Genug zu tun, zum Arbeiten zu wenig
Erschienen in: SOL 125, 2006, S. 14-15.
von Andreas Exner
Die Szene: Eine beliebige Dependance des AMS. Vielleicht in Klagenfurt. Sie betreten ein Beratungszimmer, nehmen Platz. Vor Ihnen: eine Angestellte, blickt in den Bildschirm. Nennen wir sie Frau S. Löst sich Frau S. vom Bildschirm, sieht sie auf eine Pinwand. Persönliche Notizen und Familienfotos befinden sich darauf – sowie ein Sinnspruch: „Glück ist nichts anderes als die Anpassung an den täglichen Wahnsinn.“ Frau S. ist nicht zu beneiden, in der Tat. Jobvermittlung ist ihr Job. Jobs vermittelt sie an Menschen, die arbeitslos gemeldet sind. Manche von ihnen gönnen sich eine „Auszeit“, andere wollen sich weiterbilden oder neu orientieren. Viel weniger noch als Frau S. sind freilich jene Arbeitslosen zu beneiden, die der Arbeitsmarkt partout nicht will. Zu alt oder zu jung sind sie, zu erfahren oder zu unerfahren, zu wenig, falsch oder zu hoch gebildet oder motiviert. Da kann auch Frau S. nicht helfen. Und passt sich lieber „an den täglichen Wahnsinn“ an.
Service und Kundschaft. Das tut gezwungenermaßen auch ihr arbeitsloses Klientel. Besser gesagt: die Kundschaft. Bekanntlich versteht sich das AMS als Service. Der Kunde allerdings ist hier kein König. Sagen wir’s rundheraus: Das AMS ist weniger ein Service als vielmehr eine Versicherung. Wie jede andere ihrer Art drückt sie sich um ihre Leistung. Für die Kundschaft kann das arg ins Auge gehen. Rund 6.200 Menschen wurde im Vorjahr das Arbeitslosengeld oder die Notstandshilfe gesperrt. Was im Fall der Krankenversicherung noch ein Skandal wäre, hier ist es bereits Normalität. Ob Raucherin oder Geringverdiener, ob Schwerarbeiter oder Rohkostverächter, ob Motorradfreak, Spitzenmanager oder Extrembergsteiger – immer noch werden Risikoindividuen ärztlich ebenso behandelt wie die reiche Vegetarierin mit viel Freizeit für Sport, Spaß und Ausgleich. Vom Bezug des Arbeitslosengeldes hingegen wird gesperrt, wer Vorladungen nicht folgt oder Kurse sausen lässt, das heißt: wer sich den „Maßnahmen“ des AMS verweigert.
Fiktive Arbeit, Teilzeitarbeit, Ich-AG. Eine ganze Palette an Pseudobeschäftigungen hat das AMS zum Zwecke der Arbeitssimulation entwickelt. Bis zu 200.000 Menschen etwa werden heuer zu Kursbesuchen vergattert, rund 50.000 mehr als im vergangenen Jahr. Die Kosten: satte 355 Millionen Euro. 70% der Teilnehmenden attestierten solchen „Maßnahmen“ einen „hohen persönlichen Nutzen“, weiß das AMS zu berichten. Einen besonders hohen Nutzen haben diese Maßnahmen für Wirtschafts- und Arbeitsminister Bartenstein. Die Zahl der Schulungen lag im April 2006 rund 20% über dem Vorjahresniveau. Das freut, denn Schulungsteilnehmende gelten nicht als arbeitslos. Ganze 4.000 Arbeitslose versuchen sich alljährlich auch als Firmengründer. Offenbar ziehen viele eine Existenz als Ich-AG dem Status eines Maßnahmenobjektes vor. Mit tatkräftiger Unterstützung des AMS, das die üblen Seiten der Arbeitslosigkeit nach Möglichkeit verstärkt, die Unternehmensgründung hingegen fördert.
„Arbeitslose raus aus der Statistik“, so lautet offenbar das Motto. Gehörig unter die Arme greift dem AMS dabei der Trend zum Teilzeitjob. Von 2004 bis 2005 stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um knapp 10% auf über 800.000 – ein Rekordwert. So wird das Beschäftigungsproblem auf dem Papier gelöst, frei nach der Formel: aus einem Job mach zwei. Der Lohn bleibt dabei freilich auf der Strecke. Ebenso wie die Lebensqualität von Frauen. Nach wie vor werden Frauen nämlich auf Herd, Haus und Kind verpflichtet. Mit einer Vollzeitarbeit ist dies nur schwer vereinbar, an Einrichtungen zur Kinderbetreuung mangelt es. Was die Gehälter angeht, scheinen Frauen immer noch als „Anhängsel“ eines „Familienernährers“ zu gelten. Die meist gering entlohnten Teilzeitjobs sind deshalb „Frauensache“.
Krise global. Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, Armut-trotz-Arbeit – keine dieser Erscheinungen ist auf Österreich beschränkt. So beziffert die internationale Arbeitsorganisation ILO den globalen Zuwachs an Beschäftigungslosen zwischen 2004 und 2005 auf 2,2 Millionen. Weltweit sind damit mindestens 200 Millionen Menschen arbeitslos. Auch in den reichen Staaten wächst seit den 1970er Jahren die Arbeitslosigkeit. Innerhalb der OECD stieg diese von 2,5% im Jahr 1974 auf 9,2% im Jahr 1994. 2005 lag sie über 6%, um 2 Prozentpunkte höher gar im Euroland. Arbeit freilich garantiert noch lange nicht ein gutes Leben. So verdienen 1,4 Milliarden Menschen weniger als 2 US-Dollar täglich für sich und ihre Familien – bei 2,8 Milliarden Beschäftigten weltweit also schuftet rund die Hälfte unter der Armutsgrenze. Weniger als 1 US-Dollar pro Person und Tag schließlich verdienen 485 Millionen Menschen. Auch hierzulande nimmt die Armut zu.
Macht Arbeit krank? Unter der Arbeit leidet nicht allein, wer keine hat. Auch zu viel oder zu schnelle Arbeit macht Probleme. Überlastung wird heute immer mehr zur Regel. Nicht selten passen Alltag und Beruf kaum mehr unter einen Hut. Kein Wunder also, dass etwa das Burn out-Syndrom im Anstieg ist. In Deutschland ist rund ein Viertel aller Erwerbstätigen davon betroffen. Auch Depressionen sind im Kommen. Bezeichnenderweise sinken in Deutschland die Krankenstände seit dem Beginn der 1990er Jahre. Allein, der Ausfall aufgrund von psychischen Erkrankungen hat im selben Zeitraum um knapp 30% zugenommen. Wer befürchtet, seinen oder ihren Job zu verlieren, arbeitet offenbar trotz Fieber, Schmerzen und Erschöpfung. Überschreiten die Zumutungen aber einmal die Schwelle des Erträglichen, kollabiert die Psyche.
Ein Happy End ist möglich. Ist dies alles purer „Wahnsinn“, wie der „Sinnspruch“ von Frau S. uns suggeriert? – In der Tat, es ist absurd: Obwohl die Produktivität fortlaufend zunimmt, vergrößert sich weder der allgemeine Reichtum noch die freie Zeit. Im Gegenteil: Es wachsen Armut, Stress und Konkurrenz. Denn die Märkte sind gesättigt. Die neuen Technologien verdrängen mehr Arbeit, als sie schaffen. Der Renditedruck der globalen Finanzmärkte schließlich treibt die Rationalisierung auf die Spitze. Viele sehen in mehr Wirtschaftswachstum einen Ausweg. Dieses schaffe Arbeit und solle einem „ökologischen Umbau“ dienen. Hier liegt allerdings ein Einwand nahe: Umbau ist nicht Wachstum. Und es stellen sich drei Fragen: Ist es in den reichen, „satten“ Volkswirtschaften der Globalisierungsära und angesichts der ökologischen Grenzen eigentlich möglich, Wachstum nach Belieben „anzukurbeln“? Warum soll es „Arbeit“ nur dann geben können, wenn die Wirtschaft wächst? Warum überhaupt „brauchen“ wir „Arbeit“? – Zu tun gibt es doch offenbar genug. Knapp sind vielmehr die Einkommen. So betrachtet wäre eigentlich ein Grundeinkommen vonnöten, ein „soziales Gehalt“, das allen Menschen zustünde, gleich ob sie sich am Arbeitsmarkt nun verkaufen oder nicht. Es wäre dann bedeutend leichter, die eigene Tätigkeit selbst zu wählen und zu gestalten. Der mögliche Reichtum unserer Gesellschaft würde Wirklichkeit.
Malen wir uns diese Zukunftsperspektive noch ein Stückchen weiter aus. Kehren wir also zu guter Letzt zurück zu jener Dependance des AMS, von der am Beginn die Rede war. Soeben hängt Frau S. die Jobvermittlung an den Nagel. Ihre „Kundschaft“ existiert nicht mehr. Die Leute haben gerade massenhaft begonnen, sich selbst zu beschäftigen. Frau S. räumt ihre Pinwand ab. Der „Sinnspruch“ ist nun ohne Sinn, der „Wahnsinn“ ist vorbei. Frau S. verlässt den Arbeitsplatz. „Arbeitslos“ ist sie beileibe nicht. Sie schließt die Bürotür, voller Tatendrang…