Kommunikation und Konsum
Streifzüge 38/2006
von Ulrich Enderwitz
Kommunikation kommt aus dem Lateinischen, ist die substantivierte Form des Verbs communicare, das sich von dem Wort communis, gemeinsam, ableitet, das wiederum auf das Verb munire, Mauern oder Schanzwerke errichten, verweist, so dass es sich wörtlich mit gemeinsame Mauern habend wiedergeben ließe. Unser Wort Kommune hält diesen ursprünglichen Sinn nach wie vor ziemlich genau fest. Communicare hat im Lateinischen einen Bedeutungsumfang, der von gemeinsam machen über geben und teilnehmen lassen bis zu besprechen und sich beraten reicht.
Vor seiner modernen Wiederaufnahme und inflationären Verwendung überlebt in der europäischen Neuzeit der Begriff eigentlich nur in einer militärisch spezialisierten Bedeutung: Da bezeichnet er die Übermittlung von Informationen unter den erschwerten Bedingungen teils ihrer Geheimhaltung vor dem militärischen Gegner, teils ihrer Absicherung gegen Störungen und Vereitelungen durch den militärischen Gegner.
Der inflationäre neue Gebrauch, der gegenwärtig von dem Begriff gemacht wird, scheint mit dieser militärischen Spezialbedeutung nichts zu tun zu haben. Schon deshalb nicht, weil bei dieser neuen Kommunikation die Übermittlung von Informationen gar keine oder höchstens eine nur sekundäre Rolle spielt. Wer heute Kommunikation sagt, der denkt nicht primär an objektive Vorgänge, an Austausch von Informationen, sächliche Mitteilungen, Verständigung über etwas, sondern an subjektive Befindlichkeiten, persönlichen Kontakt, Verständigung als gegenstandsloses „Einanderverstehen“, Gesprächsklima, Austausch sans phrase. Kommunikation ist ein Sprechen, bei dem nicht sowohl der Inhalt und Gegenstand der Mitteilung als vielmehr der Mitteilungsakt selbst und als solcher im Mittelpunkt steht.
Nicht zufällig zählen die christlichen Gemeinschaften, die Fachleute für irdisches klimatisiertes Miteinander (denn auf diese sozialtechnische Aufgabe ist das Christentum mittlerweile reduziert, sieht man einmal von den wohlfahrtsstaatlichen Funktionen ab, die die Kirchen mit Hilfe der ihnen zugewiesenen Steuermittel außerdem noch wahrnehmen), zu den eifrigsten Propagatoren solcher modernen Kommunikation.
Ist Gegenstands- beziehungsweise Intentionslosigkeit oder jedenfalls die relative Unerheblichkeit dessen, worüber man sich austauscht, das eine hervorstechende Merkmal der Kommunikation, so deutet die obige Wendung vom Austausch sans phrase zugleich schon ihr zweites auszeichnendes Charakteristikum an: Kommunikation ist anders als die traditionelle Verständigung kein explizit oder gar ausschließlich sprachliches Verhalten. Seitdem der Begriff mit den nachexistenzialistisch-strukturalistischen Theoriebildungen in den sechziger und siebziger Jahren richtig in Mode gekommen ist, haben die diversen Vertreter dieser Theorien – ein Lévi-Strauss, Leach, Habermas, Lorenzer und wie sie alle heißen mögen – größten Wert darauf gelegt, ihn über die Sprache im eigentlichen Sinne hinaus auf alle möglichen anderen menschlichen Hervorbringungen und kulturellen Erscheinungen auszudehnen und ihm neben dem Bereich der Sprache auch andere menschliche Objektbereiche als Betätigungsfeld und Entfaltungsraum nachzuweisen. So kann sich die Kommunikation ebenso gut wie im Felde der Lautzeichen auch in der Sphäre anderer materieller Phänomene und Objekte entfalten, etwa im Medium von Gesten und Gebärden, von mythologischen Motiven und Symbolen, von Kult- und Gebrauchsgegenständen, von Modeartikeln und Kleidungsstücken, von Lebensmitteln und Küchenrezepten, von Möbelstilen und Autotypen und weiß der Himmel von was sonst noch.
Intentionslosigkeit und Unsprachlichkeit oder, halbwegs paradox ausgedrückt, Gegenstandslosigkeit und Gegenständlichkeit – das sind die beiden entscheidenden Merkmale der modernen Kommunikation. Das erstere möchte ich als das ideologische Moment am Kommunikationsbegriff bezeichnen, das ich in früheren Auseinandersetzungen mit dem Strukturalismus ideologiekritisch herauszuarbeiten versucht habe (Schamanismus und Psychoanalyse – Zum Problem mythologischer Rationalität in der strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Wiesbaden 1977; Totale Reklame – Von der Marktgesellschaft zur Kommunikationsgemeinschaft, Freiburg 1986; www.reichtum-und-religion.de). Ideologisch ist dabei der mit der Intentionslosigkeit synonyme bedingungslose Systemanspruch. Phänomene interessieren ausschließlich im Blick auf ihren bestehenden und als solcher zu reaffirmierenden beziehungsweise zu erhaltenden immanent-funktionellen Zusammenhang, eben ihre Kontinuität als funktionierendes System; eine transzendent-intentionale Betrachtung, die Realisierung des Phänomenganzen als eines in Entwicklung begriffenen, prozessualen Organismus soll ausgeschlossen bleiben. Die Struktur, das intentionslos gesetzte System, ist das bannkräftige oder jedenfalls abwehrzauberische Veto gegen Veränderung und Geschichte – und zwar unter gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Veränderung nur die Katastrophe verspricht und der historische Fortgang nur in den revolutionären Zusammenbruch beziehungsweise in den diesen aufzuhalten gedachten faschistischen Terror zu führen droht.
Das zweite Moment, die Unsprachlichkeit der Kommunikation, scheint mir dagegen eher empiriologisch als ideologisch relevant und verlangt deshalb auch weniger eine ideologiekritische Behandlung als eine erfahrungstheoretische Würdigung. Die Unsprachlichkeit als Konsequenz der Ausdehnung von Sprache im eigentlichen Sinn auf alle möglichen Ensembles nichtsprachlicher Phänomene, Objekte und Verhaltensweisen ist meines Erachtens Reflex einer ebenso virulenten wie aktuellen Erfahrung – der Erfahrung, die wir als moderne Konsumenten machen. Dank der ungeheuren Produktivitätsentwicklung, die in den letzten zweihundertfünfzig Jahren unsere Gesellschaften genommen haben, und dank des kapitalistischen Produktionsverhältnisses, unter dessen Auspizien sich diese Produktivität entfaltet, finden wir uns in zunehmendem Maße einem von Menschenhand beziehungsweise menschlicher Apparatur geschaffenen Milieu konfrontiert oder vielmehr von diesem Milieu umgeben, das uns in der Unmittelbarkeit einer zweiten Natur entgegentritt und dem gegenüber wir uns haargenau so verhalten, wie es der Strukturalismus im Blick auf die als Kommunikationsmaterie von ihm reklamierten Objektklassen und Systeme von Phänomenen beschreibt: Wir bewegen uns in einer industriell gefertigten, hoch differenzierten Güterwelt, die dazu da ist, unsere entsprechend diversifizierten Bedürfnisse zu befriedigen und der wir zu diesem Ende weniger aktiv produzierend als passiv rezipierend begegnen – als wahrnehmende, identifizierende, kontrastierende, vergleichende, auswählende, entscheidende Konsumenten.
Und nicht nur prägt diese konsumtive Güterwelt, diese zweite Natur, wegen ihrer expansiven Allgegenwart immer stärker unser erscheinungsweltliches Bewusstsein, unsere Erfahrung von Wirklichkeit überhaupt und lässt die erste, natürlich gewachsene Natur immer mehr zum Korollar oder Sonderfall der zweiten, industriell gefertigten Natur herabsinken – weil wegen der fortschreitenden Technisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse die aktiv-produzierende Auseinandersetzung mit Wirklichkeit gegenüber jenem konsumtiv-rezipierenden Umgang mit ihr zugleich immer mehr an Umfang und Gewicht verliert, finden wir uns auch lebenszeitlich-biographisch immer stärker durch die Konsumsphäre okkupiert und wird sie zum nicht weniger chronisch verbindlichen als topisch maßgebenden Lebensraum und Erfahrungsort für uns. Einen Großteil unseres Lebens halten wir uns in ihr auf und pflegen eben den dispositionell-warenkundlichen Umgang mit ihr, den uns der Strukturalismus dann als im Zentrum seiner Kommunikationstheorie stehende intellektuell-systembildnerische Objektbeziehung präsentiert, um nicht zu sagen verkauft. So archaisch und exotisch verfremdet und so sehr auf Basis dieser Archaik aller historischen Identifizierung in schiere Anthropologie entrückt ein Lévi-Strauss (Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1967) seine Kommunikationsmodelle auch erscheinen lassen mag, ohne die moderne Konsumsphäre und die von ihr geprägte Wirklichkeitserfahrung fielen ihm diese Modelle im Traum nicht ein.
Sphäre und Zeichen
Aber warum, wenn das so ist und der Strukturalismus moderne Konsumerfahrungen theoretisiert, warum spricht er dann nicht von Konsum, sondern nennt das Ding Kommunikation? Nun, ein reines Missverständnis, eine völlig abwegige Verwechselung stellt, wenn man die Sache recht besieht, dieses Quidproquo, das der Strukturalismus begeht, wohl nicht dar. Schließlich ist die Konsumsphäre, insofern sie als Endstation und Schlussetappe des Zirkulationsprozesses wie die Zirkulation selbst marktförmig organisiert und dank großer Industrie und umfassendem Handel zunehmend vereinheitlicht und zentralisiert ist, ein gigantischer öffentlicher Raum und als solcher nolens volens ein Versammlungsort, eine Begegnungsstätte, die in den großen Warenhäusern und Supermärkten unserer Zeit ihr passendes Symbol findet. Indem ich in die Konsumsphäre eintrete und mich gemäß meinen Bedürfnissen und Interessen auf ihre „ungeheure Warensammlung“ beziehe, beziehe ich mich durch sie nolens volens auf meine Mitmenschen, trete ich, ob ich will oder nicht, ins Verhältnis zu den vielen anderen, die sich zusammen mit mir in der Konsumsphäre aufhalten und bewegen. Durch die Objektivität der Warensammlung sozialisiere ich mich; ich orte mich in einem sozialen Beziehungsgeflecht, ich erkenne andere und werde von ihnen erkannt, verständige mich mit ihnen und werde von ihnen verstanden. Durch die Objekte der Konsumsphäre, die insofern in der Tat Zeichencharakter beweisen, identifiziere ich mich mit anderen Konsumenten oder Konsumentengruppen, vergleiche mich mit ihnen, unterscheide mich von ihnen, opponiere ihnen, erhebe mich über sie, gewinne Macht über sie, mache ihnen Avancen und so weiter. Und dies nicht nur auf Basis einzelner Artikel oder im Rahmen bestimmter Konsumsparten, sondern dank der heute herrschenden Reklamestrategie einer Beschwörung des Ganzen durch jedes seiner Teile, einer Reklamation der Totalität der Konsumsphäre als solcher bringt mich die Entscheidung über den Kauf eines Autos oder auch nur einer Perlweiß-Zahnpastatube im Prinzip mit der gesamten Konsumentengemeinde in Kontakt und integriert mich in sie. Ohne diesen kommunikativen Nebeneffekt, die Erzeugung eines Gefühls von Dazugehörigkeit und die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Vergesellschaftung, nach dem reklamatorisch-sprichwörtlichen Come together, wäre die Plausibilität und Effektivität dieser modernen, aufs Ganze des Sortiments gehenden, die Welt der Waren als einen Kosmos beschwörenden Reklamestrategie gar nicht zu erklären.
Als große Kommunikationsgemeinschaft bestätigt allerdings die um die ungeheure Warensammlung gescharte Konsumgesellschaft objektiv, was ihr als ideologischer Charakter von mir unterstellt wurde: Sie ist intentionslos, verfolgt kein Ziel, dementiert vielmehr jede Absicht und Perspektive. Diese durch die Warenwelt als Zeichenzusammenhang vermittelte Verständigung erlaubt mir nur, mit anderen in Verbindung zu treten und mich mit ihnen auszutauschen, nicht, mich mit ihnen zusammenzutun und zu verabreden. Nicht die funktionelle Bestimmung der Sprache, eine zielgerichtete Solidarisierung, die Orientierung auf ein gemeinsames Projekt, wird durch sie ermöglicht, sondern sie stellt bloß die strukturelle Bedingung des Sprechens, eine situationsgebundene Sozialisierung, die Identifizierung mit einer gemeinschaftlichen Befindlichkeit her. Der Grund dafür ist einfach genug: Zeichen und Sache, Bezeichnendes und Bezeichnetes koinzidieren in diesem Sonderfall quasisprachlicher Verständigung. Die als intersubjektive Zeichen firmierenden Waren repräsentieren nur sich selbst und das System, das sie bilden. Mit dieser Sprache lässt sich nur über sie selber sprechen, eben kommunizieren. Die praktischen Auswirkungen dieses mittlerweile vorherrschenden, intentionslos selbstbezüglichen Kommunikationsverhaltens auf den modernen Alltag lassen sich an der sprachlichen Verständigung stricto sensu studieren: Nicht etwa nur in der medialen Reklame, sondern ebenso sehr im alltäglichen Gespräch verständigt man sich fast nur noch über Konsumartikel, erzählt sich von Erfahrungen und Entdeckungen in der Konsumsphäre, gibt Einkauftipps, vergleicht Preise, berichtet von Fundstellen, Sonderangeboten, Schnäppchen.
Die strukturalistische Interpretation der modernen Konsumsphäre als Kommunikationssystem hat also durchaus ihr Moment von Wahrheit oder Realismus. Allerdings nur ein Moment, dessen exklusive Totalisierung es ebenso sehr der Unwahrheit verdächtig macht. Was nämlich zu erklären bleibt, ist, warum der Strukturalismus derart ausschließlich auf das kommunikationssystematische Moment abhebt, dass er vom Realfundament oder materiellen Träger solchen Kommunizierens, eben der Konsumsphäre, gar nichts zu gewahren oder zu wissen scheint, dass aus der Perspektive dieser strukturalistischen Interpretation der modernen konsumtiven Erfahrungswelt der materielle Träger hinter der ihm zugeschriebenen kommunikativen Funktion regelrecht verschwindet, durch sie als im klassischen Sinne hypostasiertes Phänomen spurlos eskamotiert scheint. Was hält den Strukturalismus davon ab, seinen Kommunikationsbegriff als Resultat historisch bestimmter, sprich, konsumgesellschaftlicher Erfahrungen wahrzunehmen, was bringt ihn dazu, in diesem Begriff ein keiner empirischen Rückführung bedürftiges, ahistorisch-allgemeinmenschliches Verhaltensprinzip zu erkennen?
Wenn der Strukturalismus den materiellen Konsum mit sozialer Bedeutung, mit einer Kommunikation genannten Vergesellschaftungsfunktion einhergehen beziehungsweise ihn als solchen in dieser Funktion regelrecht aufgehen, hinter ihr verschwinden lässt, dann tut er nichts Präzedenzloses, noch nie Dagewesenes. Auch in früheren Zeiten schon zeigt sich materieller Konsum über seine individuelle Regenerationsfunktion hinaus mit sozialer Bedeutung, mit kollektiv-generischen Absichten befrachtet. Ohne viel Anspruch auf systematische Stringenz möchte ich zwei historisch wohlbekannte Konsumereignisse, bei denen dies der Fall ist, aufgreifen und das, was ich an anderer Stelle – im ersten und sechsten Band meiner Studie über Reichtum und Religion (7 Bände in 4 Büchern, Freiburg 1990 fortlaufend) – herausgefunden zu haben glaube, kurz rekapitulieren, in der Hoffnung, dass ihre Erklärung einen Beitrag zum Verständnis jenes modernen, Kommunikation genannten, bedeutungsvollen Konsums leisten kann. Ich meine das archaische Fest und die christliche Kommunion. Ich rekapituliere:
Das archaische Fest ist Reaktion auf eine grundlegende Veränderung der Subsistenzsituation des Stammes, Reaktion auf die Erzeugung von Reichtum, Überfluss. Die Gefahr, mit der Reichtum die Stammesgesellschaft bedroht, ist die Etablierung von Herrschaft, die Aufspaltung der Gesellschaft in eine Unterschicht, die arbeitet und die Subsistenzmittel erzeugt, und eine Oberschicht, die bestimmte politisch-kultische Leistungen erbringt und dafür an den Früchten der Arbeit der anderen partizipiert. Oder vielmehr nicht nur partizipiert, sondern diese Früchte, den gesellschaftlichen Reichtum, als ihr angestammtes Eigentum mit Beschlag belegt und in Umkehrung des tatsächlichen Prozesses die ursprünglichen Erzeuger an diesem herrschaftlichen Eigentum ebenso gütigerweise wie in bescheidenem Umfang teilhaben lässt. (Das ist sehr verkürzt dargestellt; um die besagte Umkehrung des Prozesses und etwa den Anspruch der Herrschaft auf die erwähnten kultischen Leistungen zu erklären, bedarf es einer überaus komplizierten Spekulation, die, wer sich dafür interessiert, im ersten Band meiner Studie nachlesen kann. )
Der Gefahr einer solch reichtumsbedingten herrschaftlichen Aufspaltung der Gesellschaft begegnet der Stamm mit dem Potlatch des Festes. Der Überfluss wird in einer großen Verschwendungsorgie konsumiert, und damit ist die Gefahr gebannt: Der Stamm kehrt zur alten, kargen Subsistenz zurück und das Gespenst realer Herrschaft verschwindet wieder hinter der Realität sozialen Funktionärstums, aus dem drohenden Herrscher wird wieder der einfache Häuptling. Natürlich ist das archaische Fest, der verschwenderische Konsum keine dauerhafte Konfliktlösungsstrategie, sondern bleibt ein Übergangsphänomen: So gewiss die menschliche Produktivkraftentwicklung voranschreitet und sich der gesellschaftliche Reichtum auf diese Weise nicht mehr aus der Welt schaffen lässt, so gewiss werden früher oder später herrschaftlich organisierte Gesellschaften die Norm.
Die Kommunion ist die Antwort auf eine in der Spätantike eingetretene Situation, in der sich herausstellt, dass die herrschaftliche Reichtumsproduktion die Subsistenzwirtschaft, aus der sie hervorgeht, in letzter Instanz zerstört und der herrschaftlich erzeugte Reichtum die unmittelbare Subsistenz, der er entsprungen ist, zu böser Letzt vereitelt, weil das große herrschaftliche Gebilde, das auf handelsstädtischer Basis einen beispiellosen Aufstieg erlebt und sich als eine Art parasitäre Supermacht den traditionellen Territorialherrschaften rund ums Mittelmeer oktroyiert hat, das Römische Reich, im Streit um die Verfügung über den Reichtum und um seinen Genuss sich selbst zerfleischt und zugrunde richtet. In dieser Situation wenden sich die Menschen, am Leben und Überleben verzweifelnd, von der Welt ab und suchen mit Hilfe gnostisch-messianischer Orientierungen ihr Heil in der Weltflucht, der Flucht in ein zum gegenweltlichen Himmelreich entfaltetes platonisches Ideenreich.
Zentrale Bedeutung für die Durchführung dieser Weltfluchtmotion gewinnt ein als Abendmahl bekannter Subsistenzakt, der dazu dient, in der Gestalt beziehungsweise Leibhaftigkeit von Brot und Wein das für den Wechsel aus dem irdischen ins himmlische Leben erforderliche Heilsmittel, den Leib Christi, das Materie in Spiritus verwandelnde Pneuma, einzunehmen und sich anzuverwandeln. Insofern diese Subsistenzhandlung das irdische Leben besiegelt und den Grund für den Wechsel des Menschen ins ewige Sein legt, ist sie in der buchstäblichen Bedeutung des Ausdrucks, mit dem das Angelsächsische sie benennt, „last supper“, der letzte Akt einer Subsistenz, die in dem ironischen Sinne ein verzehrendes, tilgendes Ereignis, kurz, Konsum, ist, dass sie durch eben diesen letzten Akt sich selber überflüssig macht und ad acta legt. An ihrer Subsistenz, die durch den agonalen Streit um den herrschaftlichen Konsum zugrunde gerichtet wird, verzweifelnd, geben die Untertanen des Reichs ihr Subsistenzinteresse preis beziehungsweise schlagen es in die Schanze jenes als Kommunion firmierenden, verzehrend letzten Subsistenzakts, der die Basis für die Transfiguration des irdischen Leibes in das himmlische Corpus liefert und damit alle Subsistenzprobleme ein- für allemal löst (siehe Ulrich Enderwitz, Reichtum und Religion, 3. Buch: Die Herrschaft des Wesens, 4. Bd. : Die Krise des Reichtums, Freiburg 2005).
Versuchen wir die beiden Ereignisse des archaischen Festes und der christlichen Eucharistie ins Verhältnis zueinander zu setzen, so können wir diese doppelte Gemeinsamkeit konstatieren, dass in beiden Fällen eine gesellschaftlich bedingte Subsistenzkrise vorliegt und dass beide Ereignisse eine Antwort auf die jeweilige Krise darstellen. So verschieden allerdings die Krisen sind, so verschieden sind auch die Antworten und die mit ihnen intendierte Krisenbewältigung. Im Fall des archaischen Festes droht herrschaftliche Reichtumsproduktion und die damit einhergehende Umfunktionierung der Erzeuger in fronwirtschaftliche Reichtumsproduzenten und Reduktion ihrer Subsistenz auf ein bloßes Abfallprodukt eben jener Reichtumsproduktion. Der Konsum des archaischen Festes dient dazu, diese im Reichtum und Überfluss bestehende Drohung zu beseitigen und die alte Subsistenzsituation zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen. Im Fall der christlichen Kommunion droht die herrschaftliche Reichtumsproduktion durch den agonalen Kampf um ökonomische Verfügung und politische Macht die Subsistenz sogar noch in ihrer der Reichtumsproduktion untergeordneten und integrierten Form zu zerstören. Der Konsum des Abendmahls verfolgt den Zweck, die Subsistenz als irdisch-materielle Notwendigkeit zu überwinden und hinter sich zu lassen und sich ins spirituelle Sein eines messianischen Gottesreichs abzusetzen. Im einen Fall versucht man, eine durch die menschliche Produktivkraftentwicklung vorangetriebene und als bedrohlich erscheinende Geschichte zwecks Erhaltung der guten alten Zeiten zu stornieren, im anderen Fall wird versucht, der katastrophischen Entwicklung, die diese Geschichte mittlerweile über die irdische Welt heraufbeschworen hat, zu entrinnen und Zuflucht in einer platonisch ewigen Himmelswelt zu finden.
Subsistenz und Überfluss
Wie stellt sich nun vor dem Hintergrund dieser beiden Fälle eines mit sozialer Bedeutung aufgeladenen, sozialstrategisch orientierten Konsums der moderne Konsum dar, jener konsumgesellschaftliche Konsum, der die uneingestandene empirische Grundlage für die Kommunikationsmodelle des Strukturalismus abgibt? Lässt auch er sich als Reaktion auf eine Subsistenzkrise verstehen, stellt auch er beziehungsweise die Kommunikation, als die er vom Strukturalismus nicht ohne Grund gefasst und präsentiert wird, eine Krisenbewältigungsstrategie dar? Wenn Subsistenzkrise meint, dass die Subsistenz sozial oder materiell bedroht ist, wie in den beiden anderen Fällen durch die im tribalen Rahmen beginnende Reichtumsproduktion oder durch die agonale Balgerei des Imperiums um die Reichtumsbeute, dann sicher nicht! Sozial gesehen, ist im Rahmen der fest etablierten kapitalistischen Reichtumsproduktion die Subsistenz – jedenfalls in unseren Überflussgesellschaften – so selbstverständlich impliziert, dass sie praktisch schon zu den menschlichen Grundrechten gezählt wird. Und materiell ist sie so umfänglich und reichlich gesichert, dass sie – jedenfalls in unseren Überflussgesellschaften – gar nicht mehr als Subsistenz, sondern eben, wie die Rede von der Konsumgesellschaft ja besagt, selber bereits als Konsum, als mit Konsum identisch erscheint.
Hier liegt der Unterschied, der auf den ersten Blick allen Vergleich mit den erwähnten Fällen einer als Konsum sozialstrategisch befrachteten Subsistenz unsinnig erscheinen lässt: Die Subsistenz scheint heute nicht nur nicht bedroht, sie scheint von sich aus in Konsum übergegangen, scheint deckungsgleich mit Konsum. Konsum muss nicht mehr wie bei der archaischen Verschwendung und dem eucharistischen Selbstverzehr eigens veranstaltet, zelebriert werden, er ist das durch die Natur der kapitalistischen Reproduktion unserer Gesellschaften alltäglich Gegebene, die herrschende Erfahrung. Der moderne Konsum ist keine Krisenbewältigungsstrategie, die erst von den Mitgliedern der Gesellschaft in Szene gesetzt werden muss, vielmehr ist er eine den letzteren von ihrem ökonomischen System als die verbindliche Form ihrer Subsistenz frei Haus gelieferte, ganz unstrategisch faktische Lebensform.
Er ist mitnichten eine Krisenbewältigungsstrategie, allerdings ist, schaut man genauer hin, auch er mit einer Strategie geschlagen, nur nicht mit einer, die Krisen bewältigt, sondern die Krisen erzeugt. Er stürzt die Subsistenz in eine Krise, die an Folgenschwere den durch die beginnende Reichtumsproduktion und durch die imperiale Agonie des Römischen Reiches heraufbeschworenen Krisen in nichts nachsteht. Sosehr phänomenologisch Subsistenz und Konsum deckungsgleich werden mögen, sosehr stehen sie doch, systematisch betrachtet, im Widerspruch zueinander. Konsumiert wird in der kapitalistischen Gesellschaft nicht, um die realen Subsistenzbedürfnisse zu befriedigen, sondern um die kapitale Verwertungsmaschinerie in Gang zu halten. Subsistenz dient der Erhaltung der Menschen, Konsum der Erhaltung des Kapitalverhältnisses. Konsum ist hinter der Camouflage individuellen Genusses versteckte gesellschaftliche Arbeit, die dazu dient, an den reell oder auch nur mehr formell als Gebrauchsgegenstände erscheinenden Waren oder Wertverkörperungen die naturale Form zu vertilgen und zu beseitigen, damit das, was an ihnen wertbeständig ist, der Wertkörper sans phrase, das Geld, hervortreten und sich als der ökonomische Zweck des Ganzen, als mehrwertiges Kapital, zur Geltung bringen kann. Konsum dient, wie das lateinische Wort ja auch impliziert, dem Verzehr, der Zerstörung, Vernichtung von Befriedigungsmitteln, die ökonomisch nur mehr als äußere Hülle des darin verborgenen mehrwertigen Kapitals firmieren und die aus der Welt geschafft werden müssen, damit letzteres sich in weitere als Befriedigungsmittel getarnte Werthüllen investieren und mittels ihrer noch mehr mehrwertiges Kapital in die Welt setzen kann.
In dieser jedem traditionellen Subsistenzbedürfnis ins Gesicht schlagenden Vernichtungsfunktion, die aus ökonomischer Sicht als Wertrealisierung figuriert, hat der moderne Konsum seine wesentliche, weil durch die politisch-ökonomische Macht des Kapitals gesetzte Wahrheit. Eine Wahrheit, die so überwältigend dominant ist, dass in einer Überflussgesellschaft wie der unseren angesichts der schleichenden, durch die allgemeine Übersättigung und Überbeanspruchung der Subsistenzbedürfnisse einfach genug erklärlichen Absatzkrise fast alle gesellschaftlichen Gruppen in absoluter Gleichgültigkeit gegen eben jenen offenbaren guten Grund für die Absatzkrise sich Rettung aus der Not partout nur von einer Ankurbelung der Binnennachfrage, zu Deutsch, von einer jeder Rücksicht auf subsistenzielle Bedürfnisse baren Steigerung des Konsums erhoffen.
Krise und Konsum
Wir haben es also durchaus mit einer den archaischen und den spätantiken Verhältnissen parallelisierbaren Subsistenzkrise zu tun, nur ist das, was in den anderen Fällen die Lösung, die Krisenbewältigung, sein sollte, nämlich der gesellschaftliche beziehungsweise gemeinschaftliche Konsum, jetzt vielmehr das Krisenerzeugende, die Krankheit. Gibt es dann aber anders als bei den beiden historischen Vorbildern heute gar keine Krisenbewältigungsstratregie? Doch es gibt sie, und sie besteht – im Konsum! In gut mythologischer Manier gibt die Krankheit zugleich das Heilmittel ab, ist der Speer, der die Wunde schlug, dasjenige, was sie auch wieder schließen soll. Konsum als Konsum, als die Subsistenz ad absurdum führende Vernichtungsorgie, ist die Krankheit, Konsum als Kommunikation, als die Subsistenzrücksicht ad acta legendes Gesellschaftsspiel, ist das Heilmittel. Die Lösung der qua Konsum über die Subsistenz heraufbeschworenen Krise besteht kurz und bündig darin, die Rücksicht auf die Subsistenz aufzugeben, die Subsistenz als Maßstab, als in irgendeiner Form normativen Bezugspunkt abzudanken und den Konsum qua Kommunikation anderen, mit seiner Maßlosigkeit besser vereinbaren Zwecken zuzuwenden, den Zwecken der Vergesellschaftung durch dingliche Zeichensysteme, des Come together, des Shoppens, des vergleichenden, differenzierenden, Identifikation ermöglichenden, Gruppenbildung befördernden, zum Austausch anregenden Miteinanders.
Wir sehen die Ähnlichkeit und die Verschiedenheit der drei Krisenbewältigungsstrategien: Das archaische Fest bemüht sich, die gefährdete Subsistenz durch verschwenderischen Konsum wiederherzustellen. Die christliche Kommunion sucht die vereitelte Subsistenz durch deren Selbstverzehr, ihre konsumtive Aufhebung zu transzendieren. Die moderne Kommunikation sucht dem Konsum durch seine Abkoppelung von der Subsistenzrücksicht seine die Subsistenz durch Überforderung zugrunde richtenden zerstörerischen Implikationen zu nehmen und ihn in einen sozialen Zeitvertreib, ein Gesellschaftsspiel umzufunktionieren.
Alles – die ökonomische Dauerkrise, in der wir stecken, die panischen Reaktionen des Sozialabbaus und der Problemverlagerung auf die Terrorbekämpfung – alles spricht dafür, dass es sich bei dieser Verwandlung des Krankmachers in das Heilmittel, der harten gesellschaftlichen Arbeit des Konsums in das heitere Gesellschaftsspiel der Kommunikation um einen Taschenspielertrick handelt, ein zwar der Wirklichkeit der Konsumsphäre und ihres Reklamecharakters abgeschautes, aber doch dann von dieser Wirklichkeit abgehobenes und ins Phantasmagorische verstiegenes, intellektuelles Glasperlenspiel. Alles spricht dafür, dass die Subsistenzrücksicht sich nicht so einfach außer Kraft setzen lässt, dass sie als Klotz am Bein des Konsums dessen kapitalgetriebene Himmelfahrt auch weiterhin bremsen und mit der Drohung einer nicht minder kapitallancierten Höllenfahrt konfrontieren wird.
Aber selbst wenn es, wogegen alles spricht, möglich sein sollte, den Konsum, frei von aller subsistenziellen Hemmung, als kommunikatives Gesellschaftsspiel ad calendas graecas fortzusetzen und in all seiner ebenso unabschließbaren wie unaufhaltsamen Expansionstendenz zum Zuge kommen zu lassen – hinter dem Veto der außer Kraft gesetzten menschlichen Natur bliebe doch immer noch das der überstrapazierten irdischen Natur, und sie würde dem kapitalen Spuk früher oder später ein Ende machen. Lebten wir vollends in der virtuellen Welt, in der wir schon halbwegs leben, bestünden die Waren, die wir im haltlosen Teufelskreis produzieren, um sie zu konsumieren, und konsumieren, um sie zu produzieren, nur aus elektronischen Impulsen, Irritationen in Magnetfeldern, das Kalkül möchte vielleicht noch aufgehen, das Rezept funktionieren. Aber unsere Waren bestehen nicht aus elektrischen Impulsen, sondern aus materiellen Elementen, aus Stoffen dieser Erde, und unter der Last der „ungeheuren Warensammlung“, die wir produzieren und konsumieren, nur damit der kapitale Kreislauf nach dem ihm eingeschriebenen vitiosen Gesetz einer immer erweiterten Reproduktion weitergehen kann, wird unsere Erde irgendwann kollabieren und ihren Geist aufgeben, besser gesagt, als qua Natur organisierte Materie zugrunde gehen.