Detroit Summer
Soziale Anomie und emanzipatorische Gegenbewegungen in einer dekapitalisierten US-Metropole – Teil 2
Streifzüge 37/2006
von Andreas Exner & Irina Vellay
Die Prekarisierung der Lebensverhältnisse drängt die Menschen dazu, nach Lösungen zu suchen, die Stabilität und verlässliche Unterstützung versprechen. Die kleinen Netzwerksysteme verfügen jedoch nur über eine begrenzte Leistungsfähigkeit. Die große Anzahl psychosozial und gesundheitlich ruinierter Menschen, die aus der gewinnmaximierenden Warensphäre herausfallen, können sie nicht auffangen. Im „Niemandsland“ des „abwesenden“ Kapitalismus fallen Probleme und Chancen so in eins: Die Gleichgültigkeit des globalisierten Kapitals macht große Teile der Stadt – in welchem Zustand auch immer – den BewohnerInnen verfügbar. Die Zahl der Obdachlosen etwa ist auch deshalb so hoch, weil sie hier sein dürfen und nicht vertrieben werden.
Im Zentrum der Anstrengungen für eine „Wiedererrichtung“ (Resurrection) der Stadt steht der Dialog der AktivistInnen mit den BewohnerInnen. Die neue Kultur des gemeinsamen öffentlichen Aushandelns der Art und Weise, wie sich die Quartiere entwickeln und welche Regeln gelten sollen, hilft einen interkulturellen wie generationsübergreifenden „Common Sense“ herzustellen. Dieser Konsens, der allen ein „Existenzrecht“ zubilligt, soweit sie nicht anderen Menschen schaden, ist ein offener Prozess, der immer wieder auch neue Richtungen nehmen kann. Er ist zugleich fortwährend Gegenstand von Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung und den Kapitalinteressen von „Developern“ um die Bodennutzung, soweit Investitionsinteressen (noch) von öffentlichen Fördergeldern angezogen werden.
Die wesentlichen Elemente des Kampfes der sozialen Bewegung um eine sozial und ökologisch verträgliche Zukunft der Stadt sind gebrauchsorientierte – vom Profit, teils auch von Kauf und Verkauf entkoppelte – Mittel zur Existenzsicherung wie der Aufbau einer lokalen Selbstversorgung mit biologischen Lebensmitteln, die Instandsetzung des öffentlichen Raums und Bildungs- und Kulturaktivitäten. Als erstes gilt es, Nahrungssicherheit und Wohnen für die Menschen zu gewährleisten. Detroit Summer richtet deshalb regelmäßig Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen her. Die sanierten Gebäude sollen die Geschichte der Stadt erfahrbar machen und der öffentliche Raum soll als Bühne und Begegnungsraum der neuen sozialen Kultur z. B. mit Murals Ausdruck ermöglichen. Die Vernetzung der unterschiedlichen Aktivitäten und die öffentliche Kommunikation stärken die Kooperation im Quartier und stiften ein kollektives Verständnis von sozialer Verantwortlichkeit für die Lebenswelt und das Miteinander. Die wachsende Kommunikation in der Quartiersöffentlichkeit stabilisiert umgekehrt die sozialen Regeln. Es geht hierbei um einen Prozess der Selbstveränderung von konkurrierenden Warensubjekten sowie von mehr oder weniger Ausgegrenzten, die keine Kontrolle über die eigenen Lebensvoraussetzungen besitzen, hin zu Menschen, die im lokalen Kontext sozial eingebettet sind und diesen Rahmen kooperativ ausgestalten. Diese Prozessorientierung kann als offenes Konzept eine Vielzahl von Entwicklungsimpulsen zu produktiven, z. T. auch situativen Arrangements integrieren und die Lebensbedingungen und die Entfaltungsmöglichkeiten aller BewohnerInnen verbessern. Das so gewonnene Selbstbewusstsein ist ein Instrument, das den Horizont in die Zukunft öffnet. Es richtet sich direkt gegen die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, einer menschenverachtenden, global agierenden kapitalistischen Ökonomie ausgeliefert zu sein.
Gegenkultur
Die kollektiven Reaktionen auf die Zerfallsprozesse der Warengesellschaft sind die Basis einer Gegenkultur, welche die „Rekulturalisierung“ des (ausgegrenzten) lokalen Kontextes zum Ausgangspunkt nimmt. „Das Andere der korporatistischen Globalisierung (vgl. G. L. Boggs, The beloved community of M. L. King, 2004, www.yesmagazine.org) ist jedoch nicht völlig von der Warenökonomie abgekoppelt. Die Bewegung hat ein widersprüchliches Verhältnis zum Staat, der mit Integrationsangeboten und Steuerungsversuchen aufwartet. Die Anerkennung der Non-Profit-Organisationen als „gemeinnützig“ befreit diese zwar nach dem Einkommenssteuergesetz (Internal Revenue Code 501c3) von Steuern, verpflichtet sie gleichzeitig jedoch auf Ziele, die der Staat als förderungswürdig ansieht, und untersagt darüber hinaus das politische Engagement. Der 501-Status schreibt eine bestimmte Organisationsstruktur vor und verlangt die Offenlegung der Bücher über die Verwendung der Mittel in einem jährlichen Geschäftsbericht. Auch das Boggs Center (www. boggscenter. org ), welches das Detroit Summer-Projekt maßgeblich finanziert, hat seit einiger Zeit den 501c3-Status. Eine solche Konstruktion ist weit verbreitet und erlaubt dem Staat ein gewisses Maß an Kontrolle. In den sozialen Bewegungen hat es immer wieder Diskussionen gegeben, ob man einen solchen Weg beschreiten und sich „professionalisieren“ soll. Die andere Kooperationsebene mit der Warenökonomie ist das Mikrokapital in Gestalt kleiner Unternehmen in den Quartieren. Zum Beispiel unterstützt die biologische Avalon-Bäckerei Aktivitäten und Events von Initiativen im Quartier und festigt so die Bindungen mit ihrer Kundschaft.
Der Paradigmenwechsel hin zu einem lebensdienlichen Konzept direkter Selbstorganisation, das sich an konkrete Menschen und ihre sinnlichen Bedürfnisse wendet, ist der Ausgangspunkt, um die geldvermittelte, vom monetären „Sachzwang“ bestimmte Machtlosigkeit außer Kraft zu setzen. Die Erfahrung, größere soziale Zusammenhänge über unmittelbare Kooperation zu schaffen und aufrechterhalten zu können, so Einfluss auf die eigenen Lebensbedingungen gewinnen und Veränderungen in Gang bringen zu können, ermöglicht eine auf lebensdienliche Prinzipien gegründete soziale Anerkennung und setzt gerade damit starke Impulse für eine neue Gesellschaft. Je mehr Ausstrahlung diese „neue Sozialität“ entfalten kann und je mehr sie konkrete Lebenszufriedenheit und soziale Stabilität ermöglicht, desto weniger greifen die Strategien der Kriminalisierung. Die explorative gesellschaftliche Praxis ermöglicht insbesondere den Jugendlichen die kritische Distanzierung von „Sozialisationsangeboten“, die keine Zukunft mehr eröffnen. Und die Risse im lange unhinterfragten Konsens, dass Geld der Schlüssel für ein gelingendes Leben sei, werden umso breiter, je mehr wichtige Existenzmittel außerhalb der kapitalistischen Warenwirtschaft produziert werden und soziale Anerkennung sich nicht länger auf den Konkurrenzerfolg stützt.
Die Wahrnehmung der Gegenkultur-Projekte hat sich mittlerweile in Detroit verändert und die Wirkungen reichen weit über die Stadt hinaus. Viele High Schools und Colleges haben „Service Learning“ als aktives Engagement für „Community Building Projects“ in die Curricula integriert. Schätzungen besagen, dass sich heute ca. 75 Prozent der US-amerikanischen College-StudentInnen in solchen Projekten engagieren (vgl. S. Howell, Detroit Summer: Rebuilding Our Cities From the Ground Up! , Königstein/Taunus 2006). Zunehmend werden diese Ansätze in Detroit auch von kapitalismuskonformen Grassroots-Organisationen aufgegriffen (z. B. www.starofmichigan.org). Damit ist auch ein intensiverer Zugriff auf die jungen Menschen verbunden. Bereits in den 1990er Jahren gab es immer wieder Versuche seitens systemkonformer Organisationen, sowohl Führungspersönlichkeiten als auch talentierte Jugendliche aus dem Detroit Summer-Programm mit finanziellen Angeboten abzuwerben. Da die Bush-Administration Unterstützungen für innerstädtische Problembereiche faktisch abgeschafft hat und keine Bindungen mehr für öffentliche Förderprogramme bestehen, sehen sich auch systemkonforme Grassroots-Organisationen nach neuen Ideen um, über die sich private Spenden und Fördermittel erschließen lassen. Diese Vereinahmungsversuche sind ein ständiges Feld von Auseinandersetzungen und Diskussion. Insgesamt jedoch sind sowohl Detroit Summer als auch die übrigen Ansätze gewachsen und vielfältiger geworden. Darin deutet sich an, dass im Kontext der „neuen Sozialität“ offenbar zunehmend „Überschuss“ entsteht, der auch neue Herausforderungen mit sich bringt: Die Bewegung wächst, gewinnt einerseits an Einfluss auf das Geschehen in der Stadt und muss sich andererseits zunehmenden Vereinnahmungsversuchen stellen. Eine weitere Herausforderung ist auch der Generationswechsel von den GründerInnen hin zu den Jüngeren, die über Detroit Summer zum sozialen, gesellschaftspolitischen Engagement gekommen sind und nun Verantwortung für das Projekt übernehmen. Im Zuge des Wechsels hatte Detroit Summer zunächst den Versuch gemacht, die Abwerbungsbestrebungen mit kleineren Geldbeträgen für Jugendliche mit organisatorischen Aufgaben und das große Interesse aus den Quartieren an den Projekten mit einer Ausweitung des Programms zu beantworten. In einem längeren Lernprozess ist man heute allerdings wieder dahin zurückgekehrt, ehrenamtliches Engagement und gebrauchsorientierte Kooperation als essentielle Grundlage der sozialen Veränderung in der Stadt in den Mittelpunkt zu rücken.
Wege aus den Widersprüchen?
An den Entwicklungen in Detroit wird sichtbar, dass der Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft trotz aller Ausgrenzungen nicht wirklich aufgehoben werden kann. Der daraus resultierende Prozess fortgesetzter Marginalisierung ist nur mit hohem Repressionsaufwand aufrechtzuerhalten und entsprechend prekär. Eine Strategie zur Durchsetzung eigener Interessen muss daher an der Verknüpfung als „Gesamtzusammenhang“ ansetzen und die „Fehlstellen“ zum Ausgangspunkt für „das Neue“ machen. Das Vakuum des aufgelösten Kapitalverwertungszusammenhangs markiert zugleich den Grenzbereich kapitalistischer Stadtentwicklung. In dieser Zone des Übergangs entstehen frühe Praxisformen einer post-kapitalistischen Gesellschaft, umgeben von fortgesetzter Verelendung. Das innewohnende Potenzial der „neuen Sozialität“ ist umso mehr der zentrale Gegenstand des Ringens um eine neue kulturelle Hegemonie. Dieses Ringen ist wiederum Teil globaler Prozesse, und nicht zufällig sind in Detroit die Botschaften der Zapatistas sehr präsent (S. Howell, Workshop, Köln 2005).
Charakteristisch für die Praxis der Initiativen in Detroit ist dabei eine Strategie der kleinen Interventionen. Sie ist keine alleinige Erfindung der sozialen Bewegungen, sondern hat einen Teil ihrer Wurzeln in den neuen neoliberalen Managementmethoden zur Selbstorganisation und Selbststeuerung. „Drawing from quantum theory and studies of complex systems from the , new science‘, (Magaret) Wheatley emphasizes how new analytic frameworks like self-organizing systems can help us better understand the process of social development and social change and our own role as activists in the process. Complex systems are characterized by not only stability but change and renewal, and behavior in these systems occurs in a , web of connectedness‘, where , local, small actions‘ can have great significance throughout the system“ (G. Omatsu, Freedom Schooling, 2001, www.boggscenter.org). Auf eine neue Weise wird hier eingeführt, dass trotz eines weitgehenden Ausschlusses der „GlobalisierungsverliererInnen“ von der dominanten Form der Vergesellschaftung alles mit allem zusammenhängt – wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings mit dem globalen Klima. Es ist der ambivalente Versuch, sich die neuen Formen sozialer Organisation, die der Neoliberalismus hervorbringt, anzueignen und in eine Handlungsfähigkeit „von unten“ zu transformieren. Auch in der amerikanischen Linken hat diese Perspektive ihren Niederschlag gefunden. So sagt Immanuel Wallerstein: „We are in a systemic bifurcation (Scheideweg), which means that very small actions by groups here and there may shift the vectors and the institutional forms in radically different directions“ (I. Wallerstein, Social Change? , 1997, www.binghamton.edu). Die immer wieder von den Detroit Summer-AktivistInnen vorgetragene Botschaft – „each one of us can make a difference“ – findet sich darin wieder. Tatsächlich wächst in einer gesellschaftlichen Krisensituation der Spielraum für grundlegende Veränderungen; nur in einer solchen Situation ist es möglich, das gesamte Ensemble von zusammenhängenden sozialen Praxen, Institutionen und Normen zu transformieren, die sich in Zeiten sozialer Stabilität wechselseitig abstützen und emanzipative Teilveränderungen kompensieren. In der Krise hingegen werden bislang dominante Entwicklungspfade unwegsam, die Scharniere der Herrschaftsbeziehungen greifen schlechter ineinander und Reibungsverluste nehmen zu, die Herstellung von Konsens wird schwierig. Kleine Veränderungspole – Individuen, Gruppen, Projekte, Milieus, Gegendiskurse – können sich so als mögliche Ausgangspunkte wirkmächtiger Praxisinnovationen begreifen. Hierin liegt das reelle Potenzial einer „kooperativen Individualität“, die auf die Alltagsbeziehungen auf diskursiver wie auf materieller Ebene fokussiert. Sie nimmt damit ernst, dass gerade die alltägliche Lebenswelt zentraler Ort und Scharnier gesellschaftlicher Machtverhältnisse und so auch das „archimedische Feld“ für ihre Veränderung ist.
Im Unterschied zur gesellschaftsverändernden Dynamik solcher Strömungen, die wechselseitige Resonanzen auf Grundlage einer ähnlich gestimmten sozialen Praxis erzeugen und daraus neue Inspirationen ziehen können, befinden sich die traditionellen Sozialbewegungen in einer tiefen Krise. Zwar ist weder der Klassenkampf verschwunden, noch fehlen Widerstände gegen Umweltzerstörung, Diskriminierung und staatliche Gewalt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass selbst die globalisierungskritische Bewegung keine substanzielle Gegenmacht zum postfordistischen Kapitalismus darstellt. Diese bedarf vielmehr eines starken alternativen „Attraktors“, der den herrschenden Logiken und sozialen Formen schon im Grundsatz widerspricht; muss sie doch – zumindest perspektivisch – in der Lage sein, der Verwertungsbewegung fortschreitend Ressourcen zu entziehen, ihre eigene Basis auszudehnen und zugleich die Akkumulation abzuschnüren, um das Kapital durch eine „kreative Macht“ in seine letzte Krise zu treiben.
Es ist viel mehr als eine bloße Formel, wenn Aktivistinnen in Detroit die unmittelbare Kooperation in gegenseitiger Verantwortung („Community Building„) in das Zentrum ihrer Bemühungen rücken. Tatsächlich liegt darin eine wesentliche Vorbedingung emanzipativer Prozesse. Denn der soziale Zusammenhang ist im Kapitalismus von den unmittelbaren menschlichen Beziehungen abgespalten und erscheint als ein „Ding“ außerhalb der Gesellschaft, in Gestalt der miteinander eng verbundenen Mächte von Kapital und Staat. Zentral ist deshalb, das Soziale wieder zu gewinnen, der Aufbau von direkter Gesellschaftlichkeit. Gemeinsame soziale Praxis in den Gemeinschaftsgärten, den Bildungsprojekten usw. , die sich nicht über das Geld vermittelt und die Menschen zu einem direkten Miteinander bringt, ist in Detroit dafür das wichtigste Medium. Sie erlaubt es, sich selbst neu zu erfahren, den „Kapitalismus im Kopf“ abzubauen und so auch den notwendigen inneren Spiel-Raum zu schaffen für eine „andere Welt“.
Ähnlich wie in den Globalisierungsprozessen der „Global City-Ökonomien“ und den „Survival Circuits„, angetrieben von Migration und illegalen „Schleuserpraktiken“ (S. Sassen, Strategic Instantiations of Gendering, 2005, http://portal.unesco.org), sind Frauen auch in Detroit die Agentinnen des sozio-ökonomischen Wandels. Nicht nur die Sphäre des Warentauschs, die in der Krise quantitativ an Bedeutung einbüßt, sondern auch die Gebrauchssphäre der gesellschaftlichen Reproduktion mit ihren kooperativen Elementen wird in der ökonomischen Restrukturierung entlang einer/eines feminisierten „Gesamtarbeiterin/-arbeiters“ neu ausgestaltet. Frauen als Garantinnen der Subsistenz sind hier offenbar trotz der schwierigen Bedingungen in der Lage, die Geschlechterasymmetrie zu ihren Gunsten zu verschieben und Deutungsmacht zu beanspruchen. Die teils aggressive Frauenfeindlichkeit der Hip Hop- und der Rapkultur (z. B. Eminem) gründet sich nicht nur auf die Marginalisierung schwarzer Männlichkeit, sondern auch auf die Positionsgewinne der Frauen. Hier scheinen grundlegende Umwälzungen auf, welche die emanzipatorischen Prozesse dynamisieren.
Inwieweit diese neuen Reproduktionsstrukturen an Breite und an Festigkeit gewinnen, kann erst die Zukunft zeigen. Entscheiden wird sich dabei, ob sie auch in der Lage sind, einen materiell-diskursiven Schwingungsboden für globale, kumulative Resonanzen post-kapitalistischer Praxen herzustellen. Davon hängt schließlich ab, ob solche Dynamiken auf eine subalterne „Krisenverwaltung wider Willen“ verwiesen bleiben, indem der Staat sie für eine kostengünstige Kontrolle der kapitalistischen Verlassenschaften instrumentalisiert, oder ob sie die Rolle eines neuen sozialen „Attraktors“ spielen werden, der warengesellschaftliche Zerfallsprozesse offensiv zu seinen Gunsten nutzt. In den Ambivalenzen der aktuellen Kooperations- und Kooptationsverhältnisse zwischen Staat und Lokalstaat (Stadtregierung), bürgerlicher Zivilgesellschaft, Mikrokapital und post-kapitalistischen Bewegungspraxen sind beide Möglichkeiten latent vorhanden.
Perspektivenwechsel
Wo die Akkumulation zurückgeht, der Verwertungszusammenhang sich lockert und folglich Staat und Kommunen in Finanzierungsschwierigkeiten geraten, bleiben die Individuen wie „Treibgut auf den vermüllten Stränden der Wirtschaft“ (Sami Tchak) zurück. Anders als in vielen Regionen der (ländlichen) Peripherie können die Menschen in den (städtischen) Zentren aber kaum je unmittelbar auf Möglichkeiten der Subsistenzsicherung und vom Kapitalismus nicht erfasste Traditionsräume zurückgreifen, um der sozialen Krise zu begegnen. Denn erstens ist das Wissen, das für eine vom Markt unabhängige soziale Reproduktion vonnöten ist, vielfach nicht direkt verfügbar, und zweitens entbehren die Menschen mehrheitlich auch die Fähigkeit zur direkten Kooperation, sobald der Zwang des Kapitals einmal wegfällt. Klar ist schließlich drittens auch, dass sich die Bedürfnisse nach Gesundheit, Bildung und nach kulturellen Möglichkeiten in einer kapitalistischen Metropole anders gestalten als in vielen Gesellschaften der Peripherie, die nie den (destruktiven) Zenit der Moderne erreicht haben (wohl allerdings eine subalterne Position in ihrem Rahmen). Damit sind auch die organisatorischen Anforderungen der Krisenbewältigung höher. Denn Produktion, Verteilung und Kultur auf Basis heutiger Bedürfnisse und unter Nutzung der ihnen entsprechenden Technik erfordert koordinative Institutionen von der lokalen bis zur überregionalen, womöglich sogar globalen Ebene (vgl. z. B. N. Trenkle, Weltgesellschaft ohne Geld, 1996, www.krisis.org). Zugleich sind die Bedürfnisstrukturen umzugestalten und die heute eingesetzten Technologien auszusortieren, radikal umzubauen und ökologisch neu zu entwickeln, um einer herrschaftsfreien Gestaltung der Naturverhältnisse entsprechen zu können.
Auf diese dreifache Herausforderung antworten – teils explizit, in manchen Punkten implizit – Projekte wie Detroit Summer. Wie kann Bildung für ein Leben in Gemeinschaft möglich werden? Wie können Menschen lernen, sich direkt aufeinander zu beziehen, wenn sie den Umweg über Geld und Ware und die damit verbundene Überlebenskonkurrenz nicht mehr gehen können oder wollen? Wie kann soziale Integration in großen Gesellschaften jenseits der Ware-Geld-Beziehungen hergestellt werden?
Detroits Krise ist global gesehen alles andere als ein Einzelfall. Aus hiesiger Perspektive bezieht Detroit sein besonderes Interesse allerdings aus der Ähnlichkeit seiner jüngeren Vergangenheit zu den gegenwärtigen Bedingungen in Mitteleuropa. Was für Detroit die notwendige Möglichkeit, das Leben neu zu organisieren, darstellt, ist hierzulande eine mögliche Notwendigkeit der mittleren Frist. Der Übergang zu einer postkapitalistischen Lebens- und Produktionsweise ist freilich einfacher zu bewerkstelligen, wenn nicht die Not das Tun diktiert und der finanzielle Sachzwang nicht jede substanzielle emanzipatorisch ausgerichtete Bewegung in den Formen von Geld und Ware stranguliert. Insofern stünden die Chancen für eine Alternative hierzulande besser als in den Zusammenbruchsregionen der formellen Ökonomie. Dort treibt vielfach nicht die selbstbestimmte Entscheidung, sondern nackter Zwang neue Formen des Zusammenlebens hervor. Angesichts der weltwirtschaftlichen Krisenpotenziale, die eine absehbare Verknappung des fossilen „Kapitaltreibstoffs“ noch erhöhen wird, sowie in Anbetracht der vom Kapitalismus angerichteten sozialen und ökologischen Verheerungen mag das historische Fenster, monetäre Ressourcen und staatliche Regelungen dafür zu instrumentalisieren, um sich diesen Formen zu entwinden, nicht allzu lange Zeit mehr offen stehen.
Aller Grund besteht also dazu, den defensiven Kampf gegen Privatisierung und neoliberale Regulierung – im Verein mit der Forderung nach monetären Leistungen – in eine offensive Perspektive der direkten Aneignung der stofflichen Ressourcen zu stellen, die sich gegen die kapitalistische Produktionsweise ebenso wie gegen ihren ideellen Geschäftsführer und politischen Moderator in Gestalt des Staates richtet. Dann wäre der Weg zur Entwicklung einer Gesellschaft eingeschlagen, die die Menschen nicht länger in die vernichtende Konkurrenz um den abstrakten Geldreichtum treibt, sondern die Reichtumspotenziale von der Warenform entbindet und dort verortet, wo diese immer schon begründet liegen: in der menschlichen Beziehung.
Der erste Teil dieses Artikels ist in Streifzüge 36 erschienen.
Dieser Beitrag stammt aus dem Buch:
ATTAC (Hg. ): Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Analysen und Alternativen zum Standortwettbewerb, Mandelbaum-Verlag 2006, 250 Seiten, 15,80 Euro, 28,80 Chf. ISBN: 3-85476-190-2