Zur Typologie des Genocids
Streifzüge 33/2005
von Günther Anders
[siehe auch: Franz Schandl, Lust auf Vernichtung. Der Genozid als universelle Kategorie der Moderne]
Ein deutsches Blatt findet, es sei unerhört, den Vietnamkrieg mit Auschwitz in einem Atem zu nennen. Ganz abgesehen davon, dass es absurd ist, wenn Menschen darüber empört sind, dass Untaten anderer mit ihren eigenen Untaten gleichgesetzt werden, läuft diese Verteidigung der amerikanischen Moral auf Scheinheiligkeit heraus. Denn Genocid muss nicht unbedingt in der gezielten Ausrottung von Völkern, Rassen oder gesellschaftlichen Gruppen bestehen. Der Genocid-Typ, für den Hitlers methodische Liquidierungen der Juden, der Zigeuner und der osteuropäischen Intelligentsia in eigens dafür gebauten Installationen die Beispiele darstellen, mag zwar der klassische Genocid-Typ sein, aber er ist nicht der einzige. Es ist wahr, dass die Amerikaner in Vietnam nicht programmatisch und in erster Linie an der Ausrottung der Vietnamesen interessiert sind, dass vielmehr andere Ziele für sie im Vordergrund stehen, z. B. die politisch-strategische Beherrschung von Gebieten, deren Verwandlung in Ödland, die Warnung kolonialer und halbkolonialer Großvölker vor Freiheitskriegen etc. Aber diese Tatsache spielt bei der Beantwortung der Frage, ob es sich in Vietnam um Genocid handle oder nicht, nicht die ausschlaggebende Rolle, entscheidend ist nicht, ob die Liquidierung programmatisches Ziel ist oder „nur“ ein Mittel. Auch wer Liquidierung „nur“ als ein Mittel verwendet, wer sie nur deshalb durchführt oder nicht vermeidet oder auch nur in Kauf nimmt, weil sie das militärisch wirksamste oder wirtschaftlichste oder propagandistisch erfolgreichste Mittel zur Erreichung anderer Ziele darstellt, auch der begeht Genocid. Bei den Armed Forces gilt bekanntlich die Maxime „Dry up the Water“, wobei man unter „water“ (im Anschluss an das berühmte chinesische Wort von P’eng Teh-huai, die Guerillas lebten in der Bevölkerung und von der Bevölkerung wie der Fisch im Wasser und vom Wasser) die Bevölkerung des Landes versteht. Wenn die Aufforderung, diese Bevölkerung „auszutrocknen“, weil ohne diese Austrocknung die Kontrolle über gewisses Gebiet nicht möglich wäre, keine Aufforderung zum Völkermord ist, dann weiß ich nicht, was unter „Völkermord“ verstanden werden könnte. In gewissem Sinne darf man sogar behaupten, dass die Attitüde der amerikanischen Armed Forces den Vietnamesen gegenüber noch zynischer ist, als die der Nazis den Juden gegenüber gewesen war, dass Amerika die Vietnamesen noch verächtlicher behandelt, als Hitler die Juden behandelt hatte. Denn in Hitlers Augen hatten die Juden ja immerhin noch etwas dargestellt, wenn auch die Verkörperung des Untermenschlichen oder des Infernalischen; es war ihm ja wichtig gewesen, dass es die Juden „nicht“ gab; während es für den Amerikaner, trotz der Hohnwörter, mit denen er die Vietnamesen belegt („slants“ = Schlitzaugen, oder „gooks“ = Schleimscheißer) vergleichsweise uninteressant ist, ob es Vietnamesen gibt oder nicht gibt. Was ihn interessiert, ist allein die restlose Beherrschung und Kontrolle von Regionen – und wenn er diese allein durch Zerstörung derer, die zufällig oder insolenter Weise in diesen Regionen wohnen, oder durch die Zerstörung der Lebenswelten derer, die in diesen Regionen zufällig oder insolenter Weise wohnen, bewerkstelligen kann, dann nimmt er dieses Mittel eben bedenkenlos in Kauf.
Tatsächlich gilt ja von diesen „nicht vermiedenen“ Aktionen nicht nur, dass zwischen Militär und Zivilbevölkerung keine Unterscheidung mehr gemacht wird, sondern sogar, dass die Bekämpfung der Zivilbevölkerung im Vordergrund steht. Deshalb haben ja die Amerikaner – und hier springt die Ähnlichkeit mit den die Lager ausschließlich zur Liquidierung von Zivilisten errichtenden, also Genocid begehenden Nazis in die Augen – spezielle Waffen wie die „Lazy Dogs“, die „Guavas“, die „Pineapples“ entworfen und hergestellt, die in der Bekämpfung von gegnerischem Militär nahezu wertlos bleiben, sich dagegen bei der Ausrottung der Zivilbevölkerung außergewöhnlich gut bewähren. (… )
Aus: Günther Anders, Visit Beautiful Vietnam, ABC der Aggressionen heute, Köln 1968. S. 62-64. Mit freundlicher Genehmigung (c) Gerhard Oberschlick.
Der Band ist leider nicht mehr erhältlich, dafür gibt es im Buchhandel noch zwei Bücher aus des Autors Feder zu benachbarten Themen, beide im C. H. Beck Verlag München erschienen:
– Die atomare Drohung (1972)
– Hiroshima ist überall (drei Texte aus den Jahren 1959, 1961 und 1965; unter anderem der Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly)