Heuschrecken im Bauch

Regressiver Antikapitalismus am Beispiel der Linkspartei

von Lothar Galow-Bergemann

Ende April 2006 trat ein Mitglied des WASG-Bundesvorstands zur NPD über, um sozialpolitischer Berater der sächsischen Landtagsfraktion der Neonazis zu werden. Der folgende Text geht der Frage nach, ob dies ein Zufall war.

Antikapitalismus hat Konjunktur

Aus einem Beschluss des Bundesvorstandes einer Jugendorganisation im Juni 2005: „Die Entwicklung einer radikalen Kapitalismuskritik ist eine Aufgabe, welcher wir uns stellen müssen… Unsere Ablehnung der kapitalistischen Verhältnisse muss grundsätzlich sein… In dem Maße, wie der Kapitalismus dem Einzelnen seine Würde nimmt, zerstört er jede menschliche Gemeinschaft. Der Kapitalismus verkürzt die Vielfalt menschlichen Wesens auf das Wirtschaftliche, Nützliche und Triebhafte…“ (Die Menschen) „erleben heute eine riesige Betonwüste. Sie erleben Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Armut, Verwahrlosung, trostlose Supermärkte und eine völlig gleichgeschaltete Gesellschaft. Sie erleben eine Ellenbogengesellschaft, von welcher entfernt anonym und weit weg die „Bonzenschweine“ hausen und über ihre eigenen Köpfe hinweg regieren. Ihr erlebtes Deutschland ist Kälte, Staatsgewalt, Dumpfheit, Mittelmäßigkeit, Ausbeutung und Entmenschlichung an jedem Ort. „1

Vielleicht ist die Leserin über das Wort „Deutschland“ gestolpert. Richtig, das Papier stammt von den Jungen Nationaldemokraten. Wäre aber statt vom „erlebten Deutschland“ vom „erlebten Umfeld“ die Rede und vielleicht noch die „Bonzenschweine“ gegen Lafontaines „Saubande“ ausgetauscht – der Text könnte in jeder mainstreamlinken Debatte dieser Tage anstandslos durchgehen. Die Überschrift des Papiers lautet übrigens: „Nationalismus heißt Kapitalismuskritik“. Ein neonazistischer Theoretiker, Jürgen Schwab, sieht das antikapitalistische Profil noch nicht geschärft genug und schreibt dazu „mit kameradschaftlichen Grüssen“ das Folgende: „Ich schlage vor … den Kapitalismus als Tendenz zur boden- bzw. grenzenlosen Verfügbarkeit von Waren bzw. Kapital und Arbeit zu definieren. Damit einher geht die entgrenzte Akkumulation des unternehmerischen Profits, was zu einer mittlerweile globalen Konzentration von Produktionsmitteln führt… Wir erleben nun die Situation, dass nicht die jeweiligen politischen Gemeinwesen (Staaten) in Stellvertretung ihrer Völker der ortsansässigen Wirtschaft gemeinwohlverpflichtende Auflagen machen, die befolgt werden müssten, sondern dass diverse Global Players den Staaten, oder was davon übrig geblieben ist, sagen, wo es lang geht. So brüstet sich die Vorstandsetage der Leverkusener Bayer AG damit, dass sie keine Gewerbesteuer bezahlt, weil sie ja die letzten deutschen Bayer-Arbeitsplätze ins lohngünstigere Ausland verlagern kann. „2

Und wieder: wären es keine „deutschen“, sondern einfach nur „Arbeitsplätze“ – die Analyse entspräche voll und ganz derjenigen der so genannten Antiglobalisierungsbewegung. Das gilt im wesentlichen durchaus auch für Schwabs Lösungsvorschläge: „Hätten wir auf der Welt eine Vielfalt nationaler souveräner Staaten, die vielleicht ihre Interessen in Großräumen (auch Wirtschaftsräume) bündelten, wäre Akkumulation und Konzentration (Stichwort , internationale Arbeitsteilung‘) ein erster wirkungsvoller Riegel vorgeschoben. Zur nationalstaatlichen Souveränität zähle ich hier auch die Möglichkeit des Schutzzolls gegenüber Billig-Ware und des Grenzregimes gegenüber Armutsflüchtlingen bzw. Lohndrückern (insofern ist die NPD-Forderung nach Ausländerrückführung natürlich antikapitalistisch, weil diese der liberalistischen Freihandelsdoktrin von Arbeitskräften fundamental widerspricht). Dass der Schutzzoll auch militärisch abzusichern ist, falls Uncle Sam daran denken sollte, die Türe einzutreten, sei hier nur am Rande erwähnt. Hierzu böte sich die vielzitierte Achse Paris-Berlin-Moskau an, in der bereits zwei Partner atomar bestückt sind (Deutschland müsste nachziehen). „3

Natürlich wird man in globalisierungskritischen Kreisen die Forderung nach „Ausländerrückführung“ empört zurückweisen und zwar zweifelsohne subjektiv völlig ehrlich. Aber viel interessanter ist, dass man sich bei attac zur gleichen Zeit, in der Neonazis diese Debatte geführt haben, nicht auf die Forderung nach offenen Grenzen für alle einigen konnte. Auch würde es dem durchschnittlichen Globalisierungskritiker ganz gut tun, wenn statt „Interessenbündelung in Großräumen“ von „Europa“ die Rede wäre und sich die Achse Paris-Berlin-Moskau nicht gar so militärisch gäbe. Dass sich Europa aber gegen den Hauptfeind von jenseits des großen Wassers zu verteidigen habe, spricht ihm voll und ganz aus der Seele und nicht wenigen Exemplaren seiner Gattung passt eine militärische Stärkung des alten Kontinents zu eben diesem Zwecke durchaus ins Weltbild.

Mit anderen Worten: ein bisschen Deutschtümelei weggenommen und die eine oder andere Spitze nicht ganz so entschieden formuliert, haben wir hier in den Grundzügen die gegenüber der objektiven Krise des Verwertungsprozesses völlig begriffslose mainstreamlinke Kapitalismuskritik samt darauf fußendem Politikkonzept vor uns: Profitgierige Global Players saugen „uns“ aus, verlagern Arbeitslätze ins Ausland und führen Staaten und „Völker“ an der Nase herum. Dagegen hilft nur ein starker Staat, der das Soziale wieder durchsetzen muss, am besten gleich in einem „sozialen Europa“ als Gegenmodell zur „Amerikanisierung“.

Der Antikapitalismus der oberflächlichen Analyse und der einfachen Antworten hat Konjunktur. Antiamerikanismus, Antizionismus und Vorformen des Antisemitismus – Stichworte Heuschrecken- und Zinskritik – feiern ebenso fröhliche Urständ wie die Propagierung populistischer „Alternativen“: kaum verhüllter Euro-Sozial-Nationalismus, Begeisterungsstürme für die Installation eines altneuen Regimes des Personenkults unter „dem geliebten Führer“ Hugo Chavez in Venezuela, skandalöse Relativierung und Verständnisheischen für das reaktionäre Menschenbild des islamischen Fundamentalismus, kaum verhüllte Sympathie für die Herrscher des Iran und die Hamas, Realitätsverweigerung gegenüber dem weltweit grassierenden Antisemitismus – das sind nur einige Highlights aus dem gegenwärtigen regressiven antikapitalistischen Diskurs.

Kapitalismusverhafteter Antikapitalismus

Ein Selbstwiderspruch, aber ein quicklebendiger. Antikapitalismus auf der Basis des Kapitalismus. Weit entfernt von einer Kritik kapitalistischer Basiskategorien wie Wert, Ware, Arbeit, Staat, Politik und Recht sucht er diese im Gegenteil gar gegen den Kapitalismus selber in Stellung zu bringen. Weil ihm auf der Grundlage der Affirmation dieser Kategorien gar nichts anderes übrig bleibt, als sich im Grunde vorkapitalistische personale Herrschaftsstrukturen zusammenzuphantasieren, wo schon lange keine mehr sind, fallen ihm auch nur vorkapitalistische „Lösungen“ ein. Diese münden regelmäßig und zwangsläufig in den Wunsch nach dem „guten Herrscher“ oder, etwas zeitgemäßer ausgedrückt, in die Sehnsucht nach der „richtigen Politik“. Diese zeichnet sich in zweierlei Hinsicht aus. Erstens ist sie der Ausdruck eines „freien Willens“ und zweitens ist sie dann „richtig“, wenn sie dem von vornherein als „gut“ empfundenen Willen des „Volkes“ und nicht dem der „herrschenden Klasse“ entspricht.

Die Linkspartei verfügt bekanntlich über zwei Führer, die diesen „Volkswillen“ verkörpern: Gregor und – noch perfekter, da auch über den letzten Verdacht irritierender Intellektualität erhaben – Oskar. Oskar bedient, gerade indem er es nicht ganz so, sondern nur fast so formuliert, ein weit verbreitetes dumpfes Fühlen: An allem sind irgendwelche Bösewichter schuld. Heute sind es die Türken, morgen dann die Spekulanten oder wahlweise die unfähigen Politiker, ein andermal der Bush, dann wieder die Drogendealer oder die Ölmultis und eigentlich dann doch wieder die korrupten Manager und die Asylanten. Und die Finanzhaie und Heuschrecken nicht zu vergessen. So unterschiedlich die auch alle sein mögen und je mehr sich der eine vielleicht mit diesen und der andere eher mit jenen Lieblingsbösewichtern die Welt erklärt – sie haben alle miteinander eine große Gemeinsamkeit: „ehrliche Arbeit“ ist ihnen fremd, sie „hauen einen übers Ohr und betrügen einen“.

Die unheimliche Nähe von „National“ und „Sozial“

Solcherlei „Krisenanalyse“ ist populär. Ihre starken Anklänge an antisemitische Stereotype sind manchmal unübersehbar. Auf dem Titelblatt der Mai-Ausgabe 2005 der „metall“, Zeitschrift der IG Metall, fallen Stechmücken mit Goldzahn, gebogenen Saugrüsseln und Stars-and-Stripes-geschmückten Zylindern über deutsche Fabriken her. Vorangegangen war Münteferings Wahlkampfrede von den „Heuschrecken“, die sich seitdem in rasender Schnelligkeit im Volksmund wie im linken Sprachgebrauch etabliert haben. Diese proto-antisemitische „Kritik“ verquickt das Nationale mit dem Sozialen. Aus einer Solidaritätserklärung der WASG Thüringen an die streikenden VW-Arbeiter, November 2004: „Wir wissen, dass nicht ihr an den schlechten Verkaufszahlen eures Unternehmens schuld seid, deutsche Wertarbeit und deutscher Fleiß sind weltweit geachtet… Setzt stellvertretend für alle deutschen Arbeitnehmer ein Zeichen, dass wir den Kampf gegen die neoliberalen Scharfmacher noch nicht verloren haben. Mit solidarischen Grüßen Eure WASG Thüringen“4

Die rechtsextreme Einstellung vieler Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre ist spätestens seit der Studie von Fichter/Stöss/Zeuner (FU Berlin) bekannt. 5 Die Rechten haben schon lange das Soziale entdeckt. Das hat sich mancheR noch mit schlichter Demagogie erklärt. Aber jetzt wird deutlicher, dass mehr dahinter steckt, denn die Linken entdecken das Nationale. Und „wenn Sozialisten national daherreden, muss der Rauchmelder in der demokratischen Linken losgehen. „6

Wer Augen hat zu sehen begreift, dass die Auslieferung an den Weltmarkt eine prinzipiell endlose soziale Abwärtsspirale nach unten in Gang setzt. Dass nun aber in Teilen der Linken ausgerechnet und zunehmend auf „nationale Souveränitätsrechte“ als vermeintlichem Rettungsanker gesetzt wird, ist Ausdruck der Falle, in der die reine Mehrwertkritik der traditionellen linken Kapitalismusanalyse sitzt. Wer in den Kategorien von Staat und Kapital befangen bleibt, muss sich heute fast zwangsläufig an den Nationalstaat als letzten Strohalm gegen die Zumutungen der weltweiten Verwertungs- und Arbeitsplatzkonkurrenz klammern. Und so verfällt man auch im Jahre 15 nach dem endgültigen Scheitern von Stalins „Sozialismus in einem Land“ noch der Illusion vom „Keynesianismus in einem Land“. 7

Was schert uns die Erfahrung, wo doch die Illusion so schön ist

Die ganze Vergangenheit und Praxis der Linkspartei – PDS, Lafontaine, Maurer usw. – verweisen eigentlich so sehr auf die völlige Perspektivlosigkeit des ganzen Unternehmens, und das auch nur im Sinne von „Arbeit“ und „sozialer Gerechtigkeit“, geschweige denn im Sinne von Emanzipation, dass es nur noch psychologisch zu erklären ist, wenn alleine ein kleine Änderung am Firmenschild der PDS in der Lage ist, so viele Hoffnungen bis in linksradikale Kreise hinein aufkeimen zu lassen. Die konkrete Praxis der Linkspartei und ihrer Matadore ist bekanntlich katastrophal. Die Beispiele aus Berlin und der Ex-DDR würden eh nur noch langweilen, deswegen hier ein einziges – aus Köln. Die Initiative Barmer Viertel begründete im März ihre Besetzung des Büros der Linksfraktion wie folgt: „Der Bitte … eine Sonderratssitzung gegen den Abriss zu beantragen, war die Linksfraktion nicht bereit zu entsprechen … Wir sind enttäuscht darüber, dass die Links-Fraktion für ihr Nein gegen den Abriss nicht ihre parlamentarischen Möglichkeiten einsetzt. Rot-Grün in Köln kommt ohne die Unterstützung der Links-Fraktion nicht aus. Diese Unterstützung sollte Rot-Grün nicht für ein Linsengericht erhalten. Das Verhalten der Links-Fraktion erinnert uns an die früheren Winkelzüge der Grünen, mit denen sie sich von den sozialen Bewegungen verabschiedet haben… „8

Dass es trotzdem so viele Illusionen in dieses Projekt gibt, muss andere Ursachen haben als die Alltagserfahrung. Zu vermuten ist, dass der eigentliche Antrieb das außerordentlich starke und weit verbreitete Bedürfnis ist, der krisenhaften Entwicklung und dem um sich greifenden Niedergang endlich etwas praktisch Wirksames entgegenzusetzen. Und zwar hier und jetzt.

Dieses Bedürfnis allerdings ist sehr ernst zu nehmen. Wem die Krise selber zusetzt und wem die erbärmliche und kalte Ideologie des Marktes nicht den Verstand geraubt hat, wird es teilen. Weswegen auch die sich entwickelnde Bewegung gegen Sozialabbau ernst zu nehmen, in kritischer Sympathie zu begleiten und nach Möglichkeit in emanzipatorischem Sinne zu beeinflussen ist. Dazu im zweiten Teil mehr.

So oder so – irgendein Lafontaine muss sein

Doch zunächst noch einmal zur Linkspartei. In ihr, besonders in der WASG gibt es natürlich auch welche, die „trotz PDS und Lafontaine“ Hoffnungen mit der Sache verbinden, also das „Häuflein Aufrechter“ in Berlin, Gewerkschafter usw. Aber auch sie alle wissen, dass sie einen wie Oskar, zumindest aber eine Argumentation à la Oskar brauchen, denn er bringt die Wähler, ohne die das ganze Projekt zum Scheitern verurteilt ist. Deswegen kann ihre Kritik an Lafontaine auch nicht wirklich überzeugen. Er und seine Denke stehen wie sonst niemand für das ganze Projekt. Die WASG gibt das selber auch unumwunden zu. So schrieb sie im baden-württembergischen Landtagswahlkampf: „Wer ist die WASG? Viele Wählerinnen und Wähler können mit den vier Buchstaben noch nicht viel anfangen. Schließlich ist die Partei noch jung, in Baden-Württemberg gerade mal ein Jahr alt. Doch wenn man den Namen Oskar Lafontaine nennt, weiß jeder, was gemeint ist. , Neben den etablierten Parteien hat nur die WASG eine Chance, ins Landesparlament einzuziehen'“, sagt Lafontaine… „9 Es ist folglich legitim, sich in der Kritik der Linkspartei an Lafontain’schen Positionen abzuarbeiten.

Er holt die Stimmen eben nicht mit der unbefleckten Forderung nach „Arbeit und sozialer Gerechtigkeit“, so problematisch das allein schon wäre. Stimmenwirksam wird er erst mit dem Konglomerat aus oberflächlicher Analyse, sozialer Demagogie und Ressentiment, das für die Linkspartei konstitutiv ist. Er holt die Stimmen für die Abschaffung des Asylrechts und Flüchtlingslager in Nordafrika, für die Folter (zumindest in Deutschland, geschieht sie in den USA so ist das für ihn allerdings ein „Rückfall in die Barbarei“), für „scharfe Kontrollen gegen den Missbrauch der Sozialsysteme und Schwarzarbeit“, für die Meinung, der Ausschluss Hohmanns aus der CDU habe das Urteil bestärkt, bei uns dürfe man nichts gegen Juden sagen, dafür, dass „unsere Landsleute“ Angst haben vor Kriminalität, Einwanderung und Arbeitsplatzverlust, dafür, dass die Staatsbürgerschaft nur erhalten dürfe, wer deutsch spricht, Steuern zahlt und die Sozialsysteme finanziert ebenso wie für das „deutsche Volk“ als „Schicksalsgemeinschaft“ und noch vieles mehr, alles hinlänglich dokumentiert und in seinen Büchern und Bildzeitungskommentaren nachzulesen. 10

Richtig, die Linkspartei steht in der sozialdemokratischen, keynesianistischen Tradition der 50er und 60er Jahre. Wäre von ihr nicht mehr zu erwarten als der Ruf nach Arbeitsplätzen und Umverteilung des monetären Reichtums, es wäre nichts gegen sie zu sagen, außer dass sie Illusionen nachhängt. Mehr noch: da der Kommunismus vermutlich noch ein wenig auf sich warten lässt, wäre noch nicht einmal wirklich etwas gegen eine Rückkehr zu diesen Zeiten einzuwenden, wenigstens ökonomisch. Die Sache hat nur einen Haken. Das krisenhafte Stadium, in das die Kapitalverwertung eingetreten ist, lässt eine solche Renaissance nicht mehr zu. Wo infolge der dritten technologischen Revolution nicht nur die Investitionskosten für neue Arbeitsplätze sondern auch die pro Arbeitseinheit geschaffenen Werte ins Astronomische steigen sind „Arbeit für alle“ und ein darauf basierender „Sozialstaat“ historische Auslaufprodukte. Folglich gewinnt die Suche nach Wegen zur grundsätzlichen Überwindung des ganzen auf der Wertverwertung beruhenden Systems der Warenproduktion eine unmittelbare Bedeutung für die Überlebensfähigkeit der Menschen. 11

Weil aber, nach dem Willen der Nostalgiker des Keynesianismus, unbedingt sein soll, was nicht mehr sein kann, so müssen sie auch sich selber und ihrer Klientel erklären, dass es irgendwelche Dummköpfe und/oder Bösewichter gibt, die verhindern, dass das, was doch angeblich so leicht zu machen wäre, Wirklichkeit wird. Deswegen ist die Linkspartei heute eben nicht als Keynes pur zu bekommen, als nur sozialdemokratisch, sondern ausschließlich im Doppelpack als gleichzeitiger Transporteur eines regressiven, protoantisemitischen „Heuschreckenantikapitalismus“. Dieser Antikapitalismus ist brandgefährlich, denn er birgt – bei weiterer Entfaltung der Krise – das Potential zur Entladung des Volkszorns im antisemitisch motivierten Pogrom in sich.

Micha Brumlik ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Endlich werden die Umrisse von Lafontaines Projekt klar: Einer durchaus wünschenswerten Verbesserung der Lebensumstände von Armen und Ärmsten entspricht ein Schengendeutschland, mit Auffanglagern für Flüchtlinge in Afrika und einer starken Polizei, die foltern darf: Oskar Lafontaines Volksstaat eben. Anders als vielfach geglaubt, handelt es sich bei diesem Projekt keinesfalls um einen Rückfall ins Vorgestern – vielmehr ist zu befürchten, dass sich im Zuge der wirtschaftlichen Krise und der Krise der EU ein neuer politischer Formationstypus herausbildet: von protektionistischen Nationalstaaten, die entgegen allen Ankündigungen den Geld-, Waren- und Arbeitskraftströmen eines neoliberalen Europa nichts anderes entgegensetzen können als die polizeigestützte soziale Kontrolle an seinen Grenzen und seinem Innern.“ 12

Ein Projekt, das auf Gedeih und Verderb auf einen solchen Führer mit einem solchen Konzept angewiesen ist, kann nur regressiv sein, da mögen viele ehrliche Parteiaktivisten subjektiv die besten Absichten haben. Selbst wenn die WASG in Berlin und Mecklenburg – in welcher Form auch immer – gegen die dort bereits reichlich entzauberte Linkspartei mit gutem Erfolg bei den Wahlen im September antreten würde, käme sie haargenau in die gleichen Zwänge: der Erfolg hinge eben davon ab, den Leuten nach dem Munde zu reden; schließlich ist es doch besser, die WASG nimmt der NPD die Stimmen von enttäuschten PDS-Wählern ab, oder? Es begänne die Suche nach dem neuen Oskar, der das fertig bringt und … siehe oben! Was dabei herauskommt ist erstens kein Gramm weniger Mist in den Köpfen des Wahlvolkes und zweitens jede Menge engagierter Menschen, die sich in immer neuen Parteibildungsprojekten verschleißen und der Bewegung verloren gehen.

USA und Israel als „Weltheuschrecken“

Viele Linke machen sich vor, sie seien frei von Nationalismus. Oft muss dafür das Etikett „Europa“ herhalten, möglichst mit dem Zusatz „völkerverbindend“. Allein, wir erleben seit den 90ern, insbesondere aber seit dem 11. September 2001 wie sich unter der Flagge der EU ein neuer Nationalismus auf geradezu klassische Art herausbildet, dessen Protagonisten oft sogar Linke sind. Er kann bekanntlich immer die eigene, gute Nation nur gegen das Fremde, Andere, Schlechte definieren und so geht es denn nicht mehr wie vor 150 Jahren um „deutsche Werte“ gegen den bösen Franzmann, sondern um „europäische Werte“ gegen den bösen Ami. Der belgische Außenminister hatte schon recht, als er die Millionenproteste vom Februar 2003 gegen den Irakkrieg mit den Worten kommentierte: „Wir erleben hier die Herausbildung der europäischen Nation.“

Klar, wofür und wogegen das Herz der Linkspartei da schlägt. Sie tut sich als Protagonistin dieses kaum verhohlenen Euronationalismus hervor, nur „sozial und friedlich“ soll ihr Europa sein, anders eben als das böse Gegenstück. Denn es wäre ein Wunder, sollten uns die Heuschrecken, die das Gute im Inneren bedrohen, nicht auch auf dem internationalen Parkett begegnen. Und richtig, sie sind da, sie bedrohen den Frieden und den sozialen Fortschritt in der Welt und sie heißen, wen wundert’s, USA und Israel.

Der Protoantisemitismus der Linkspartei kommt am konzentriertesten und offensten in ihrer Außenpolitik zum Tragen. Für Lafontaine ist „der oft verwendete Begriff der Globalisierung nur ein anders Wort für das Vordringen der amerikanischen Vorherrschaft und Lebensweise auf dem Erdball.“ Die „Übernahme vieler englischer Wörter in die deutsche Sprache (ist ihm) … ein Indiz der geistigen Unterwerfung unter die Großmacht USA“, Ausdruck „der Hegemonie des amerikanischen Wirtschaftsdenkens“. Er weiß: „Wenn irgendwo die Spielhöllen des Kasinokapitalismus stehen, dann in New York. Wenn Geld die Welt regiert, dann ist New York die Welthaupstadt.“ Dem muss Europa, „der Kontinent, der die Philosophie der Aufklärung hervorgebracht hat“, „in der Weltpolitik Gewicht und Stimme entgegensetzen“. Selbstredend nimmt er auch sein Menschenrecht auf Israelkritik reichlich in Anspruch bis hin zum Vorwurf der „Endlösung“ der Palästinenserfrage. 13

Der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Linkspartei, der „Völkerrechtler“ Norman Paech, zeigt angesichts ihres Wahlsieges großes Verständnis für die Hamas, die Worte Antisemitismus und Terror kommen ihm nicht über die Lippen. Stattdessen hat die Hamas seines Erachtens „Glaubwürdigkeit“ erringen können durch „Härte“ „gegenüber der nicht minder harten Politik Sharons“, kaum verhüllt bewundert er sie dafür, dass sie sich die „Anerkennung eines souveränen Palästina“ durch nichts abkaufen lasse und referiert die bekannte Position der Hamas als eigene Meinung, wonach die PLO Israel angeblich alles gegeben und nichts dafür bekommen habe. 14 Kein Wunder auch, dass die Machthaber des Iran von ihm und seiner Partei de facto in Schutz genommen werden. Der antisemitische Vernichtungswahn, dem Ahmadinedschad und Co verfallen sind, wird bestenfalls als „nicht hinnehmbare Äußerung“ verharmlost, ohne dass er wirklich registriert würde oder dies gar irgendwelche praktische Folgen für die Politik der Partei hätte. Ahmadinedschads Drohung, Israel auszuradieren, seine Leugnung des Holocausts verbunden mit dem iranischen Atomprogramm wird höchstens zu einer taktischen Dummheit kleingeredet oder zum „willkommenen Vorwand der USA“ umgebogen, auf jeden Fall wird partout nicht zur Kenntnis genommen, was dahinter steckt. Dies alles ist auch verständlich, denn andernfalls geriete die Stabilität des Heuschreckenweltbildes, in dem man es sich so bequem gemacht hat, doch sehr nachhaltig durcheinander.

Auch bei Lafontaine selber stimmt das Weltbild nach innen und nach außen gut überein. Erst kürzlich hat er „Schnittmengen zwischen linker Politik und islamischer Religion“ festgestellt. Die gipfeln nach seiner Ansicht darin: „Im Islam spielt das Zinsverbot noch eine Rolle, wie früher auch im Christentum. „15 Keine Frage, „a world without Zionism“, von der Ahmadinedschad träumt, wäre auch eine mit Zinsverbot. 16

Emanzipatorischer Antikapitalismus als Aufgabe der Kritik

Eine gesellschaftliche Bewegung, die aus der Verbindung von sozialer Gegenwehr und Kritik der Basiskategorien der Warengesellschaft heraus die Kraft entfalten kann, erstmals wirklich über die kapitalistische Vergesellschaftung hinauszugehen, müsste fähig sein, sowohl die personalen Herrschaftsstrukturen als auch die „automatischen“ des Verwertungsprozesses hinter sich zu lassen. Die entscheidende Schwäche gegenwärtiger Gesellschaftskritik aber ist, dass ein solcher nicht regressiver, emanzipatorischer Antikapitalismus bislang in Theorie wie Praxis nur rudimentär vorhanden ist.

Trotzdem ist Kritik auch im Hier und Jetzt nicht machtlos. Für praktisches Vorankommen in Sachen menschliche Emanzipation kann sie dreierlei leisten: erstens muss sie unbedingt am Ziel einer globalen Assoziation freier Individuen festhalten und es als eine grundlegende emanzipatorische Selbstverständlichkeit gegen die Renaissance staats- und nationalstaatsfixierten Denkens in linken Köpfen verteidigen. Zweitens muss die Kritik der Folgen des (Welt-)Marktes zu einer Kritik des Marktes selber vorantreiben, inklusive seiner Voraussetzungen wie Ware und Wert, Arbeit und Geld, Kapital und Staat. Drittens muss sie die regressive Pseudo-Kapitalismuskritik selbst zum Gegenstand ihrer Kritik machen.

Dies alles ist durchaus als Tagesaufgabe zu verstehen. Denn ohne diese Kritik wird Kapitalismuskritik zwangsläufig regressiv oder reaktionär. Sie wird zur Kapitalistenkritik, wo doch Kapitalismuskritik angesagt wäre und kulminiert derzeit in der Phantasie von „Heuschrecken“ und „Stechmücken“, wobei es durchaus offen ist, was sie in Zukunft noch alles gebären wird. Nicht durchgehen lassen darf man eine Pseudo-Kritik, die sich am „Neoliberalismus“ abarbeitet, aber zum Kapitalismus schweigt und die die Politikillusion neu belebt, wie es ganz exemplarisch die Linkspartei tut.

Dagegen ist die Frage aufzuwerfen, was „Politik“ im althergebrachten Sinne heute noch ausrichten kann. Parteien veranstalten heute alle miteinander, egal wie sie heißen mögen, im Wesentlichen das Gleiche. Nicht solange sie das Glück haben, in der Opposition zu sein, das ist uninteressant. Entscheidend ist die Frage: warum unterscheiden sie sich kaum noch, sobald sie „in Verantwortung stehen“? Siehe das Beispiel aus Köln: das kleinste Zipfelchen von Macht in Reichweite und schon beginnen die Grundsätze zwischen den altbekannten Mühlsteinen Opportunismus und Sachzwanglogik zerrieben zu werden.

Noch einmal zur WASG. Der Parteiname „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ bringt in geradezu idealer Weise auf den Punkt, was vom Standpunkt emanzipatorischer Kapitalismuskritik aus eben nicht zu wollen ist. Nämlich weder „Arbeit“ noch „soziale Gerechtigkeit“, weder die Unterwerfung unseres Lebens unter die Herrschaft des blinden Formprinzips des Arbeiten-gehen-müssen-um-Geld-zu-verdienen-weil-wir-sonst-nicht-leben-können, noch die „Proportionalität nach dem Leistungsprinzip“, sprich nach dem Diktat des Werts, denn schließlich ist es im System des Äquivalententauschs nicht mehr als gerecht, eine Ware Arbeitskraft, deren Wert gegen Null tendiert, auch mit einem ebensolchen Lohn zu beglücken. Und wenn die Menschen endlich eine Alternative zu ihrem Leben unter der Knute des Warenfetischs wählen würden, so hätte auch das nichts mit einer „Wahlalternative“ zu tun, die in einem System, dessen Handlungsspielräume sich dramatisch verengen, noch einmal für kurze Zeit das Gegenteil vorgaukelt nach dem Motto „Du hast keine Alternative, aber wähle sie. “

Anstatt in der siebten Partei zum siebenhundertsten Mal perspektivlose Beschlüsse zu fassen, die den unsinnigen „Nachweis“ zu führen suchen, dass sich unser Leben auch weiterhin finanzieren lässt, wenn man es nur schlau genug anstellt, ist ein gutes Leben für ausnahmslos alle Menschen einzufordern und das Prinzip des Finanzierungsvorbehalts für unser Leben selber anzugreifen, ist sich schlicht und ergreifend nicht mehr um die Finanzierbarkeit zu kümmern.

Und das nicht passiv, indem mensch seine Stimme abgibt, sondern aktiv, also seine Stimme ganz bewusst nicht hergebend sondern behaltend. Will heißen: endlich sein Leben selber in die Hand nehmen und diesen beherzten Griff nicht mehr länger mit demjenigen zum Stift in der Wahlkabine verwechseln. Dabei sind Teilnahme oder Nichtteilnahme an Parlamentswahlen für die Gesellschaftskritik viel zu uninteressant, als dass es sich lohnen würde, sie zur Prinzipienfrage zu machen. Es gibt nachvollziehbare Gründe, nicht (mehr) an die Urnen zu gehen wie auch, trotz aller Bedenken, doch noch sein Zettelchen reinzuwerfen, von der Verkehrsberuhigung bis zur partiellen Zurückdrängung des Religionsunterrichts in einigen Bundesländern. Spannender ist die Frage, ob und wie sich emanzipatorische, über das Hier und Jetzt hinausdrängende Bewegungen entwickeln können.

Emanzipation und Kämpfe im Hier und Jetzt

Solange der Kommunismus noch nicht ausgebrochen ist, ist die Finanzierung von Zahnersatz nicht zu verachten. Also überhaupt nichts gegen den Kampf um die so genannten kleinen Dinge des Lebens, die im Übrigen, je dringender man sie nötig hat, ganz automatisch recht groß werden. Lohn, Urlaub, Rente, Arbeitszeitbegrenzung, Mutterschutz, Krankenversicherung etc. pp.

Auseinandersetzungen auf immanenter Basis sind alles andere als uninteressant. Erstens weil unser Leben hier und jetzt stattfindet. Was schon hinreichende Begründung genug wäre. Zweitens aber auch aus emanzipatorischer Sicht, denn die Befreiung wird nicht eines Tages als deus ex machina über uns kommen sondern dieses Werk, soviel bleibt sicher, können wir nur selber tun. Wir, die wir doch bis dato kaum anderes kennen als eben diese immanenten Kämpfe. Wir müssen also notgedrungen in den irdischen Niederungen nach brauchbaren Ansatzpunkten für eine solche Bewegung suchen bzw. an ihnen basteln. Die Frage lautet nicht: immanente Kämpfe ja oder nein sondern in welchen immanenten Kämpfen können sich möglicherweise Momente des Weiterführenden entwickeln und wie sind sie zu beeinflussen, damit auf ihrem Boden vielleicht doch einmal etwas Neues erblühen kann?

Ein Beispiel: Streiken und Wählen

Legen wir diesen Maßstab einerseits an die Linkspartei und andererseits an die Streikauseinandersetzungen der jüngsten Zeit an, so fällt zunächst ins Auge: Die Streikenden, insbesondere die Streikaktivisten und die WASG-Wähler sind z. T. personell identisch, auf jeden Fall stimmen sie in Analyse und Ziel überein, es geht ihnen um Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Wählen und Streiken sind also zwei recht immanente Angelegenheiten. Und trotzdem handelt es sich um zwei Paar Stiefel. Im einen Fall geht es um Delegation der Interessen an andere, die „es richten“ sollen, im andern um widerständige Selbsttätigkeit. Wenn auch die Streikenden gefangen bleiben in unzureichender Analyse, teils auch im Ressentiment und wenn auch Widerstand und Selbsttätigkeit per se nicht automatisch emanzipatorisch sind – auch der Teilnehmer am Pogrom fühlt sich bekanntlich widerständig und selbsttätig – so bleibt doch wahr, dass eine emanzipatorische Bewegung niemals auf dem Delegationsprinzip beruhen kann, sondern eben widerständige Selbsttätigkeit eine ihrer Voraussetzungen ist. Und wenn auch Widerstand und Selbsttätigkeit bei einem Streik immer noch arg begrenzt sind – geht es doch bei weitem nicht ums Ganze und gibt es doch allemal die Streikführer, an die nicht wenig delegiert wird – so bleibt doch ein wirklicher und kein deklamatorischer Aufbruch aus der Lethargie des die Verhältnisse Duldenden, eine praktisch gewordene Einsicht in die Notwendigkeit, sein eigenes Verhalten ändern zu müssen, will man für seine eigenen Interessen eintreten, für ein besseres Leben oder doch wenigstens gegen ein noch schlechteres. Im Streik gegen die Zumutungen der Krisenverwaltung entwickelt sich – und sei es nur zeitweilig und begrenzt – so etwas wie ein aufrechter Gang, verbunden mit dem Stolz darauf und der Erkenntnis, dass man nicht zwangsläufig zum Schlachtvieh geboren ist. Und was ArbeitskritikerInnen selbstredend besonders interessieren muss, auch wenn es nur bruchstückhaft zu Bewusstsein kommt und bald nach Streikende droht wieder gänzlich verschüttet zu werden: die Streikenden üben sich schon mal ein wenig im Leben ohne Arbeit und das manchmal sogar wochen- oder monatelang. Ein paar wenige Momente und Ansätze also für Emanzipatorisches, wenigstens ein leichter Hauch von weit entfernter Freiheit, der da vorüberzieht.

Ganz anders dagegen die Linkspartei. Delegationsprinzip per se. „Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht“, schrieb Paul Valery einmal. Oder auf das Frühjahr 2006 in Baden-Württemberg bezogen: Der Streik im öffentlichen Dienst hat der WASG mit Sicherheit genützt, immerhin kam sie aus dem Stand auf über 3 Prozent. Aber was hat die WASG eigentlich dem Streik genützt? „Es reicht! Jetzt hilft nur noch Linkspartei! „, diese Plakate gibt es zwar nicht, in Wirklichkeit steht NPD drauf. Aber das Motto entspricht genau dem Impuls, auf den auch die Linkspartei setzt.

Intervenieren

Nicht, dass die soziale Bewegung im Unterschied zur Linkspartei von all dem frei ist, ganz im Gegenteil. Die Partei ist ja nur Ausdruck des Bewusstseins dieser Bewegung, sie ist gewissermaßen ihr Kind. Folglich verbietet sich ein oberflächliches „böse Partei – gute Bewegung“. Trotzdem belegen alle Erfahrungen, dass die Parteiform denkbar ungeeignet ist, kritischen Geist aufzunehmen und zu verbreiten. Sie ist per definitionem auf die Gewinnung von Mehrheiten fixiert, sie wurde nicht geschaffen, um der Kritik zum Durchbruch zu verhelfen, sondern um der Masse nach dem Munde zu reden. Deswegen sind Parteien noch immer Brutstätten der Geist- und Kritiklosigkeit gewesen und radikale Positionen haben in ihnen keine wirkliche Chance. Mehr noch, Parteien haben immer wieder kritik- und geisttötend auf die Bewegungen zurückgewirkt. Es gibt kein Gegenbeispiel.

Möglichkeiten zur Intervention radikaler Kritik in die Bewegung bestehen erstens in der Kritik der Partei selbst, die diese Bewegung mit Notwendigkeit hervorbringt: der Bewegung ist ihr abschreckendes Bild im Spiegel vorzuführen. Zweitens in der damit einhergehenden Verbreitung einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik innerhalb der Bewegung. Keiner unsolidarischen, abwatschenden, sondern einer verständlichen und doch prinzipiellen.

Zur Verdeutlichung noch einmal die vergangenen Streiks gegen die 40-Stundenwoche im öffentlichen Dienst. Wie spiegelte sich der Verlauf des Streiks im Bewusstsein der Streikenden und Streikaktivisten selber wieder? Prinzipiell lassen sich drei Ebenen von Einflussfaktoren auf den Kampf bestimmen: a) Die Strategie und Taktik der Gewerkschaft und der Gegenseite, b) Das Kräfteverhältnis zwischen den kämpfenden Seiten und c) die objektiven Rahmenbedingungen, unter denen dieser Kampf stattfand. Welche Rolle spielten nun diese Ebenen im Bewusstsein der Streikenden? In den Belegschaften wurde großteils nur die Strategie und Taktik der kämpfenden Seiten wahrgenommen: „Die machen, was sie wollen; die hauen uns übers Ohr; das und das war ein Fehler; warum macht ver.di nicht dies und jenes? “ usw. Unter vielen Streikenden, den Aktivisten und Funktionären spielte darüber hinaus auch die Wahrnehmung und Einschätzung des Kräfteverhältnisses eine Rolle, wenn auch „je nach Fraktion“ auf sehr unterschiedliche Art und Weise – vom Konstatieren weitgehender Kampfunfähigkeit, „weil wir zu schwach sind“, bis zum allmachtsphantasierenden Wolkenkuckucksheim, wonach der Sieg angeblich alleine am Kampfwillen der Führung läge.

Basis wie Aktivisten jedoch nahmen die objektiven Rahmenbedingungen, unter denen sich der Kampf abspielte kaum wahr; insbesondere mangelte es an einem tiefergehenden Blick auf den Zustand der Ökonomie. Hier gilt es für radikale, emanzipatorische Kapitalismuskritik anzusetzen. Ist es z. B. wirklich so einfach, dass halt „genug Geld da ist“, man es folglich „nur umverteilen“ müsse, 17 ist es wirklich so, dass „die“ auch ganz anders könnten, wenn „sie“ nur wollten und nicht so profitgierig wären, reicht es wirklich aus, den Neoliberalismus anzugreifen und vom Kapitalismus zu schweigen usw. ?

Die Bewegung gegen Sozialabbau braucht solidarische Kritik. Entschieden muss sie sein: gegen die falsche Analyse, gegen das Ressentiment, gegen die Arbeitsreligion. Aber solidarisch muss sie auch sein, will sie sich nicht in überheblicher Besserwisserei gefallen sondern ihrem emanzipatorischen Vorhaben gerecht werden. Gerade wenn wir für den Erfolg der sozialen Bewegung eintreten und Beiträge dafür leisten wollen, dass sie ihre Fesseln sprengt und die Morgenröte der Freiheit erahnt, müssen wir gegen das regressive Projekt Linkspartei auftreten. Denn es steht für Nebelwerfer statt Morgenröte und droht, die Bewegung aufzufressen, noch bevor sie sich richtig entwickeln kann.


ANMERKUNGEN

1 www. mno. org/newpages/eco27b.html

2 a. a. O.

3 a. a. O.

4 www.lag-antifa.de

5 www. labournet. de/diskussion/rechten/allg/index.html

6 Pit v. Bebenburg, Frankfurter Rundschau, 30.6.05

7 so die taz vom 13.7.05 über Lafontaines Konzept

8 Presseerklärung des SSK, SSM und der Initiative Barmer Viertel zur Besetzung der Büroräume der Links-Fraktion Köln; Köln, 20.3.06

9 Zeitung der WASG zur Landtagswahl Baden-Württemberg am 26. März 2006, S. 5

10 alle Zitate nach Thomas Ebermann, konkret 9/2006, S. 12ff

11 siehe auch Lothar Galow-Bergemann, Andreas Exner, Argumentationsblätter Nr. 01/März 2006 „Geld ist genug da“ Doch das ist keine Lösung. www.streifzuege.org

12 Frankfurter Rundschau, 16.7.05

13 alle Zitate nach Thomas Ebermann, konkret 9/2006, S. 12ff

14 Neues Deutschland, 31.1.06

15 Neues Deutschland, 13.2.06

16 Zur Oberflächlichkeit der Zinskritik und ihrer antisemitischen Konnotation siehe u. a. Andreas Exner & Stephanie Grohmann, Bye bye Zinskritik… , Streifzüge Nummer 33, März 2005

17 siehe Anmerkung XI