Prekarität? Prekariat?
Streifzüge 34/2005
KOLUMNE Unumgänglich
von Franz Schandl
Matthias Horx sieht es so: „Verdienen Sie Ihr Geld überwiegend mit Leistungen, die einen Unterschied erzeugen, anstatt immer das Gleiche zu produzieren? Wissen Sie nur in etwa, wie Ihre Tätigkeit in einem, in zwei oder fünf Jahren aussehen wird? Haben Sie in Ihrem Leben schon mehrere Berufe ausgeübt? Beträgt der zeitliche Aufwand, den Sie zum Üben, Trainieren und Weiterentwickeln Ihrer Fähigkeiten aufwenden, mehr als 50 Prozent der Zeit, in der Sie aktiv Geld verdienen? Variiert Ihr Einkommen mehr als 30 Prozent im Jahr – bzw. kann es in den nächsten Jahren um diese Schwankungsbreite variieren? Wenn Sie nur eine dieser Fragen mit einem JA beantworten können, dann gehören Sie mit großer Wahrscheinlichkeit dazu. Sie sind Gründungsmitglied der herrschenden Klasse des Wissens-Zeitalter. Gehen Sie verantwortlich damit um. Es ist Frühling. Gründen Sie! Schöpfen Sie wohl! “ (Zukunft passiert: Die kreative Klasse, Die Presse, 2. April 2005, S. 29)
Was andere bedroht, ist für Horx Grund zu Freude und Jubel. Wenn die Durchflexibilisierten es anders empfinden, dann ist das ihr Problem. Wenn sie sich als deklassierte Elemente und nicht als herrschende Klasse begreifen, ebenso. Und wenn die Schöpfer als Geschöpfe eher den Abgeschöpften und Erschöpften gleichen – selber schuld! Indes, die neue Selbständigkeit ist nicht freiwillig, auch wenn die neuen Selbständigen willig sind. Die Einkommen mögen wild variieren, die Ausgaben tun dies jedoch nicht; im Gegenteil, die fixen und unhintergehbaren Lebenshaltungskosten steigen stetig an. Das Kalkulieren wird schwieriger, und immer mehr Lebenszeit verliert sich in dieser absolut sinnlosen, lediglich dem Markt geschuldeten Tätigkeit.
Wir erleben Deklassierung in großem Maßstab. Aber diese Deklassierung akzentuiert sich mehr als Entsicherung denn als Sozialabbau. Zentral ist die ständige Bedrohung. Prekär sagt also vorerst nichts aus über den aktuellen monetären Status, wohl aber, dass im Prozess der Prekarisierung die Verunsicherung chronisch geworden ist. Weiters, dass sie die Gesellschaftsmitglieder zwar kollektiv betrifft, aber nicht als Kollektiv, sondern als Subjekte. Das erschwert vor allem den Widerstand immens, weil die Verbindungsmöglichkeiten der Betroffenen systematisch untergraben werden. Die Befreiung, die heute stattfindet, ist die Befreiung von den Sicherheitsnetzen. Menschen werden atomisiert. Als „vereinzelte Einzelne“ (Marx) sollen sie gleich schutzlosen Warenmonaden ihren Geschäften nachgehen und ihr Dasein fristen. Als Verkäufer ihrer selbst müssen sie agieren wie kleine Monster der Konkurrenz: berechnend, entsichert, rücksichtslos. Fieberhafte Aktivität zeichnet sie aus. Deregulierung meint Zwangsmobilisierung, heißt „Kampf jeder gegen jeden“. Zumutungen werden stets durch neue Zumutbarkeitsbestimmungen erhöht.
Ein Jenseits der Prekarität ist aber nicht mehr in ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen zu suchen. Was allerdings kein Grund ist, sich der desaströsen Entwicklung schicksalshaft zu ergeben. Das Durchbrechen der Vereinzelung ist zweifellos eine vorrangige Aufgabe. Vor allem die Gewerkschaften müssen aufhören die Bastion der Arbeitsplatzbesitzer zu sein. Gelingt es der Linken nicht Alternativen zu entwickeln, dann sind die Deregulierten den regressiven Vergemeinschaftungen (von der „corporate identity“ über die Partei bis zur Nation) und ihren Ideologien (Liberalismus, Keynesianismus, Rassismus, Antisemitismus) ausgeliefert. Nicht wehrlos, aber auch nicht allzu wehrhaft.
Will Emanzipation wirklich werden, dann darf man sich nicht auf Ideologiekritik beschränken. Im Gegenteil, es ist außerordentlich wichtig, über das Andere zu sprechen. Das Bilderverbot ist als kategorische Größe zu entsorgen. Anstellen werden die Leute nur, was sie sich vorstellen können. Das Falsche ist nur als falsch zu bezeichnen, wenn es einen Begriff und einen Inhalt vom Richtigen überhaupt gibt. Die Negation ist eine Position, ansonsten ist sie kein Nein, sondern ein Nichts. Diese Position gilt es aber zu charakterisieren und mit Leben zu füllen. Sonst ist das „gute Leben“ eine bloß vage Hoffnung und leeres Gerede. „Was wollen wir“ ist keineswegs durch die Frage „Was wollen wir nicht“ erledigt.
Emanzipation vereint Kritik und Perspektive. Sie meint nicht die Erfüllung von Interessen einer bestimmten sozialen Rolle. Auch das so genannte Prekariat wird nicht halten, was man sich schon fälschlicherweise vom Proletariat versprochen hat. Hier wächst keine neue Klasse heran, weder eine herrschende noch eine revolutionäre. Es geht also nicht um die „Anrufung eines kollektiven politischen Subjekts“ (wie es in einigen Mayday-Proklamationen nachzulesen ist), sondern um die Kritik aller vom Kapitalismus hergestellten Subjekte. Nicht nur für das Subjekt wird es prekär, das Subjekt selbst ist prekär. Entscheidend wird nicht sein, welche Funktion den Menschen in der Gesellschaft zugewiesen wird, sondern was sie wollen. Gefragt wie gefordert ist „enormes Bewusstsein“ (Marx): Nieder mit dem bürgerlichen Modus! , heißt auch ganz entschieden: Wir wollen keine Klasse sein!