Man kann nur entweder das Recht lieben oder aber die Gesellschaft hassen

Über die der Gesellschaft als Produktivkraft innewohnende und ihr zugleich als Ordnungsmacht übergestülpte Form

Streifzüge 34/2005

von Ilse Bindseil

1.

Ein Problem, das rechtlich geregelt wird, ist ein rechtliches Problem. In dem Moment, wo es dem Recht anvertraut wird, ist es ein rechtliches Problem. Ein rechtliches Problem kann nur in rechtlicher Hinsicht und in keiner anderen Hinsicht gelöst werden. Was an ihm gelöst wird, wenn es rechtlich gelöst wird, ist ein Problem, das das Recht mit ihm, dem Problem, hat. Oder genauer, es ist ein Problem, das das Recht mit sich selbst hat, ein Einordnungsproblem, ein Unterordnungsproblem, ein Zuordnungsproblem, kurz ein Ordnungsproblem. Mit dem ursprünglichen Problem hat das Problem, das schließlich geregelt wird, also gar nichts zu tun; wie denn auch? Was hätten ein Problem und eine Ordnung miteinander zu tun – es sei denn, das Problem wäre von der Ordnung schon hinreichend infiziert und sozusagen ein Ordnungsproblem. Meist ist es aber, selbst bei den solchermaßen infizierten Problemen, das Ungeordnete und jeder Ordnung Fremde, das bei dem Appell, der Bitte um Regelung, den Ausschlag gibt.

2.

Um mit der Zumutung fertig zu werden, die das Recht für den bedeutet, der es um eine Lösung seines Problems angeht und von ihm lediglich eine Expertise der rechtlichen Aspekte dieses Problems samt einer Inaugenscheinnahme ergebenden rechtlichen Lösungen erhält, muss der Betreffende das Recht lieben lernen. Er muss lernen, es um dessentwillen zu lieben, was es ist, und nicht mehr um dessentwillen, was er von ihm erhofft und was er ihm fälschlich zugetraut hat. Das heißt, er muss an ihm das vermeintlich Defizitäre lieben lernen, die strikt formale Seite der Betrachtung, die Seite der Form. Schließlich muss er zu der Überzeugung gelangen, lieben könne man überhaupt nur die Form oder das Formale, alles andere wäre bloß leben. Er selbst muss also sein Problem verraten – und schließlich vergessen – und mit fliegenden Fahnen zum Gegner seines Problems überlaufen oder vielmehr zu dessen Verweser und Vernichter, zu ihm, der es löst, indem er es beseitigt, und es beseitigt, indem er sich an seine Stelle setzt; es also keineswegs ersatzlos streicht, sondern ersetzt.

3.

Was das Recht dem zu bieten hat, der es mit einer substanziellen Frage bedrängt und von ihm mit einer bis zum Paradigmensprung umformulierten Antwort, einem „Spruch“, beschieden wird, das ist – abgesehen von Frust, Frust, Frust – natürlich ein Schein; aber es ist ein Schein. Zwar wird das Problem, mit dem sich der Betreffende an das Recht wendet, von diesem förmlich aufgesprengt, und er selbst wird in der überwältigenden Mehrzahl der möglichen Fälle natürlich auch abgewiesen. Aber dafür wird er mit einer ganz neuen Welt entschädigt, und diese Welt ist auf ihre zugleich abstrakte und emsige Weise eine höchst tätige Welt. Er stellt fest: Das Recht ist kein Sein, es ist eine Praxis (vielleicht ist dies ja die normale Form des Seins); es ist selbst ein Prozess. Das Recht kennen lernen heißt seine Praxis kennen lernen. Es heißt den Prozess an sich selbst erfahren, den das Recht fortlaufend erfährt, wenn es das unsortierte und falsch sortierte Leben als eine schlechte Unmittelbarkeit, einen Rohstoff, in sich hineinzieht und, in Recht verwandelt, als Fabrikat, endgültiges Produkt und Endprodukt, aus sich entlässt, sozusagen mit dem Rechtssiegel versehen. In einem Prozess unterliegen bedeutet also beides: zu unterliegen und den Prozess des rechtlichen Unterliegens zu erleben, in jener erhebenden Form, die es erlaubt, sich in der Bewegung des Lernens über sich selbst, seine unmittelbaren Interessen zu erheben, also selbst zu einem Bestandteil des Rechtsprozesses zu werden, als Opfer und als „Täter“, der, der den Prozess mitdenken kann. Freilich muss man sich dazu die Eigentümlichkeiten des Rechts zu Eigen machen. Man muss Inhalt und Form scheiden lernen; man muss Recht und Richtigkeit scheiden lernen; man muss Recht und Interesse scheiden lernen; man muss, last but not least, Recht und Gerechtigkeit scheiden lernen. Man muss lernen, dass Gerechtigkeit Recht will, ohne Form zu wollen, und dass sie dafür auf die primitivste Form vereidigt ist: das „Auge um Auge“, die Äquivalenz des Einmaleins. Man muss darüber hinaus die Teilung der Welt, wie sie in diesen Begriffspaaren sich niederschlägt, ja die Spaltung der eigenen Person lieben lernen. Er darf das nicht nur als Floskel empfinden, als Wort gewordene Ratlosigkeit, wenn es heißt: „Nehmen wir mal an …“ Er muss den Aufbruch darin erkennen, den Beginn der Umformulierung, der Umkrempelung. „Nehmen wir umgekehrt an … „, das muss ihn der Aussicht wegen begeistern, der Gelenkigkeit wegen. Er muss das als die wahre Freiheit empfinden!

4.

Wer sein Recht sucht, verliert es also und bekommt zugleich etwas anderes dafür zurück. Für die „leuchtende Klarheit“ seines Rechtsempfindens, die ihm im ersten Zuge des Verfahrens so vollständig wie verstörend abhanden kommt, wird er in einem zweiten Zug durch die „leuchtende Klarheit in (s)einem Verstand“ (Descartes) entschädigt: Klarheit, wird ihm beigebracht, kann überhaupt nur auf den Verstand bezogen werden. Was er selbst für Klarheit des Rechtsempfindens hielt, war bestenfalls die Inbrunst des Empfindens! Was er aber als Willkür und Gewalt erfuhr, das mag er im ersten Anlauf durch die Willkür des Rechts abgelöst finden; der Schock muss sein. Im zweiten Anlauf wird er schon dem Erotismus des Bezugs von Sache und Begriff nachspüren und diesen Bezug im dritten als den höheren Masochismus der Sache, die sich „handeln“ lässt, genießen: er, zugleich in der Rolle der erleidenden Sache und des begreifenden (oder billigenden) Subjekts, in der wahren Rolle des Masochisten! Er erkennt nicht nur den Punkt, worin „bedenken“ und „befingern“ eins sind, er erlebt ihn. Was der Rechtsuchende schließlich im Angesicht des Gerichts, in den Mühlen des Rechts als die Bagatellisierung und Verächtlichwerdung seines Problems erlebt, das erlebt er zugleich als Wertzuwachs. Er bekommt nicht nur eine Ahnung von der Dialektik des Repräsentationszusammenhangs, in dem das Einzelne durch das Ganze repräsentiert wird, als Einzelnes aber verlorengeht; ihm dämmert auch, dass in dem Tauschzusammenhang, in dem beständig Leben gegen Recht getauscht wird, der konkrete einzelne Fall, sein Fall, die Gebrauchswertbasis ist. Es dämmert ihm, was daran Grenznutzen ist oder lebendiges Kapital oder die Substanz, alles das also, was den trägen Apparat in Bewegung setzt, das Körnchen Realität, ohne das die Wahrheits-Suppe fad schmeckt und dessen unbedarfter Einsatz zugleich das ganze Gericht ruiniert. Nicht nur erlebt er, wie das Recht sich ihm zuwendet und sich ihm widmet. Er erlebt zugleich die unverständliche und rätselhafte Weise dieser Zuwendung, die, je konkretere Formen sie annimmt, immer rätselhafter wird, zuletzt voller Geheimnisse scheint. Es ist ein byword, dass dem schlicht sein Recht Suchenden das Letztere einer anderen Welt zugehörig – und dieser zugewandt – scheint. Und die entfremdende Erfahrung geht nicht ab ohne Selbstentfremdung: Eingebettet in einen mystischen Repräsentationszusammenhang wird der Rechtsuchende sich selbst zum Geheimnis, sein Problem wird ihm zum Schatz, was er sucht, zum Schatzzusammenhang: der „Spruch“, der über ihn gefällt wird, bestätigt ihm, dass er nur ein Krümel ist; gleichzeitig wird er durch ihn erwählt. „Da ist kein Auge, das ihn nicht ansieht“, wie der Dichter sagt, und was anderes kann der Schatz sein, den das Recht hütet, als das Leben selbst!

5.

Ungeachtet der Symbiose tobt der Kampf. Nicht nur werden tagtäglich die Grenzen neu ausgehandelt, sondern unermüdlich wird die Gretchenfrage gestellt: Gerechtigkeit oder Willkür! Recht oder Leben! Die Wirkung des Rechts auf das Leben und umgekehrt die Wirkung des Lebens auf das Recht kommt natürlich am sinnfälligsten in der Person des Richters zum Ausdruck. Der Betroffene schreit „Mord! „, und was sagt der Richter dazu? Er sucht nach den mildernden Umständen. Aber auch gegen das Recht führt der Richter die mildernden Umstände ins Feld. Wie feindliche Brüder stehen Rechtsuchender und Recht einander gegenüber; nicht der eine dem andern überlegen, durch Abstraktion, oder der andere dem einen, durch Vitalität, sondern in fataler Symmetrie. Im Grunde glauben beide an dieselbe starre Sache, an diese Wesenheit, an dieses bedingungslose Ist. Zwischen ihnen der Richter; nicht, weil sie einander in die Haare gerieten, wenn er sie nicht trennte, sondern weil sie einander zur Unerträglichkeit verstärken würden: da wäre kein Recht, und es wäre auch kein Leben mehr. In seiner bedächtigen, passiven, rezeptiven Art gibt der Richter der in den Kippmechanismus geratenen Sache ihr Volumen zurück. Er gibt ihr ihren Rahmen zurück. Er gibt ihr ihre Realität zurück: Da ist etwas vorgefallen, das muss geklärt werden. Was das Recht mit einer Bewegung beiseite gefegt hat, das wird vom Richter mit Bedacht zurückgekarrt: „Und dann haben Sie …“ In der heiligen Messe, die der Prozess für den Rechtsprozess darstellt, in dieser heiligen katholischen Messe (die nicht auf Erinnerung, sondern auf Vergegenwärtigung setzt), wird die abstraktive Strategie des Rechts durch eine Strategie ergänzt, die aufs Gegenteil, auf Wiederherstellung, auf Wiederverkörperung zielt. In seiner Rekonstruktion der Sache, um die es geht, bringt der Richter nicht nur Ordnung in diese Sache – geordneter als im Kopf von Rechtsuchendem und Recht kann sie gar nicht sein! Recht, sagt er, ist auf seine Weise nicht anders als das „tumbe Leben“; auch es hat seine eigene „Chaotik“, seine falsche Unmittelbarkeit, und bedarf der Korrektur. Vor dem Richterstuhl müssen Recht und Leben neu vermittelt werden. Die „mildernden Umstände“ sind davon das Resultat. Was in ihnen zum Ausdruck kommt, ist bereits vermittelt, es ist gewogenes Leben, gemildertes Recht. Sie sind nicht ein Einsprengsel des Lebens in einem durch und durch formalisierten Prozess. Vielmehr assoziieren sie sich beidem. Dem Prozess verdanken sie ihr Sein, ihren Auftritt; Ersterem streben sie nach, versuchen es zu spiegeln, es mimetisch wiederzugeben, von daher die redende, nachvollziehende, den Vorstellungsakt selbst zur Darstellung bringende, irgendwie absurde und rührende Form der richterlichen Würdigung. „Sie sagen: , Ich wollte es nur schütteln… ‚“, sagt der Richter. Es nützt nichts, Recht zu haben, sagt er. Um Recht zu behalten, muss man nicht vor Gericht ziehen. Man kann sich damit begnügen, Recht zu haben. Wenn man dagegen vor Gericht zieht, wenn man den Richter anruft, muss man die fehlende Vermittlung haben wollen. „Mein Lebensgefährte war betrunken, und das Geschrei des Kindes hat ihn gestört.“ „Sie sagen: , Ich wollte bloß, dass es still ist, und dann hat es nicht mehr geatmet. ‚“ Man muss seinen Standpunkt opfern wollen. Man muss ihn für den Zusammenhang opfern wollen. Man muss den Zusammenhang erleben wollen. Man muss Gesellschaft nicht bloß erleiden, man muss sie auch erleben wollen; Gesellschaft in actu. Gelingt einem das, kann man sogar die mildernden Umstände für den eigenen Mörder begrüßen.

6.

Wer also das Recht lieben lernen will, muss einerseits die Formalisierung lieben lernen, den Prozess der Transformation, den Umbau des Lebens in ein formales System. Er muss andererseits den umgekehrten Weg lieben lernen, den Weg der Entformalisierung und Wiederverkörperung. Das ist aus doppeltem Grund schwer: Einmal, weil es überhaupt so schwer ist, die Formalisierung lieben zu lernen, zum andern weil der Weg der Entformalisierung nicht als ein gangbarer Weg erscheint, eher als eine Heimsuchung, ein Rückfall oder ein Zusammenbruch; denn der Weg ist immer der der Formalisierung. Wo keine Formalisierung stattfindet, ist kein Weg. Man muss sich in der Kunst der juristischen Formalisierung schon sehr geübt haben, um sich vom umgekehrten Weg, der also noch innerhalb des juristischen Milieus gesucht werden muss und das Leben nur nachzeichnen kann, wenigstens eine „gangbare“ Vorstellung zu machen (oder man muss die juristische Formalisierung sogleich als eine Kunst geübt haben). Nur so kann man die dem Rechtsprozess unabdingbare und unerreichbare zweite Hälfte des Rechts, seine materielle oder lebendige Seite, innerhalb des Rechtsvorgangs angemessen erstehen lassen. Das Recht aber ist selbst im rechtlichen Milieu lediglich dann vollständig repräsentiert, wenn es nicht nur sich selbst, sondern auch der von ihm beurteilten Sache eine eigene Form zubilligt, so etwas wie eine ursprüngliche Form, wie sie in den behutsamen Formulierungen des Richters zum Ausdruck kommen, deren merkwürdige Originalität und zugleich Virtualität nicht nur die Stellvertreterrolle des Richters und seiner Sprache, sondern zugleich die Stellvertreterrolle jeder Sprache zum Ausdruck bringen, ihre Stellvertreterrolle gegenüber der ursprünglichen Form. Wer also das Recht lieben lernen will, muss die Richterrolle lieben lernen. Er muss das Stellvertretende, Aufführungshafte, Theatermäßige, er muss die Rechtsaufführung lieben lernen. Man könnte auch gleich sagen: Er muss Katharsis suchen, nicht „sein Recht“. Katharsis aber geht folgendermaßen: Erst wird die Hoffnung beschworen, dann wird die Hoffnung begraben. Katharsis ist ein Vorgang, kein Sein, und als Vorgang ist sie ein Rundgang, sie geht nicht von A nach B, sie landet wieder bei A: Mit der begrabenen Hoffnung kann man leben, auf Hoffnung kann man nur hinleben. Wer also das Recht lieben lernen will, muss den vollständigen Weg lieben lernen, den Weg durch das wirre Leben und den Rückweg durch das wirre Recht. Kurz, er muss es aushalten, wenn das Recht sich des Lebens bemächtigt, und er muss Spaß haben, wenn das Recht seinerseits „vorgeführt“ wird. Das Erste muss er im Grunde nur aushalten, das Zweite muss ihn sogar intellektuell freuen! Es muss ihn freuen zu erleben, wie das Recht von seinen Omnipotenz-, seinen Machtphantasien gereinigt wird, wie es allein schon dadurch in die Abstraktion zurückgedrängt wird, dass sich neben ihm ein Vermittlungsprodukt von Recht und Leben etabliert, bon sens, der gesunde Menschenverstand, Urteilskraft. Nicht nur dem Mörder muss die Gewalt ausgetrieben werden (oder dem Opfer der Anspruch auf Gegengewalt), auch dem Recht muss die Gewalt ausgetrieben werden; Recht muss es erst werden. Wer das Recht lieben lernen will, muss es also als einen Prozess der Entdramatisierung, der Banalisierung, der Veralltäglichung, der Annäherung und Anähnelung, der Zurückverwandlung in jenes Leben lieben lernen, aus dem es herausfiel, für das es schlicht zu spektakulär war, an dem es sich versündigt hatte. Er muss seine Nähe (nicht seine Ferne) zum normalen gesellschaftlichen Prozess lieben lernen, oder er muss die förmliche Zurücknahme der Ferne und mimetische Herstellung der Nähe als den wahren kathartischen Prozess lieben lernen. Kurz, er muss das gesellschaftliche Sein, die bedingungslose gesellschaftliche Immanenz des Lebens lieben lernen.

7.

Die Liebe zum Recht wird als ein ethischer Imperativ empfunden, und das ist sie auch, insofern sie als ein kategorisches Muss auftritt. Man muss das Recht lieben, weil es die gesellschaftliche Wirklichkeit überzieht und damit man aus dieser nicht herausfällt oder zur puren Kolonie wird. Empfunden wird die Liebe zum Recht als ethischer Imperativ, gelebt wird sie stattdessen als erkenntnistheoretischer Imperativ. Von vornherein bezieht sie sich nicht bloß, im Grunde überhaupt nicht, auf die formale Kompetenz der Regeln, sondern auf das als dynamisch begriffene Verhältnis von Form und Inhalt, auf den Prozess der Formalisierung und Entformalisierung, auf die transzendentale Frage der Gesellschaft also, die Frage ihrer Selbstvermittlung, ihrer unaufhörlichen, ununterbrochenen Selbstherstellung. Diesen Imperativ mag man sich noch so sehr ethisch auslegen, gelebt wird er nur als eine Liebe zur Erkenntnis. Erst im zweiten Schritt kann man daraus einen ethischen Imperativ gewinnen: wenn man nämlich erkannt hat, dass die Gesellschaft zu neunundneunzig Prozent aus „unbewusster“ Erkenntnis besteht, aber dann ist er im Grunde kein Imperativ mehr zu nennen; man liebt. Oder es ist eben ein kategorischer Imperativ, der sich auf das gesellschaftliche Sein bezieht und schon längst nicht mehr auf den halluzinativen Spielraum des Sollens.

8.

Von der Forderung, das Recht nicht naiv als einen Gegenstand, ius, sondern als eine Bewegung zu lieben, kann nicht abgegangen, die Forderung kann im Grunde nicht gemildert, sie kann nicht portioniert, allenfalls kann sie in ihrem Bewusstheitsgrad herabgestuft werden. Jede Reduktion hat eine Vermehrung des Hasses auf das Recht zur Folge oder der Verachtung der gewöhnlichen Menschen, wie sie tagtäglich vor den Schranken des Gerichts aufkreuzen. Denn der Rechtsvorgang führt immer eine Konfrontation herbei; führt er sie nicht vollständig durch, das heißt bis zum Ziel der vollständigen Katharsis, dann sind Hass und Verachtung nach dem Prozess größer als vorher. Dieser verhängnisvolle Fall ist natürlich der Normalfall, und so segelt gerade die Gesellschaft, die in besonderer Weise aufs Recht setzt beziehungsweise der Verrechtlichung unterworfen ist, mit ihrer angenommenen Zivilisierung zugleich in immer gefährlichere Gewässer. Sicherer wäre es, gar nicht erst anzufangen, „draußen“ zu bleiben, außerhalb des Systems, und „die Leute ihren Zirkus allein machen“ zu lassen, wenn das denn möglich wäre und nicht ebenfalls die finstersten Einschränkungen, das heißt die finstersten Ausblendungen, nach sich zöge. So erscheint die vollständige Liebe zum Recht ganz unfreiwillig als eine regulative Idee im Sinne Kants; von ihr soll eine heilsame Wirkung ausgehen, obwohl sie an sich nicht existiert, beziehungsweise eben nur als Idee. Regulativ an ihr kann die mit ihr verknüpfte Ahnung von den formalen Eigenschaften der Gesellschaft sein, und diese Ahnung wiederum, die keineswegs selbstverständlich ist, mag eine Hemmung errichten gegen die Versuchung, so zu agieren, als setzte die Gesellschaft sich unmittelbar aus Dingen oder Personen zusammen und wäre nicht in Wirklichkeit bloß eine höchst vermittelte Unmittelbarkeit. Zwar versteht der, der die Gerichte anruft, meist nicht, was juristisch passiert, und er, der sein Recht sucht, fühlt sich genauso als Objekt wie der, der als Angeklagter vors Gericht gezerrt wird. Ihm mag aber dämmern, was es mit dem Recht auf sich hat, und dass es vom normalen gesellschaftlichen Prozess nicht gar so weit entfernt ist, wie er dachte. Intuitiv mag er sogar entscheiden, dass es für sein Normalbefinden besser ist, tatenlos auf das Recht zu schimpfen, als den gesellschaftlichen Prozess in der Gegenwart der rechtlichen Auseinandersetzung, das heißt also nachträglich, zu begreifen. Wichtiger fürs gesellschaftliche Normalbefinden ist indessen, dass er die Aufarbeitung nicht mit dem Tun verwechselt, sondern auf den Abstraktionssprung, der ja in der Gesellschaft selbst steckt und in der rechtlichen Aufarbeitung – die dann wieder ihre eigene Unmittelbarkeit hat – bloß zum Ausdruck kommt, im weitesten Sinn mit einer Hemmung reagiert, mit Resignation; weiß er doch nie, ob er gerade mit der abstraktiven oder mit der unmittelbaren Seite der Gesellschaft zu tun hat.

9.

Da die Gesellschaft de facto nicht aus einem Einzelnen besteht, von dessen Einsicht sie abhängt, braucht sie die gigantische Aufgabe, die im Prinzip dem Einzelnen aufgegeben ist, vom Einzelnen Gott sei Dank (oder leider) nicht zu verlangen; nur er, der der abstrakten und der unmittelbaren Seite der Gesellschaft, ihren wechselnden Rollen und Schauplätzen ausgeliefert ist, muss sich dazu verhalten, und sei es durch eine allgemeine Hemmung, Vorsicht oder Resignation. Zu ihrem Bestehen braucht die Gesellschaft den „Durchblick“ des Einzelnen nicht unbedingt; der mündige Bürger ist bloß ihre ideale, keineswegs ihre reale Voraussetzung. Eine solide Verteilung der Standpunkte und ein Gleichgewicht der Kräfte, also ein Gleichgewicht der beschränkten und verabsolutierten Standpunkte, ist noch immer die solideste Grundlage des funktionierenden Staates und seines vierten Arms, des Rechts, und ein Einzelner, der für sich allein und vollständig die Gesellschaft begreift, bräuchte sie nicht (im Sinne von „gebrauchen“), und diese ebenso wenig ihn, und aus einer Masse solcher Einzelner, die über die Gesellschaft hinaus sind, entstünde gewiss keine Gesellschaft. Die Gesellschaft pflegt die einzelnen Etappen der „großen Katharsis“ auf Einzelne sich verteilen zu lassen, denen damit natürlich das Temporäre abhanden kommt, das Prozesshafte; in der Gesellschaft als ganzer, die auch ihre schärfsten Konflikte ins Nacheinander bringen muss – sonst kann keiner umgebracht, niemand gerächt und auch der Rächer nicht zur Sühne gebracht werden -, kommt dieses Temporäre aber wieder zur Geltung, und sei es als Zug durch die juristischen Instanzen, jahrelanges Prozessieren. Damit eine Gesellschaft funktioniert, muss nicht jeder sowohl den Inhalt als auch die Form, die Unmittelbarkeit und die Abstraktion, das Recht und die Gerechtigkeit lieben. Es genügt, wenn es jeweils einer tut, oder jeweils eine Partei, und wenn das andere auch getan wird. Als Ganzes vollzogen wird sie allenfalls im Kopf des ohnmächtigen Philosophen, und auch da nur, wenn der nachgewiesenermaßen im Abseits steht, denn die von ihm vollzogene Vermittlung stört durchaus den Gang der sich vermittelnden Gesellschaft und untergräbt ihre Existenzberechtigung: dass kollektiv erledigt wird, was im Einzelnen nicht abzubilden ist. (Dass ihr Existenzgrund, von jeder Berechtigung unabhängig, womöglich in der Existenz eines sächlichen Kollektivums besteht, dessen skandalöse Vorgängigkeit immer zugleich bewältigt und geleugnet werden muss, gilt Reichtum doch als Zweck der Gesellschaft, nicht als ihr Grund, formuliert denselben Zusammenhang, nur anders. )

10.

Statt Katharsis findet in der Gesellschaft das Kleinklein des Alltagskriegs statt, das Kleinklein der Praxis. Das Recht jagt der Gerechtigkeit Anteile ab, letztere rächt sich. Dass es beides gibt, Leben und Recht – und dass sie zwei aus der Verneinung des jeweils andern sich herleitende Abbildungen ein und derselben Sache sind -, dies ist bereits eine kathartische Erfahrung und keineswegs alltäglich, gilt vielen doch das Recht als eine verkrüppelte Nachahmung von Gerechtigkeit (sprich Leben) oder umgekehrt das Leben als eine noch höchst embryonale, strenger Zucht bedürftige Frühform des Rechts; im Kopf der Beteiligten findet die Trennung nicht statt. Gewinnt in der Gesellschaft die eine der beiden Seiten die Oberhand, vergisst, dass die andere ihr Abbild ist, räumt mit der Arbeitsteilung, mit der Phasenteilung auf, dann muss die Gesellschaft kippen. Ein unerreichtes Beispiel einer gelungenen Vermittlung bietet dagegen immer noch der aristotelische Begriff des Maßes, der mit einem heute längst imaginär gewordenen patrizischen Maßstab arbeitet, ohne dass die ihm zugrunde liegende Vermittlung von gesellschaftlicher Unmittelbarkeit und kategorialer Abstraktion im Geringsten veraltet wäre. Im Begriff des Maßes wird die gesellschaftliche Unmittelbarkeit gleich doppelt zitiert: im Ärgernis, das Anstoß erregt – „praktisch läuft etwas schief“ – und im Normalverhalten, das kein Idealverhalten ist (bzw. die vollkommene Normalität, die vollkommene Angemessenheit von unerreichter Idealität wäre). Was in schönster gesellschaftlicher Unmittelbarkeit verbockt wurde – jemand hat sein Geld zum Fenster rausgeworfen, Schulden gemacht -, wird durch ausschließlichen Bezug auf die gesellschaftliche Unmittelbarkeit erkannt und gebrandmarkt. In den Paragraphen, die aus der aristotelischen Ethik entstanden sind, begegnet der Übeltäter also nichts anderem als seiner Übeltat und niemand anderem als sich selbst. Noch heute wird ein vernünftiger Richter, der noch der himmelschreiendsten Mordtat gegenüber, Kannibalismus, Kindesmissbrauch zur Beförderung von Reichtum und Lust usw. , nichts anderes als seine ihm von der Gesellschaft geliehene Vernunft gebraucht, wenn nicht als Geschichtszeichen überhaupt – da er immer irgendwie „von gestern“ wirkt, fällt es schwer hier an Geschichtszeichen zu glauben -, so doch als Lichtpünktchen in dunkler Zeit empfunden. Auch der „kleine Richter“, der in politisch und kriegerisch bewegter Zeit auf den langen Arm des Gesetzes baut und in einem allgemeinen Klima der Entfesselung auf dem einzelnen Mord, der Verantwortung eines Einzelnen, auf der Rechtsverletzung beharrt, gilt heute als Held, seine Sturheit, seine Paragraphenhuberei als Hebel für die Aufarbeitung von Untaten, die sich mehr im Jenseits des Rechts bewegen, als dass sie dagegen simpel verstießen. Indem er das Recht dem Menschen dienen lässt, der selbst doch bloß ein Opfer der „Verhältnisse“ ist, die kleinste Krümel-Einheit sozusagen, setzt dieser seltsam altmodische, seltsam kindlich, immer ein wenig auf der Grenze der Lächerlichkeit balancierende Richter ein Beispiel höchst praktischer Vermittlung: die Mörder des Ibikus werden vor den Richter geführt, und sie dachten doch, es hätte sie niemand gesehen. Zugleich ist er ein umwerfendes Beispiel für die Macht des Imaginären, wenn auch selbst ein wenig imaginär; wen wundert’s bei solcher Anstrengung?