Retrospektive Orgien
Nicht der Faschismus droht, sondern der Liberalismus
von Franz Schandl
Selbstverständlich ist der Umstand, dass Löhne gedumpt und verschiedene Gruppen am Arbeitsmarkt gegeneinander ausgespielt werden, zu kritisieren. Fragt sich nur wie. Als Anhänger der Marktwirtschaft fragt der nunmehr ausgelagerte Sozialdemokrat Oskar Lafontaine gar nicht nach der Form, in der Arbeitskräfte sich bewegen und Löhne entstehen, sondern nach der nationaler Herkunft und denkt in den Kategorien des Standorts.
Derlei Aussagen sind unerträglich und müssen in aller Schärfe zurückgewiesen werden. Dabei aber in wilder Analogie gleich eine Wiederbetätigung zu entdecken anstatt eine Variante ordinären Staatsrassismus auszumachen, zeugt von analytischer Beschränktheit. Vor allem verfolgt man damit strategisch einen üblen Zweck: Im Liberalismus verkommt der Antifaschismus von einer wachen und wehrhaften Reflexion zu einem beliebigen Beißreflex. Die neoliberale Geisterbahn lässt den braunen Unrat auffahren um von sich selbst und ihren Ungeheuerlichkeiten abzulenken. Sie instrumentalisiert den Antinazismus um jeden Einwand gegen die soziale Destruktion als Ressentiment zu diskreditieren. Sozialkritik soll schlichtweg als überflüssig entsorgt werden.
Es geht jedenfalls darum, jede soziale Regung mit der Gülle der Volksgemeinschaft zu bespritzen, um sodann einen braunen Stallgeruch behaupten zu können. Nicht Hitler und Goebbels beherrschen die politische Arena, sondern Lafontaine und Schröder, Gysi und Stoiber, Merkel und Fischer. Das ist schon schlimm genug, aber nicht dasselbe. Das Hitler-Spiel wird übrigens nicht besser, wenn man des Braunauers Schnauzer ins Gesicht von Merkel oder Stoiber projiziert. Was in Deutschland und anderswo droht, ist nicht der Faschismus, sondern der Liberalismus. Der schreitet zügig voran. Die Demokratie offenbart ihren sozialdarwinistischen Kern und der Linken fällt nichts anderes ein als keynesianische Korrekturen vorzuschlagen. Zur Marktwirtschaft hat sie keine Alternativen, ja sie propagiert diese selbst so, als seien Geld und Tausch eherne Gewissheiten wie Essen und Trinken.
Natürlich ist die soziale Frage nicht per se links, sie kann auch nationalistisch und faschistisch besetzt werden, und das um so leichter, je weniger Perspektiven es auf emanzipatorischer Seite gibt. Keineswegs ist daraus jedoch zu schließen, dass die Kritik sozialer Verelendung und die Einforderung menschenwürdiger Standards ein reaktionäres Anliegen ist. Aber genau das unterstellt der Liberalismus. Die Denunziation sozialer Ansprüche darf in keiner Weise hingenommen werden. Tragisch ist, dass viele Debatten in retrospektive Orgien überführt werden, die den Opfern des sozialen Kahlschlags überhaupt nicht weiterhelfen, sondern sie im Gegenteil völlig ratlos hinterlassen, im schlimmsten Fall von der Depression in die Regression treiben. Und ist das gelungen, dann zückt der Liberalismus genüsslich die Antifa-Karte. Wie abgefeimt.
In Deutschland gibt es keine Debatte ohne die Nazis. Ginge Hitler ab, ginge wirklich was ab. Indes ginge zumeist gar nichts ab. Hitler ist die falsche Fährte, die den aktuellen Wahnsinn stets als beste Normalität erscheinen lässt. Es wäre wirklich einmal ein Fortschritt, die braune Bagage aus vielen (nicht: allen! ) gegenwärtigen Diskussionen zu entfernen, sie nicht für jedes Stück extra zu engagieren. Das hat nichts mit Verdrängung von Erinnerung zu tun, sondern damit, dass es irreführend ist mit den primitiven Vergleichen die unmittelbare Realität zuzuschütten. Die fieberhafte „Nazifizierung“ ist ein Querschläger. Wie wär’s daher mit einer neuerlichen Entnazifizierung?