virtuosengemeinschaft der Orden. Das ist aber nicht das Muster für die sakramentale Beichte geworden. Die sakramentale Ohrenbeichte für die Masse der Gläubigen ist vielmehr durch die Vereinzelung des Bekenntnisaktes und die Verhüllung des Bekenntnisses charakterisiert, die den Einzelnen dem kontrollierenden Blick der Gemeinschaft weitgehend (mit Ausnahme solcher Kontrollmöglichkeiten wie der Ausschließung von der Eucharistie im Falle der Verweigerung der Absolution oder der Ausgabe von Beichtzetteln) entziehen. Dieses Spannungsfeld von privat und öffentlich ist der zweite Blickwinkel, der einen Vergleich eröffnet, und dieser lässt die Unterschiede hervortreten. Denn diesen exklusiven, „privaten“ Charakter hatte die Praxis der Selbstkritik nicht. Sie fand in der Parteiöffentlichkeit statt.
Die neueren Formen der Selbstthematisierung lassen sich in die genannten Unterscheidungen wiederum nicht so einfach einfügen. Ein Bekenntnis unter Gleichen in der Gruppe gibt es auch in Gruppentherapien. Diesen fehlt aber der Aspekt einer Unterordnung unter eine normensetzende Institution. Auch bei der Psychoanalyse handelt es sich um ein Bekenntnis eines Einzelnen einem Spezialisten gegenüber. Doch ist diese Praxis nicht in einer Institution verankert, die ihre Normen über die Gesellschaft verbreiten würde. In der Talk-show spricht der Einzelne zu einer anonymisierten Masse von Zuschauern. Doch seine Rede wird nicht unmittelbar in ein Normensystem eingebunden, und die Zuschauer können aus der Darbietung wahrscheinlich nicht viel mehr abziehen, als die Erfahrung dessen, was in der Öffentlichkeit wie thematisierbar ist. Wenn die Talk-show ein Lehrstück ist, dann nimmt es die Form eines unterhaltsamen Theaters an. Die Unterscheidung öffentlich/privat lässt sich auf diese Formen nicht mehr trennscharf anwenden. Gemeinsam ist ihnen aber, dass das Verbindliche und das Normative fehlen. Die Moral wird heute nicht mehr in gesellschaftsumspannenden Institutionen erzeugt. Sie wird jedenfalls unter anderem auch in Talk-shows durch Darstellung von individuellen Lebensgeschichten und Auslotung des normativen Spielraums durch deren Präsentation vor dem Studiopublikum und der Fernsehöffentlichkeit hergestellt.
19.2. Strukturen institutionalisierten Sprechens über sich selbst
Abschließend sollen verschiedene Parameter der Selbstthematisierung in (Ohren)Beichte und in Selbstkritik gegenüber gestellt werden um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu veranschaulichen.
Ohrenbeichte | Selbstkritik | |
Form der Veranstaltung | einzeln | kollektiv (Parteiversammlung) |
Veranlassung | individuell, „freiwillig“, de facto aber gesellschaftliche Verpflichtung/institutioneller Druck | habituelle Praxis für jedes Parteimitglied, verpflichtend |
Öffentlichkeit | geheim | öffentlich |
Dokumentation/Überlieferung | nicht verschriftlicht | protokolliert, in Personendossiers zusammengefasst |
Verhältnis Einzelner/ Institution | Poenitent/Beichtvater | Parteigenosse im Kollektiv unter theoretisch Gleichen |
Inhalt/Themen | Privatleben, öffentliches Verhalten, innere Motivationen; große Bedeutung der Sexualität | Privatleben, öffentliches Verhalten, innere Motivationen; geringere Bedeutung der Sexualität |
Struktur der Rede | strukturiert durch Beichtspiegel und Fragen des Beichtvaters | eingelernte Stücke des offiziellen Diskurses; Wechselrede mit Genossen |
Form der Rede | Selbstanklage | Selbstanklage |
gesellschaftliche Kontrolle/ Sanktionen | indirekt: Ausschluss vom Empfang der Eucharistie (Reste sichtbarer Buße); „spricht sich herum“ | direkt: Parteistrafen, Partei-ausschluss, Rückversetzung in Kandidatenzustand (kann als Form von Bußzustand gesehen werden);
indirekt: berufliche Sanktionen; Odium |
Reue | vor dem Beichtvater im Beichtstuhl | vor dem Parteikollektiv |
Bußleistung | formalisiert (Sprechakte: Gebete), im Wesentlichen der Öffentlichkeit entzogen | formalisiert („gesellschaftliche Arbeit“, etc. ); Bewährung durch Handlungen; in der Parteiöffentlichkeit |
Was passiert mit dem Bekenntnis? | Sünde vergeben; ohne Spur | Protokoll aufbewahrt als Zeugnis |
Finalität und Resultat des Vorgangs | Reinigung bis zum nächsten Rückfall | Erziehung („Neuer Mensch“) oder Ausschluss als verdorbenes Element |
Zum Vergleich können zwei nicht im selben Maß institutionalisierte Formen des Sprechens über sich selbst gegenübergestellt werden: die Psychoanalyse und die Bekenntnisshowvariante der Fernseh-Talk-show.
Psychoanalyse | |
Form der Veranstaltung | einzeln |
Veranlassung | individuell |
Öffentlichkeit | geheim (Neurotikervertrag) |
Dokumentation/Überlieferung | nicht verschriftlicht |
institutionelle Struktur | Analysand/Analytiker (Spezialist) |
Inhalt/Themen | intimes Privatleben, innere Motivationen; große Bedeutung der Sexualität |
Struktur der Rede | frei, unstrukturiert |
Form der Rede | frei |
gesellschaftliche Kontrolle/Sanktionen | keine; indirekt: wenn auffällig deviantes Verhalten (Motivation, zum Analytiker zu gehen = Korrektur) |
„Bußleistung“ | keine |
Was passiert mit dem Bekenntnis? | dient als Interpretationsmaterial des Analytikers |
Finalität und Resultat des Vorgangs | Persönlichkeitsveränderung; Stärkung des Ich |
Bekenntnis in der Fernseh-Talk-show | |
Form der Veranstaltung | einzeln, teilweise auch Personengruppen |
Veranlassung | individuell? Person wird nach Unterhaltungswert und „Originalität“ ausgesucht |
Öffentlichkeit | Publikum im Senderaum und TV-Zuseher |
Dokumentation/Überlieferung | Video-Archiv |
institutionelle Struktur | Talk-master/“Mensch aus dem Volk“ |
Inhalt/Themen | intime Bekenntnisse aus dem Privatleben; Themen von aktueller Relevanz |
Struktur der Rede | strukturiert durch Fragen des Moderators; auch eingeübte Dialoge |
Form der Rede frei (aber: eingeübte Dialoge; Praxis solcher Shows, die sich in standardisierender Weise herstellt) | |
gesellschaftliche Kontrolle/Sanktionen | keine; Ausloten des in der Öffentlichkeit Sagbaren |
„Bußleistung“ | keine |
Was passiert mit dem Bekenntnis? | dient der Unterhaltung und der Identifikation der Zuseher |
Finalität und Resultat des Vorgangs | Unterhaltung, mediale Präsenz, Vorführen von Biographiebruchstücken |
Dieser Vergleich zeigt die unterschiedlichen Arten, wie durch die Rede des Einzelnen über sich selbst festgelegt wird, was gut und schlecht ist, was Sache des Einzelnen ist und was Sache der Gesellschaft, was privat und was öffentlich. Er erhellt Einiges von der Einbindung des Einzelnen in die Gesellschaft und wirft damit ein Licht darauf, was diese Gesellschaft im Innersten zusammen hält. Formen der Selbstthematisierung führen uns zum Kern der Funktionsweise einer Gesellschaft. Das ist der Reiz der Beschäftigung damit.