10 Jahre Streifzüge
Streifzüge-Redaktion
Lernbub
Streifzüge 36/2006
von Martin Scheuringer
Auf die Idee, dass ich mich nicht unbedingt in die gängigen Denk- und Handlungsformen einpassen muss, kam ich erst, als mich während des Studiums die 68er-Nostalgie packte. Diese befällt einen Soziologie- und Philosophie-Studenten wohl fast zwangsläufig, wird doch in diesem Umfeld Kritik als die Mode der Alternativen inszeniert. Wir – die Kritischen – operierten mit analytisch hoch präzisen Begriffen, die die Realabstraktion mit der notwendigen Konkretisierung vollkommen bestimmten: „Bist du auch gegen die ganze Scheiße? – Ja? – Super! “ So ging ich auf einige Demos und fühlte mich gut, weil ich Widerstand gegen das System leistete, in dem ich mich dennoch etablieren wollte. Der Widerstand hatte nichts mit dem zu tun, was mich beim Studium interessierte. Dabei huldigte ich dem rein akademischen Interesse, las Kant und Konsorten und baute mein Image als weltfremder Hirnwixer auf.
Dass das Philosophieren meine Existenz aber als ganze trifft und nicht bloß eine Spielerei des Verstandes ist, dass sie Probleme hat, die ich wirklich habe, das verdeutlichten mir die Vorlesungen von Gerhard Gotz. Seine Gedankengänge setzten meine Ganglien Nächte lang unter Spannung. Der Mensch, so begriff ich, ist in sich eine problematische Existenz, da er Gründe für seine Handlungen angeben muss, und diese können falsch sein. Wir können uns vom falschen Schein leiten lassen.
Als ich durch Andreas Exner mit der Wertkritik in Berührung kam, war meinem suchenden Bewusstsein sehr geholfen. Ich fand Bestimmungen dessen, was dieser falsche Schein ist, wie er funktioniert und warum wir ihm so schwer entkommen. Ich wollte bei diesem Projekt mitmachen, und tatsächlich wollten die mich auch dabei haben.
In dem Jahr, das ich nun in der Redaktion bin, war der erste Eindruck Ernüchterung. So eine Zeitung ist viel mehr organisatorischer Aufwand, als ich befürchtete, und in der Redaktion wurde weit weniger theoretisiert, als ich erhoffte. Freilich – ich gestehe, mir so etwas wie den Peripatos erwartet zu haben, und den gab’s so wunderschön vermutlich nur in meiner Phantasie. Doch, dass es darum geht, seine Phantasien nicht dem Realitätsprinzip zu opfern, dies verdeutlicht – so hoffe ich – jede Ausgabe der Streifzüge aufs Neue.
Crash-Dummie
von Lorenz Glatz
Bei den Streifzügen bin ich erst seit viereinhalb Jahren. Der weitaus Älteste in der Redaktion bin ich trotzdem. Weltverbesserung ist meine Agenda seit meiner Jugend, bloß hatte ich meist eine Affinität zur Dogmatik. Bei meiner katholischen Herkunft nicht wirklich ein Wunder. Freilich war die Affinität eher eine zwiespältige. Irgendwie habe ich es immer geschafft, mich schließlich mit irgendwelchen Glaubenssätzen anzulegen. Nicht weil ich so ein Feuerkopf wäre, eher bin ich der geborene Zentrist, aber langfristig eher stur, wenn mir in Folge von zäher Erfahrung und langsamem Denken etwas nicht mehr einleuchtet. Die Fristen waren recht lang, sie haben aber immer mit dem Verrat an irgendwelchen Wahrheiten geendet, die man besser nicht in Frage stellen sollte. Der Bruch mit der Kirche war nur der erste.
Zu guter Vorletzt hielt ich beim ML, bis mir recht spät, erst Ende Vierzig, auch dessen Essentials Klassenkampf, Volksmacht und nationale Befreiung zweifelhaft und schließlich madig wurden. Die Infektion mit ein paar wertkritischen Gedankengängen hat mir den Ausschluss aus den Trümmern einer Gruppe eingebracht, die jedoch den Sieg im Linienkampf gegen meine Auf- und Abweichungen nicht mehr überlebt hat. Einige von denen, die mit mir gegangen sind, unterstützen heute die Streifzüge ideell und finanziell. Ich wünsche, ich würde es bald schaffen, den Kontakt zu ihnen wieder zu intensivieren.
Dass es in Wien die Streifzüge gibt, habe ich in Deutschland erfahren. Bis dahin hatte ich nur ein recht gelehrtes und ziemlich antideutsches Flugblatt mit Streifzüge im Impressum in der Hand gehabt. Gefallen hat es mir nicht. Was ich damals in der Zeitschrift Mensch statt Profit so geschrieben habe – sie stammte aus der Anti-Kriegs-Bewegung, in der ich seit Ende der Siebzigerjahre aktiv war, und ist mittlerweilen leider verblichen (ein Archiv der letzten Jahrgänge findet sich auf www.widerspruch.at) – hat den Schandl Franz dazu bewogen, mich in die Redaktion der Streifzüge einzuladen. Nach dem Crash mit dem Bellizismus der Antideutschen war dort viel Platz im Herbst 2001.
Der Crash ist mir treu geblieben. Anfang 2004 gab es die Krisis-Scheidung, in der mein „hinterfotziges Versöhnlertum“ „an höchster Stelle“ nur Wut erregt hat. Mich hingegen hat die leidige Affäre endgültig auf ein Thema zurückgebracht, von dem ich mich Anfang der Siebzigerjahre ratlos ab- und der Politik zugewandt habe. Die Überlegung nämlich, dass jede Bemühung um Kritik und Änderung der Gesellschaft auch die Denk-, Fühl- und Lebensweise der Kritiker sowohl als Anschauungs- und Untersuchungsgegenstand als auch als Angriffsfläche der Kritik und Änderung einschließt, ja dass der psychische Zustand nicht nur der Gesellschaft „da draußen“, sondern auch der Kritiker selbst ein ernstes Hindernis für Erkenntnis und Emanzipation darstellt. Meine diesbezüglichen Schreibversuche in den letzten Nummern der Streifzüge haben mir immerhin ein kleines Platzerl als Watschenmann im Universum der Kurz’schen Literatur eingebracht; eigentlich recht unverdient, da ich keinerlei herostratische Gelüste habe und alten Tempeln selbst noch als Ruinen mit großem Respekt begegne. Bei Streifzüge und Krisis gibt es immerhin einige, die über meine Auslassungen schon diskutieren (wollen), was mich für die Leute durchaus einnimmt.
Politik nehme ich nicht mehr wichtig, so dringend sie auch immer wieder einmal ist. Zwischen den Mauern des Staats und in der Zwangsjacke der Arbeit lässt sich in der Gegenwart nur auf Kosten der Zukunft irgendetwas retten. Die Antwort auf die unabweisbare Killerfrage „Und wie ändern wir das jetzt? “ führt zwischen die Skylla fruchtloser schwarzer Theorie und die Charybdis eines perspektivlosen Aktivismus. Um einen gangbaren Weg zu finden, ist es, so denke ich, nicht nur nützlich, die Aporien der gescheiterten und scheiternden Gänge zu studieren, sondern auch aufmerksam, freundlich und anteilnehmend allen Versuchen zur Seite zu stehen, im Denken und Handeln über diese grausige Gesellschaftsordnung hinauszukommen. Für solche Vorgangsweise bildet unser Projekt einen umstrittenen Raum. Dass er sich ausweite, dafür bin ich dabei. Ein dogmatisches Anti-Crash-Programm gewissermaßen.
Gescheitert oder gescheiter?
von Franz Schandl
Was die geschätzte Leserschaft mitkriegt, ist zumeist nur das Resultat, kaum aber der Prozess, der ihm vorausgegangen ist. Sie bekommt Ergebnisse serviert, gibt sich damit zufrieden oder verabschiedet sich. Manchmal will sie es auch gar nicht so genau wissen, was hinter den Kulissen abläuft. Und manchmal ist das auch besser so.
Eigentlich ist die Sache ja gescheitert. Zumindest dann, wenn man die Vorhaben, wie sie sich 1993-95 herausbildeten, als Maßstab nimmt. Damals wollten wir, die Gründer des Kritischen Kreises, jenseits von traditionalistischer Beharrung und postmodernem Abgesang eine radikale linke Strömung aufbauen, die kategoriale Bestimmungen des Kapitals (Wert, Tausch, Markt, Arbeit) zum Ausgangspunkt ihrer umfassenden Gesellschaftskritik macht. Die Streifzüge waren lediglich als halböffentliches Informationsblatt gedacht. Heute ist das ganz anders. Den Kritischen Kreis gibt es nur als Hülle, nicht als aktiven Bezug, während die Zeitschrift sich zum wertkritischen Magazin entwickelt hat. So sind wir im wahrsten Sinne des Wortes eine Publikumszeitschrift geworden. Die Streifzüge werden gelesen, diskutiert und abonniert.
Ziel des Kritischen Kreises war jedenfalls eine Sammlung, keine weitere Spaltung. Es kam jedoch anders. Schon nach einigen Treffen erfolgte in der zweiten Jahreshälfte 1996 der leise Abgang von Einzelpersonen, die eher am Antiimperialismus oder an der Arbeiterbewegung orientiert gewesen sind. Lautstark war dann der Bruch mit den Antideutschen im Herbst 2001 (siehe Streifzüge 3/2001). Und Mitte 2004 meinten sich noch zwei Jünger des Robert Kurz in der Redaktion enttarnen zu müssen, um durch die Hintertür ins Exit zu gelangen. Dem war absolut keine Auseinandersetzung vorausgegangen, sodass ich vermuten muss, dass hier nichts anderes als die persönliche Anhänglichkeit entscheidendes Kriterium gewesen ist.
Eine herbe Enttäuschung war zweifellos die, dass die Kleinkriege nicht überwunden werden konnten, sondern sich geradezu fortsetzten. Alle paar Jahre standen wir vor einem Scherbenhaufen, und es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die ganze linke Struktur erhebliche Konstruktionsfehler aufweist. Der uns bekannte Minimundus baut stets die große Welt nach, allerdings auf begrenztem Raum, sodass die Auseinandersetzungen durch die Enge an irrer Schärfe gewinnen. Aus guten Freundschaften werden Feindschaften auf Jahre. Das ist von großer Traurigkeit.
Trotz aller Widrigkeiten konnten die Streifzüge einiges an Relevanz entfalten. Das hat unterschiedliche Gründe:
1) Verwaltungstechnische Standards, vom Kommunikations- und Spendenwesen über den Versand bis zur Homepage;
2) Formale Aufbereitung der Zeitung;
3) Inhaltliche Ausrichtung der Streifzüge.
Wahrscheinlich ist die Gewichtung auch in dieser Reihenfolge vorzunehmen. Umgekehrt wär’s besser.
Wir reüssieren jedenfalls nicht, weil wir im Trend liegen. Das tun wir nicht. Da sind sogar die zum Liberalismus konvertierten Antideutschen oder die antiimperialistischen Recken der nationalen Befreiung als identitätshungrige Frontkämpfer im Vorteil. Man sieht das auch beim so genannten Rekrutierungspotenzial (welch Unwort! ), wo wir kaum mithalten können. Diesen Drill und Thrill haben wir nicht zu bieten. Westliche Werte oder nationale Befreiung – beides nicht Unsriges!
Sekten halten sich am Markt durch Vergatterung. Wichtig ist die mentale und monetäre Verpflichtung der Mitglieder. Auch da können und wollen wir nicht Konkurrenz sein. Es ist, das ist nicht abzustreiten, ziemlich viel verkehrt an uns. Statt Standpunkten und Identitäten, die es zu verteidigen oder einzunehmen gilt, fordern wir eine Perspektive ein und sind dabei noch nicht einmal recht weit gekommen. Wir sind mühsam, sei’s mit Begriffen, sei’s mit Haltungen. Gerade deswegen bitten wir um weitere Unterstützung.
Die Zwischenbilanz nach zehn Jahren ist eine äußerst zweischneidige. Zwar gibt es eine ausgesprochen hohe Bereitschaft, die Streifzüge zu abonnieren und sie auch finanziell zu fördern. Wenig Bereitschaft gibt es aber, sich aktiv einzumischen oder gar mitzumachen. Der ursprüngliche Anspruch ist durch seine Nichteinlösung nicht infrage gestellt, im Gegenteil: Ist er nicht realisierbar, sieht es für Emanzipation zappenduster aus. So hoffe ich, dass wir nicht gescheitert, sondern bloß gescheiter geworden sind. Was wir freilich erst unter Beweis stellen müssen.
Vor allem darf das Projekt nicht so an mir hängen wie ich an ihm. Meine Tendenz, wenn etwas schief läuft oder jemand auslässt, den großen Substitutor zu machen, tut weder den Streifzügen noch mir gut. So stolpere ich schon jahrelang in die Rolle des koordinierenden Redakteurs, der ich nie sein wollte. Ich bedanke mich für die allseitige Hilfe. Aber mir könnte mehr geholfen werden. Ich bitte um Entlastung wie Entmachtung.
Mit leichtem Gepäck
von Andreas Exner
Zwei Erinnerungen markieren die wesentlichen Gabelungen auf meinem Weg zu den Streifzügen. Die erste: Ich gehe von der Universität zur U-Bahn, es ist der November im Jahr 2000. Plakate bewerben die Gründungsveranstaltung von Attac Österreich. Globalisierung sei das Thema. Davon hatte ich bereits gelesen, und interessant genug schien das Event. Also ging ich hin und war dabei. Knapp fünf Jahre lang. Beinahe mit Herz und Seele zwar, jedoch als Außenseiter. Die zweite Erinnerung erklärt warum: Kurz nach dem Eintritt bei Attac, zur Weihnachtszeit desselben Jahres, verschlägt es mich in eine Buchhandlung. Unversehens fällt mein Blick auf ein rot kartoniertes Exponat: „Marx lesen“, Robert Kurz. Marx hatte mich bis dato nicht die Bohne interessiert. Der Klassenkampf war meiner nicht gewesen. Anderes als eine Exotik des Verschmockten verband ich mit Marxismus nicht. Attac freilich schien mit Marx zu tun zu haben. Also sollte ich etwas dazu lesen. Marx könne wohl nicht schaden, dachte ich.
Von „politischer Ökonomie“ hörte man alleweil bei Attac. Ich las, was Jörg Huffschmid, szenebekannter Argumenteschmied, dazu zu sagen hatte. Sein Buch war interessant, wenngleich mir die Doktrin des Wirtschaftswachstums, die Huffschmid als den archimedischen Punkt der Globalisierungskritik betrachten wollte, unbehaglich schien. Auch vermisste ich jene Distanz, die ich seit der Schulzeit dem gegenüber fühlte, was sich Gesellschaft nannte. Aus jenen Tagen noch war Erich Fromm mir lebendig im Gedächtnis: die Welt, wie sie ist, solle so nicht sein. Lebhaft interessierte sich Huffschmid zwar für die Regulierung der Finanzmärkte. Im Übrigen aber schien er recht zufrieden. Das gab zu denken.
Der unbedachte Gelegenheitskauf entpuppte sich als Anfang vom Ende einiger Überzeugungen. Bis spät in die Nacht hielt es mich bei diesen Seiten, die mir ein Aha-Erlebnis nach dem anderen bescherten. Ich verschlang das Buch in kurzer Zeit. Manches darin war ungemütlich. Zu viele Gewissheiten entkleidete es ihrer Selbstverständlichkeit. Die Argumentation war allerdings luzide. Kaum mit ihr bekannt geworden, hatte die politische Ökonomie ihre Unschuld eingebüßt. Meine Zeit bei Attac schien abgelaufen – eine Konsequenz, die ich jedoch erst Jahre später zog.
Der Blick auf eine radikale Kritik des Bestehenden war so im Grundsatz freigemacht, eine Lichtung im kapitalen Wald, den ich vor lauter Bäumen nicht so recht erkennen konnte, war erreicht. Alles weitere schien eine Frage des Details zu sein. Die Wertkritik entwickelte sich in jenen Jahren zu meinem theoretischen Bezugssystem. Sie lieh einem diffusen Unbehagen, dem vielfach bloß geahnten Bedürfnis ihre Theorie und Sprache. Nicht unwesentlich war für mich dabei die Abgrenzung von der marxistischen Tradition. Sie erleichterte mir den Zugang zu einer Kritik jenseits von Szeneidentitäten, die ich nicht besaß und nicht besitzen wollte.
Attac schließlich wurde zum Terrain der diskursiven Gehversuche. Die ersten Enttäuschungen folgten freilich auf dem Fuße. Eine andere Welt ist möglich, das pfiffen bei Attac die Spatzen von den Dächern, klar, doch auf die Wertkritik hatte die Attacwelt nicht gewartet. Rasch stellte sich heraus, dass Attac und ich auf zwei verschiedenen Dampfern fuhren. Allerdings gab es immer auch genügend Freiraum für das Dissidente. Aus den Diskussionen um ökologische Themen und um die Frage, welche Alternativen zum Kapitalismus denkbar wären, entwickelten sich kleine Gesprächszusammenhänge, die mein Engagement bei Attac nicht nur überlebten, sondern sich zu einer neuen aktivistischen Heimat mauserten (www. social-innovation. org).
Via Internet fanden die Streifzüge und ich derweil zueinander. Die redaktionelle Spaltung im Gefolge des 11. September 2001 war gerade überstanden. Die Texte von Stephan Grigat, Gerhard Scheit und den anderen des späteren Café Critique hatten mir damals viele Einsichten vermittelt – einander persönlich kennen zu lernen war uns jedoch nicht vergönnt. Die Wege der Streifzüge hatten sich getrennt. Nach dem weiten Blick ins Freie lernte ich nun die Enge der innerlinken Grabenkämpfe kennen.
Wer sich mit Wertkritik befasst, ist – wie im theoretischen Feld überhaupt – in Gefahr, die Theorie für das Ganze der wirklichen Welt zu halten. Wenn wir uns gegen überkommene Überzeugungen kämpfen sehen, mag uns nur allzu leicht das Gefühl beschleichen, dass mit einem Wortgefecht schon eine Schlacht für die Emanzipation geschlagen sei. Gerade eine systematische Begriffsstürmerei, die sich auf den Abriss theoretischer Gebäude konzentriert und in der Hauptsache über ihre Claims im theoretischen Gelände definiert, ist dafür besonders anfällig. Fehlt eine Balance durch Selbstironie und Selbstbescheidung, schlägt das kritische Interesse, die Zerstörung gedanklicher Konstrukte, deshalb leicht in die gedankliche Zerstörung der Konstrukteure um. Statt aus realgesellschaftlicher Wirkmacht zieht eins dann eine Surrogat-Befriedigung aus theoretischen Rundumschlägen und der Pflege eines narzisstisch-identitären Avantgardismus. Die Freude über die Entdeckung von neuen, schärferen Waffen der Kritik kann also in Enttäuschung umschlagen, wenn sie nicht ein nüchterner Blick geleitet, der mit Gelassenheit feststellt: Ideen können die Welt allein nicht ändern; ja, gute Fragen, eine kommunikative Sympathie, dies ist womöglich bedeutender als jede fixe Antwort, die fixiert statt öffnet.
Zwangsläufig stößt kritisches Denken ab einem gewissen Punkt an eine Grenze, die es mit seinen Mitteln nicht zu überschreiten vermag. Die publizistische Aktivität ist deshalb freilich keineswegs gering zu schätzen. Zur Zeit ist von uns auch kaum anderes zu leisten. Schon die Herausgabe dieser Zeitschrift erfordert Engagement und Geld in einem Ausmaß, das unsere Grenzen zeigt. Den Radius zu erweitern wird noch viel mehr von beidem nötig machen. Gelingen also kann dies nur, wenn unsere Leserinnen und Leser dem Projekt den Rücken weiter stärken.
Zehn Schreibkräfte
von Maria Wölflingseder
„… sie machen sich mit bewundernswerten, obschon falschgerichtetem Eifer ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit. Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen am Leben halten, oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen. Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht.“ Diese Sätze stammen aus dem 1891 veröffentlichten, exzellenten Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ des genialen Oscar Wilde. In den vergangenen 115 Jahren hat sich nicht viel geändert. Das „eigentliche Ziel“ ist auch heute ein weitgehend unerkanntes. Und die Möglichkeiten für Veröffentlichung für die, die es erkannt haben, sind in den vergangenen Jahren geschrumpft. Das Leugnen, Verdrängen, Ignorieren der Wurzel des Elends ist Programm geworden. Die grundverkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse veranlassen die Menschen, grundverkehrt zu denken und grundverkehrt zu handeln: nämlich zielsicher auf die Selbstauslöschung hinzusteuern. Der Grad der Anpassung an das Nicht-Leben ist gespenstisch. „Leben – es gibt nichts Selteneres in der Welt. Die meisten Leute existieren, weiter nichts.“ (Oscar Wilde, 1891) Der Lauf der Dinge – dieser totalitäre, irre Selbstläufer – ist zwar nicht aufzuhalten, aber was hilft dennoch besser gegen die permanente Entwürdigung, gegen die permanente Wucht des Nicht-Lebens, als dagegen anzuschreiben? Anzuschreiben auch gegen die „Tyrannei des Journalismus“, die für Oscar Wilde „daher kommt, dass das Publikum eine unersättliche Neugier hat, alles zu wissen, es sei denn das Wissenswerte“.
Mit meinen vergleichsweise bescheidenen Fähigkeiten und Möglichkeiten möchte ich nicht nur das Erbe Oscar Wildes fortführen, sondern auch das vieler anderer, die mir Seelenverwandte ersten Grades sind.
„Die Zeit, die uns umgibt, ist eine aphatische Zeit; die Worte torkeln in ihrer Beiläufigkeit. Man muss froh sein, wenn sie einem mehr sagen, als wieviel Uhr es ist“, schreibt Erwin Chargaff. Für ihn haben „Schriftsteller des Widerspruchs“ eines gemeinsam, „sie sind meistens höchst unpopulär“. Der suggestiven Wirkung des Vermächtnisses dieses Naturwissenschaftlers, dieses bis zum Tod in hohem Alter unermüdlichen (Gentechnik-) Kritikers, kann ich mich nicht entziehen. Sein großer und bedeutender literarischer und philosophischer Horizont, der die verblassende jüdisch-intellektuelle Sphäre widerspiegelt, erstaunt wohltuend.
Auch die umfangreiche Flaschenpost des früh verstorbenen Schriftstellers Kurt Wölfflin möchte ich weiterschicken. Er war mein Vater und um eine temperamentvolle Kritik an entmündigenden Verhältnissen nie verlegen. In den frühen 60er Jahren der Salzburger Provinz wurde er von seinen Kollegen in der „Katholischen Männerbewegung“ nicht nur wegen seines Vollbarts „Fidel Castro“ genannt. In einem seiner köstlich-amüsanten Kinderbücher nehmen es ein aufgewecktes Mädchen und seine Großmutter am Motorrad mit Beiwagen mit Greymon und Supamen vom Big-Bombast-Konzern auf, die alle mit einem Brett vorm Kopf – einem Chromschild auf der Stirn – und einem elektromagnetischen Glorihallelujakasten ausstatten wollen.
Jemand, der mir eine ganz besondere Lese- und Schreibkraft war und mir eine ganz besondere Lese- und Schreibkraft verlieh: Werner Dachs, unser frisch von der Sponsion zu uns geschneite Lehrer für Deutsch, Geografie und Wirtschaftskunde in der Oberstufe des Gymnasiums im Salzburg der 70er Jahre, als es sogar dort linke LehrerInnen gab. An der Schärfung meiner Weltsicht hat er einen nicht geringen Anteil; seine Literaturvermittlung war vom Feinsten; an seinen gesellschaftskritischen Aufsatzthemen erprobte ich meine Schreibkünste. Werner weilt leider auch nicht mehr unter den Lebenden.
„Arbeiten Dichter? „, lautet der Titel einer Geschichte von Bernhard Hüttenegger, dem mir wichtigsten zeitgenössischen österreichischen Schriftsteller. Seine so anrührenden, sinnlichen Geschichten bergen brillante Gesellschafts- und Warenkritik. „Ein Schriftsteller muss sich widerborstiger (als die , normale‘ Mehrheit), auf kritische Distanz , ungewöhnlich‘ verhalten, denn wie sollte er glaubhaft Möglichkeiten der Phantasie als neue Lebens-, Denk- und Empfindungsmöglichkeiten ausprobieren, wenn er im praktischen Leben bereit ist, gegebene Normen, Zwänge und Gewohnheiten, deren Selbstverständlichkeit er zu durchlöchern hat, ohne weiteres zu übernehmen. “
Ohne den gewitzten und verschmitzten Radek Knapp aus Polen (Bohumil Hrabal schau oba! ), ohne die russisch-jüdischen Geschichten von Vladimir Vertlib (Issac B. Singer schau oba! ) und schon gar nicht ohne die sarkastische wie zärtliche, bosnische „Schöntrauer“ von Miljenko Jergovic, seiner Prosa mit ihrer charakteristischen lyrischen Seele, hätte ich die vergangenen Jahre nicht so glimpflich überstanden. Ihre Bücher unterscheiden sich vom Mainstream der Literatur wie die Streifzüge vom Mainstream des Journalismus. Meistens sind sie genauso ein Geheimtipp wie unser Magazin. Allerdings nicht, weil sie das Feuilleton ignorieren würde, sondern die LeserInnen sind es, die kaum Interesse daran zeigen: vor allem nicht an den ins Deutsche übersetzten Büchern des vielfach ausgezeichneten politischen Kolumnisten, Lyrikers und Prosa-Autors Jergovic, Jg. 1966, dem viele am liebsten den Nobelpreis verleihen würden.
„Schriftsteller kann nur sein, der dem Menschen etwas Neues, etwas Bedeutendes und Interessantes zu sagen hat, nur ein Mensch, der etwas Neues sieht, was die anderen nicht bemerken. … Die Fähigkeit, das Leben als etwas ständig Neues zu empfinden, ist jener fruchtbare Boden, auf dem die Kunst erblüht und reift“, schreibt Konstantin Paustowski (1892-1968) in „Die goldene Rose – Gedanken über die Arbeit des Schriftstellers“. Dieses Werk genauso wie seine „Begegnungen mit Dichtern“ verführen in jene großartige, unsterbliche Welt, geboren aus Phantasie, Intuition und Inspiration. Den Menschen vollkommen aus seiner Umgebung zu lösen, um ihn gleichzeitig auf zauberhafte Weise ganz innig mit der Welt zu verbinden, das vermag nur die Kunst. Die meisterlich-literarische, humorvoll-ironische von Issac B. Singer (insbesondere „Schoscha“ und „Meschugge“) ist eine, an der ich mich nicht sattlesen kann. Seine noch ungelesenen Bücher mögen mir Schreibkraft verleihen. – Die „schöne Literatur“: eine meiner Gegenspieler, ohne die die Beschäftigung mit Theorie und Kritik für mich nicht möglich wäre.