Die Neue Linke als politische Alternative in Deutschland
Teil der Lösung oder Teil des Problems?
von Manuel Böhm
Seit ca. 2 Jahren formiert sich links der SPD wieder eine selbsternannte „neue“ linke Kraft aus der bereits seit dem letzten Jahrhundert bestehenden ehemaligen Staatspartei der untergegangenen DDR – der PDS – und einer aus enttäuschten abgewanderten Teilen der SPD und der SPD-nahen Gewerkschaften unter dem Eindruck der Zwangsgesetze rund um HARTZ IV und der Agenda 2010 hervorgegangenen WASG. Der bei der Bundestagswahl 2005 offensichtliche Erfolg dieser Gruppierung mit dem achtenswerten Einzug als starke linke Fraktion in den Bundestag hat beiden Akteuren einen aus ihrer Sicht historischen Auftrag gegeben: Die Schaffung und dauerhafte Etablierung einer vereinigten „Neuen Linken“ im bundesdeutschen Parteienspektrum.
Eine aus europäischer Sicht ohnehin längst überfällige Entwicklung. In anderen westlichen und südlichen EU-Nachbarn der BRD haben sich angesichts eines auch dort schon mehrjährigen neoliberalen Kurses der sogenannten „neuen Mitte“, der von ehemals sozialdemokratischen Parteien – im Alleingang oder im Zusammenspiel mit liberalen und neokonservativen Kräften der Rechten – gegen Widerstände auch und gerade im eigenen Lager durchexekutiert wurde, am linken Rand neue Parteien etabliert oder bereits im Absterben begriffene Parteien zu ihrem vermeintlich letzten Gefecht mit den Waffen eines modern angehauchten Arbeiterbewegungsmarxismus aufgerappelt. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks hingegen spielen diese altlinken Parteien entweder weiter ihre aus der Vergangenheit übernommene – und historisch eigentlich schon längst selbstentsorgte – Rolle als staatstragende Partei in der Regierungsverantwortung weiter oder haben das auch dort sich formierende Protestpotential nahezu kampflos den Rattenfängern des rechten nationalistischen Spektrums überlassen.
Die BRD sticht allerdings aus diesem Linkstrend hervor, weil hier der Versuch gemacht wird aus einer abgewirtschafteten und bundespolitisch seit Jahrzehnten marginalisierten ostdeutschen Klientelpartei, der PDS, und einer neu entstandenen relativ vitalen aber auch extrem heterogenen Protestpartei, der WASG, eine „Neue Linke“ als Alternative zum verheerenden Wirken des Neoliberalismus – als Antwort der Herrschenden auf die Wirklichkeit des an seine inneren Grenzen stossenden kapitalistischen Systems – zu formen.
Wie kann und muss aber eine solche Alternative aussehen, wenn sie eine echte Alternative sein will? Welchen Einfluss auf die gesellschaftlichen Zustände kann eine solche sich formierende „Neue Linke“ nehmen?
Die in der BRD wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklungen und Verwerfungen sind keineswegs nur das schreckliche Ergebnis einer neoliberal angehauchten und theoretisch begründeten Umgestaltung der modernen Arbeitsgesellschaft. Sie sind vielmehr Ausdruck des im Kapitalismus systembedingt vorhandenen Widerspruchs zwischen der sich stetig auf ein höheres Niveau weiterentwickelnden Produktivität einerseits und der daraus zwangsläufig resultierenden Erosion der, als gesellschaftlich unkritisierbar betrachteten, zum Menschsein im modernen Sinne ohne Alternative notwendigen, Arbeit andererseits. Eine immer größer werdende Zahl Menschen wird aus dem kapitalistischen Reproduktionsprozess dauerhaft aussortiert, als „arbeitslos“ stigmatisiert, für überflüssig erklärt und somit aus dem gesellschaftlichen Leben komplett ausgeschlossen.
Die darauf als Reaktion folgenden Gesetze als Ausdruck eines zunehmend kopf- und planlos reagierenden Krisenregimes sind nur noch nachholende legislative Erfassung der bereits vorhandenen systembedingten und innerhalb des Systems auch nicht änderbaren Zustände. So hat z. B. Hartz IV mit seinen unsinnigen und menschenverachtenden Regelungen nicht etwa erst zum parteiübergreifend – auch durch die „Neue Linke“ – bedauerten Anstieg der Bedürftigenzahlen geführt, sondern nur die bereits seit Jahren stetig steigende Armut in der BRD endlich öffentlich bewusst gemacht und haushaltstechnisch konsolidiert. Ein Effekt, der sich zwar zwangsläufig einstellen musste, so aber von den planenden und ausführenden Kräften in unverständlicher Naivität sicher nicht beabsichtigt war. Durch weitere Verschärfung der Regeln und das Absenken der ohnehin lächerlich geringen staatlichen Transferleistung lässt sich die immer weiter um sich greifende Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen zwar statistisch und haushaltstechnisch ausblenden, als gesellschaftliche Tatsache mit der Politik – so sie für sich noch Gestaltungsanspruch definiert – umgehen muss, lässt sie sich auch mit den schärfsten Gesetzesänderungen nicht mehr wegdefinieren. Politik – besonders linke Politik – muss, will sie angesichts der kapitalistischen Realitäten nicht vollends als Akteur und Gestalter von der Bühne abtreten, diese tiefgreifende neue Qualität gesellschaftlicher Probleme als Ausdruck der Krisenhaftigkeit des gesamten modernen warenproduzierenden kapitalistischen Systems erkennen und jenseits dieses Systems Handlungsalternativen entwickeln.
Ein Zurück in die angestaubte Heimeligkeit des rheinischen Kapitalismus der zweiten industriellen Revolution im Nachkriegs-Wirtschaftswunderland der Alt-BRD mit seinem wohlfahrtsstaatlichen Konsens- und Umverteilungsmodell ist ebenso wenig möglich wie ein durch gutgemeinte Gesetze sozial abgefedertes Vorwärts auf dem Weg der dritten industriellen Revolution von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Zumal auch diese oft beschworenen neuen Formen der Erwerbstätigkeit nie wieder in der Lage sein werden untergegangene gesellschaftliche Zustände der Vollbeschäftigung und Sozialpartnerschaft zwischen den wirtschaftlichen Akteuren wiederherzustellen. Aus sich heraus hat der so stattfindende Transformationsprozess der kapitalistischen Arbeitswelt diesen Anspruch tatsächlich auch nie formuliert. Es ist nur der nächste logische Schritt die kapitalistische Verwertungsmaschinerie kurz vor dem Erreichen ihrer Systemgrenzen auch auf bislang noch nicht von ihr total erfasste Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Gesundheit, Bildung, Kultur und die schon aufgrund des selbstverschuldeten Finanzmangels der staatlichen Kassen in Auflösung befindliche öffentliche Infrastruktur wie Wasser- und Energieversorgung, Verkehrswege, Telekommunikation – soweit diese nicht ohnehin schon privatisiert worden sind – auszudehnen, um diese so wirtschaftlich rationell und produktiv wie möglich ein letztes Mal zu verwerten. Mit dem Endergebnis welches bereits jetzt in den schon länger kapitalistisch voll erfassten Sektoren zu beobachten ist: Möglichst effiziente Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen bei hoher Produktivität und minimalstem Personaleinsatz, also Abbau und Überflüssigmachen des „Menschenmaterials“. Einzig der zu erzielende maximale Profit interessiert, was gerade auch bei privatisierten Infrastruktur- und Grundversorgungsdienstleistungen oftmals mit sinkender Qualität bei gleichzeitig steigenden Preisen sichtbar wird. Warum gerade das Unterwerfen hiervon noch nicht komplett „verwüsteter“ Bereiche der gesellschaftlichen Gesamtproduktion – der Dienstleistungen vor allem öffentlicher Bereiche – einen anderen Effekt als Profit- und Produktivitätssteigerung zusammen mit Arbeitsplatzvernichtung haben sollte, konnte bisher kein Verfechter der kommenden herbeigesehnten Transformation zur sog. Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft schlüssig erklären. Es handelt sich hingegen lediglich um die letzte Stufe der Ausbeutung und Selbstausbeutung des Menschen im auslaufenden kapitalistischen System. Ein Kritikpunkt der auch und vor allem die sich als selbsternannte politische Alternative verstehende, sich formierende und vorgeblich Perspektiven entwickelnde „Neue Linke“ trifft.
Jegliche notwendige Kritik am an sich krisenhaften Wesen des modernen warenproduzierenden Systems, des Kapitalismus, ist dort seit langem verstummt beziehungsweise wurde sie in diesen Kreisen noch nicht in der notwendigen Tiefe als Notwendigkeit erkannt und formuliert. Am Fetisch Arbeit und Wert als Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Lebens der Moderne hält auch die „Neue Linke“ noch immer widerspruchslos fest. Nicht das aus der Not des zu Tage tretenden Grundwiderspruchs des kapitalistischen Systems geborene Krisenregime durch z. B. Hartz IV wird grundlegend an seinen systembedingten Wurzeln in Frage gestellt. Nein, nur die legislative Ausgestaltung der Zumutungen an die auf Dauer Ausgegrenzten der Gesellschaft wird als angebliches Problem erkannt und in epischer Breite diskutiert.
Um im bürgerlichen Politbetrieb zusammen mit den mittlerweile unterschiedslos neoliberal agierenden Altparteien eine gewisse Regierungsfähigkeit zu zeigen, wird von einem Teil dieser sich bildenden „Neuen Linken“ – der PDS – schon die nicht so strenge Anwendung der bestehenden aus der Not der Krise geborenen Gesetze in den von ihr mitgetragenen Regierungen auf Landesebene und durch die von ihr gestellten Mandats- und Funktionsträgern in ostdeutschen Kommunen als Erfolg einer „linken“ Politik verkauft. Stellenweise ist gerade die PDS in ihrer Regierungsfähigkeit, der Kumpanei mit dem kapitalistischen System, schon weiter und betreibt munter und mit Hinweis auf die Zwänge der Realpolitik den Ausverkauf der letzten öffentlichen Vermögenswerte durch überflüssige Privatisierungen. Es erscheint zumindest fraglich ob die von Armut, Verelendung und Sanktionen des Staates bedrohten Opfer der jahrzehntelangen Umverteilung von unten nach oben es als Wohltat und Hauptzweck einer „Neuen Linken“ ansehen, dass sie im Zweifelsfall statt 100% nur 80% ihrer ohnehin lächerlichen staatlichen Almosen gestrichen bekommen, mit exorbitanten Preissteigerungen der Grundversorgung mit Wasser, Gas, Strom und Mobilität durch auch mit Hilfe von Teilen der „Neuen Linken“ privatisierten ehemals öffentlichen Unternehmen überleben müssen oder ihre schon in der Vergangenheit durch eigene Arbeit und den Erwerb von Genossenschaftsanteilen bereits mehrfach bezahlten Wohnungen jetzt von renditehungrigen Finanzinvestoren ein weiteres Mal kaufen dürfen.
Die sich auf Biegen und Brechen auf die Teilhabe beziehungsweise Übernahme von Regierungsverantwortung in diesem absterbenden bürgerlichen Staat ausrichtende „Neue Linke“ kann so keine Perspektiven über den überkommenen kapitalistischen Tellerrand hinaus entwickeln. Sie kann – und wird – lediglich die von der Sozialdemokratie aufgegebenen größtenteils verwüsteten Aktionsfelder im Scheinbetrieb der demokratischen Realpolitik und verteilten Parteienlandschaft als Nachmieter beziehen können. Mit mittlerweile für die Zukunft untauglichen Rezepten. Hier wird sie als wichtiger Blitzableiter für die weiter zunehmenden Proteste der auf Dauer ausgegrenzten Bevölkerungsteile nur eine nachgeordnete Funktion der Befriedung im an sich überlebungsunfähigen und nicht mehr zukunftsfähigen bestehenden System übernehmen können. Eine Rolle, die die PDS bislang neben anderen, schon erfolgreich übernommen hatte und nun zusammen mit den fusionsbereiten willigen Resten der WASG als vereinigte „Neue Linke“ dauerhaft bundesweit besetzen wird.
Die Erkenntnis, dass die tatsächlich notwendige Änderung und letztlich die Überwindung des Systems nicht über Teilhabe an der Macht und dem Mästen an den Fleischtöpfen des bürgerlichen Staates formuliert und durchgesetzt werden kann, wird einer derart gestalteten „Neuen Linken“ strukturbedingt nicht mehr möglich sein. Ein Festhalten an rein qualitativen Änderungen innerhalb des kapitalistischen Bezugsrahmens – der augenscheinlich auch von der „Neuen Linken“ als Naturgesetz verstanden wird – verlängert höchstens die Fortdauer der sich immer weiter ausbreitenden und nicht mehr rückholbaren Systemkrise; Ein Schrecken ohne Ende. In diesem Punkt der Blindheit gegenüber der wirklichen Grundkrise des modernen warenproduzierenden Systems und ihrer möglichen noch zu formulierenden Lösung durch Überwindung dieses Systems ähnelt die „Neue Linke“ sehr stark den noch verbliebenen untoten Resten der alten linken Parteien in der BRD. Auch diese konnten oder wollten nie den an sich kapitalistischen Bezugsrahmen ihrer gesellschaftlichen Kritik und der daraus abgeleiteten politischen Forderungen erkennen und überwinden. Ob die gesellschaftliche Produktionstätigkeit – das an sich moderne kapitalistische warenproduzierende Gesamtsystem – nun in Privathand oder unter staatlicher Oberhoheit organisiert wird, ist nur ein gradueller aber kein grundlegender Unterschied. Zumal die alt-linke Forderung nach Wiedereinführung einer staatskapitalistisch angeblich dann selbstorganisierten, aber im Grunde nur privatkapitalistenfreien Arbeitsgesellschaft auf dem Boden des auch für sie augenscheinlich unüberwindbaren und nicht kritisierbaren warenproduzierenden Systems mit dem Zusammenbruch der derart organisierten und offensichtlich auch nicht zukunftsfähigen Systeme des Ostblocks und seiner südlichen Satellitenstaaten endgültig der Vergangenheit angehören sollte.
Eine wahrhaftig „Neue Linke“ muss die grundlegende Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems in all seinen unterschiedlichen historischen Ausformulierungen erkennen und es verstehen gesellschaftliche Utopien für seine Überwindung zu formulieren. Dies kann und sollte auch im Rahmen der Repräsentanz in den bürgerlichen Parlamenten geschehen. Wobei sie darauf achten muss, dass diese Repräsentanz nicht an sich Selbstzweck sein darf, sondern nur die notwendige Bühne für die Ausformulierung dieser noch zu erarbeitenden Utopie bilden kann. Jegliche Beteiligung an der Erarbeitung, Durchsetzung und Umsetzung des derzeitigen und in Zukunft fortdauernden Krisenregimes verkehrt eine ernstgemeinte „Neue Linke“ als mögliche Alternative ins genaue Gegenteil. Aus einer möglichen Lösungsalternative wird sie so nur zu einem Teil des Problems. Nicht ein zaghaftes Formulieren möglicher Kleinstlösungen und Verbesserungen innerhalb des Systems ist notwendig, sondern nachhaltige Forderungen und Vorstellungen wie eine nach-kapitalistische Gesellschaft ohne den verhängnisvollen Wechselbalg aus Kapital, Arbeit und Wert jenseits des an sich krisenhaften und an seinen Grenzen angelangten Reproduktionsmechanismus aussehen kann.
Es geht nicht mehr darum in alter sozialdemokratischer Manier quasi die SPD auf niedrigerem Niveau nachäffend eine bessere Verteilung des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums und der erodierenden Arbeit zu fordern, sondern aufzuzeigen wie und welches Modell des gesellschaftlichen Zusammenlebens das menschwürdige Leben aller Menschen in Zukunft dauerhaft gewährleisten kann. Solche Modelle werden aber nicht im luftleeren und entfernten Raum der bürgerlichen Parlamente und Institutionen entwickelt, sondern müssen im Zusammenspiel der in diesem geforderten Sinne zu grundlegender Kritik fähigen Teile der bestehenden linken Parteien mit außerparlamentarischen Bewegungen, Gruppen und Organisationen im offenen Diskurs erarbeitet und formuliert werden. Die bestehenden Gewerkschaften sind bewusst in dieser Aufzählung nicht enthalten. Es erscheint mehr als fraglich ob es ihnen angesichts ihres eigenen organisatorischen Selbstverständnisses als Standesvertretung der „Arbeitnehmer“ und ihrer historischen Rolle als organisatorische Hülle der Formierung und Etablierung der Arbeiterklasse als systemeingebundenes Handlungssubjekt innerhalb der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie gelingen kann die notwendige systemüberwindende Kritik überhaupt zu formulieren und in den geforderten Diskurs fruchtbar einzusteigen. In diesem Sinne ist besonders der zur Fusion mit der PDS bereite und von enttäuschten Gewerkschaftern dominierte Teil der WASG kritisch zu bewerten.
Eine solche breite Integration unterschiedlichster Gruppen, ein solches Hineintragen momentan noch nicht mehrheitsfähiger Modelle in die öffentliche Diskussion innerhalb und vor allem auch außerhalb der Parlamente ist die wahre historische Aufgabe einer „Neuen Linken“. So sie sich in ihrem selbstgestellten Anspruch wirklich ernst nimmt. Alle anderen möglichen Ansätze und Handlungen einer „Neuen Linken“ führen in eine Sackgasse und können per se nicht die notwendigen Impulse liefern. Ein vorsichtiges Austarieren systemimmanenter Parameter oder das Schlucken von bürgerlichen Kröten im fragwürdigen Sinne einer abstrakten oder auch realen Regierungsfähigkeit legt schon bei der Geburt den Keim des raschen Absterbens der „Neuen Linken“ in diese. Eine breite öffentliche Diskussion aller Schichten der Bevölkerung unter Moderation der „Neuen Linken“, mit ihr als Integrator, ist notwendig und machbar. Sie kann den erforderlichen übergeordneten Rahmen bieten und aus der Diskussion Perspektiven entwickeln, sie politisch formulieren und artikulieren, wie das für alle Menschen – und nicht nur für die derzeit schon Ausgegrenzten – überlebensfeindliche System der kapitalistischen Tretmühle überwunden werden kann.
Die „Neue Linke“ muss sich dieser Herausforderung stellen. Erst dann kann und wird sie ihre angeblich historische Chance wahrnehmen können. Sollte sie diese einmalige Chance auf dem Altar kurzsichtiger politischer Ziele opfern, wird sie eine zweite Gelegenheit angesichts der fortschreitenden Krise des gesamten globalen Systems und seines Zusammenbruchs nicht mehr wahrnehmen können. Wie Gesellschaften und Staaten nach dem fast völligen Zusammenbruch des maroden Systems aus Marktwirtschaft und Demokratie aussehen, kann leicht an den Zuständen in den Ländern der östlichen und südlichen Krisenregionen am Rand unserer spätkapitalistischen Wohlstandsinsel beobachtet werden. Noch besteht für eine „Neue Linke“ die Möglichkeit durch das Formulieren gesellschaftlicher Utopien einer solch verhängnisvollen, aber bei einem „Weiter so“ unabwendbaren, Entwicklung entgegenzutreten. Diese Möglichkeit kann und wird aber mit dem bereits sichtbaren Anbiedern der „Neuen Linken“ an das herrschende System verspielt werden. Die „Neue Linke“ hat angesichts dieser Entwicklungen nicht mehr viel Zeit sich im geforderten und notwendigen Sinne zu definieren.
Insofern besteht die oft beschworene historische Chance, ja die historische Notwendigkeit einer „Neuen Linken“ noch. Sie muss aber auch neu im Sinne von radikal sein, mit alten überkommenen Rezepten brechen, eine ernsthafte Kritik des auch in ihren Reihen quasi als Naturgesetz anerkannten modernen warenproduzierenden Systems erarbeiten, seine mittlerweile erreichte systembedingte Grenze als solche erkennen und daraus Utopien zur Überwindung dieses Unrechtssystems entwickeln. Dazu gehört auch im Alltag des bürgerlichen Politspektakels nicht Sonntags gegen die Auswüchse des Krisenregimes zu protestieren um sie wochentags im Parlament mitzutragen. Nicht die hirnlose und maschinenhafte religiös verehrte Produktion von Waren und Werten und der daraus abgeleiteten Arbeit kann Bedingung ihres Menschenbild sein, sondern das Menschsein an sich, die Verwirklichung und Befriedigung persönlicher und gesellschaftlicher Wünsche und Bedürfnisse ohne äußere im Wert manifestierte Bedingung muss im Kern dieser zu entwickelnden Utopie stehen.