Arbeit ist ein magisches Wort*
Streifzüge 35/2005
von Dimitré Dinev
Dinev ist 1968 in Plovdiv, Bulgarien, geboren und aufgewachsen. 1990 robbte er bei Nacht und Nebel, bei Schnee und Kälte mit einem Freund über die burgenländische Grenze nach Österreich.
In der 29-seitigen Erzählung „Spas schläft“ beschreibt er den ganz normalen Wiener Flüchtlingsalltag. Spas und Ilija suchen nicht nur Arbeit, sie wollen auch studieren. Es ist immer wieder die Rede „vom Phantom, vom Gespenst Arbeit“, vom „Schreck dieses allerersten Wortes das jeder Flüchtling lernt“. „Arbeit ist ein magisches Wort“, das „allen anderen den Atem raubt“.
Dimitré Dinevs Kunst des Erzählens ist genauso wie vor allem jene vieler junger Bosnier und Kroaten, die nach dem Krieg zu schreiben begonnen haben, ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was Intuition und Phantasie, was Poesie und Ironie vermögen, wenn es darum geht, trotz himmelschreienden Wahnsinns die Würde zu bewahren und nicht in Depression und Agonie zu verfallen.
Maria Wölflingseder
Arbeit war das erste Wort, das Spas auf deutsch gelernt hatte. Es war weder das Wort Liebe noch das Wort Hoffnung, geschweige denn Glaube. Denn ohne Arbeit gab es nichts als Angst. Dies war das Wort am Anfang. Erst dann kamen die vielen anderen. So war es für jeden Flüchtling. Warum sollte es für Spas anders sein? Er war ja auch einer. Er war vor elf Jahren aus Bulgarien geflüchtet, voller Liebe, Hoffnung und Glauben. Er wollte in Wien leben, lieben und geliebt werden. Also kam er. Niemand kannte ihn, niemand wartete auf ihn. Aber man wusste schon, dass viele wie er kommen würden. Man war vorbereitet. Für solch plötzliche Besucher gab es Anstalten. Es gab das Lager Traiskirchen. Man wies ihm den Weg dorthin. Spas war glücklich. Er war endlich dort angekommen, wo er erwartet wurde. Er war aber leider nicht der Einzige. Viele waren schon da, noch mehr kamen. Alle mit derselben Hoffnung, mit demselben Glauben. Und alle wollten das gleiche wie er. Menschen sind gleich, egal woher sie kommen und wo sie ankommen. Sie kamen und kamen, mehr als erwartet. Und wo so viele Menschen kommen, ändert sich auch das Gesetz. Asyl kriegte man nicht mehr. Man bekam nur sechs Monate Aufenthaltserlaubnis, danach wurde man abgeschoben. Es sei denn, man fand Arbeit. Arbeit war das Wichtigste. Jeder suchte sie, nicht jeder fand sie. Und die, die sie nicht fanden, mussten zurück. Arbeit war ein magisches Wort. Alle anderen waren ihm unterworfen. Es allein bestimmte alles. Arbeit war mehr als ein Wort, es war die Rettung. „Ich suche Arbeit“, war der erste Satz, den Spas auf deutsch gelernt hatte. „Hast du schon Arbeit gefunden? „, „Hast du von einer Arbeit gehört? “ fragten die Flüchtlinge einander jeden Tag. Spas entdeckte, dass die Flüchtlinge sich untereinander, egal, was sie vorher gewesen waren, in zwei Gruppen einteilten: in solche, die Arbeit hatten, und in solche, die keine hatten. Man traf sich lieber mit solchen, die eine hatten. Man borgte jemandem erst dann Geld, wenn er Arbeit gefunden hatte.
Weiße und schwarze Arbeit
Spas erfuhr auch, dass es schwarze und weiße Arbeit gibt. So wie das Brot. Nur dass die weiße Arbeit jedem besser schmeckte. Von einer offiziellen Arbeit träumte jeder, sie war die Rettung. Aber auch die schwarze war etwas. Sie war ein Trost. Also tat man alles, um zu irgendeiner Arbeit zu gelangen. Man hörte von amerikanischen Sekten, die ihren Mitgliedern Arbeit verschafften. Also ließ man sich taufen. Man hoffte nicht, Gott zu finden, sondern Arbeit. Man ging zu ihnen. Man wurde nass. Man tropfte. Man lächelte schüchtern. Die Gemeinde freute sich. Mehr bekam man von dem Wunder der Taufe nicht mit, aber manchmal bekam man Arbeit, und das kam einem Wunder gleich. Manche ließen sich ein paar Mal taufen, aber es geschah kein Wunder. Sie wurden nur öfter nass. Das machte nichts. Es war nur Wasser. Sie trockneten sich schnell ab und suchten weiter. Eine wirklich reinigende Suche.
Die offizielle Information lautete: Man bekommt Arbeit nur dann, wenn man eine Arbeitsbewilligung hat. Und eine Arbeitsbewilligung bekam man erst dann, wenn man eine Arbeit hatte. Viele Herzen zerbrachen an diesem Paradoxon. Sie wurden kalt und unempfindlich. Man griff sich selbst und die anderen an. Man verlor ab und zu Zähne. Geduld und Hoffnung hatte man schon verloren. Man zitterte wie nach einer Taufe, aber man trocknete nicht. Man wollte trinken. Man griff nach einer Flasche. Es gab so viele auf dem Regal. Schön geordnet in schönen Geschäften. Man nahm eine mit. Bezahlen wollte man sie später. Eben wenn man eine Arbeit hatte. Gewissen hatte man noch, aber kein Geld.
Ein Pole brauchte kein anderer zu sein
Zwischen der Herkunft und der Arbeit gab es Zusammenhänge. Spas kam dahinter, dass nur die wenigsten Bulgaren und Rumänen, die er kannte, Arbeit hatten, dafür aber alle Polen. Sei es auch schwarz, sie hatten eine. Die Polen halfen einander gegenseitig. Mehr als die anderen. Es war besser, ein Pole zu sein. Grieche zu sein, war noch besser, das wusste Spas auch. Als Grieche hätte er gleich Arbeit gefunden, noch am Telefon. Aber er ging sich dann nicht vorstellen. Er war kein Grieche. Ein Pole aber brauchte kein anderer zu sein, er fand auch als Pole Arbeit. Ein Pole zu sein, war mehr als einer Nationalität anzugehören. Ein Pole zu sein war schon ein Beruf. Am schlimmsten waren die Schwarzafrikaner dran. Ein Afrikaner zu sein war eine Strafe. Am besten war es, ein Österreicher zu sein. Darüber waren sich alle Flüchtlinge einig, deswegen waren sie ja auch hier. Ein Österreicher zu sein war eine Erlösung.
Sie putzten den Schnee weg, sie putzten Gärten, sie putzten Lager, und sie schauten mit Ehrfurcht hinauf auf die, die die Straßen putzten. Ihre orangefarbenen Gewänder leuchteten. Man sah sie von weitem, wie viele aufgehende Sonnen. Himmelskörper, die ihre festgezeichneten irdischen Wege gingen. Unerreichbar waren sie. Sie waren von einem anderen Stern. Sie waren Österreicher. Nur Österreicher durften bei der Müllabfuhr arbeiten. Arbeit war ein magisches Wort. Nie bekamen Spas und Ilija das deutlicher zu spüren. Die Straßenkehrer waren Zauberer. An ihren Fingern glänzten Goldringe, an ihren Hälsen Ketten, geheimnisvoll ineinandergeflochten wie Schlangen, wie Wächter verborgener Schätze. Die Straßenkehrer waren eingeweihte Alchimisten. Sie kannten das Geheimnis. Sie sammelten Müll, der sich in Gold wandelte und an ihnen leuchtete. Spas und Ilija sehnten sich danach, von solchen Händen bekehrt zu werden. Sie schauten hingerissen. Wunderschön waren diese Österreicher. Wunderschön wie eine Erleuchtung. Spas und Ilija wussten, man musste bei jeder Arbeit glänzen. Das war die einzige Chance. Jeder Flüchtling wusste es. Es war ein harter Kampf, den anderen zu überschatten. Man erkämpfte Lichtblicke. „Ich kann hoch oben, bis in den Himmel hinauf, auf Gerüsten arbeiten. Aber auch unter der Erde, im Wasser und auf dem Boden. Tags oder nachts. Schwarz oder angemeldet. Ich bin bereit, und ich lerne schnell.“ Das war es, was jeder Flüchtling ausstrahlte.
Die Arbeit war ein Gespenst
Spas und Ilija schreckte nur eines: dass sie wieder keine Arbeit hatten. Die Arbeit war ein Gespenst. Sie versteckte sich und quälte alle. Nur wer sie fand, fand Ruhe. Sechs Monate sollten reichen, meinte das Gesetz. Danach verfolge es jeden, der noch ohne Arbeit herumspukte. Ein Exorzist, der meinte, sechs Monate würden reichen, um zu beweisen, wer Mensch ist, wer Geist. Die Welt sollte heil bleiben. Die Flüchtlinge wussten das. Sie befanden sich in einer heilen Welt, in der jeder Fremde auf die Probe gestellt wurde. Sie hatten gewusst, dass sie kämpfen müssten. Sie waren nur überrrascht, dass sie in der heilen Welt auch mit so vielen Ängsten kämpfen mussten. Sie begriffen nur schwer, dass das Gesetz sie selbst in Angst verwandelt hatte. Sie waren die Ängste der heilen Welt. Aber sie hatten keine Zeit, es zu begreifen. Sie mussten Ängste bekämpfen und sie bekämpften einander.
Sie suchten weiter. Um zu suchen brauchte man Geld. Sogar wer umsonst suchte, musste zahlen. Jeder Anruf, jede Fahrt kostete nicht nur Kraft, sondern auch Geld. Kraft hatten sie noch. Das Geld ging ihnen aber langsam aus. Sie begannen nach leeren Pfandflaschen zu suchen. Dann konnten sie wieder anrufen. Jede Flasche war eine Botschaft. Lang ging es so nicht. Sehr bald waren die Flaschen genauso schwer zu finden wie die Arbeit.
Ein Zug, der nirgendwo hinfuhr
Und eines Tages geschah es, dass sie wirklich Arbeit fanden. Eine schwarze, aber langfristige Arbeit. Wie gewohnt hatten sie „ja“ gesagt und begannen nun als Kellner in einem Lokal.
Ihre Schicht endete zwischen zwei und drei Uhr morgens. Zurück ins Asylantenheim konnten sie nicht mehr fahren. Es war schwer gewesen, Arbeit zu finden, noch schwieriger aber war, sie zu behalten. Das wussten die beiden sehr gut. Ohne Dach über dem Kopf konnte man leben, nicht ohne Arbeit. Also schliefen sie auf der Straße. Sie lagen in Parks, versteckt im Gebüsch, und versuchten zu schlafen. Viel zu kalt war es noch. Ein Obdachloser gab ihnen den Rat, nach großen Behältern zu suchen. Sie seien gemütlich, trocken und voller Sand. Zum Streuen bei Schneefall. Er hatte recht. Die Behälter waren gemütlich. Dort schliefen Spas und Ilija, danach gingen sie kellnern. Eines Nachts schneite es. Jemand suchte nach Sand und fand Spas und Ilija. Er erschrak nicht. Er kannte sich mit Schnee, Sand und Menschen aus. Es war ein Russe, ein Flüchtling namens Mischa. Spas und Ilija konnten Russisch. „Ich weiß was Besseres“, meinte Mischa. Sie folgten ihm. Er führte sie zu einem Depot und küsste dreimal den bärtigen Wächter. Der Wächter umarmte danach Spas und Ilija. Sein Name war Georgi. Sein Herz war groß und ertrug die Einsamkeit nicht. So wie das Herz aller Georgier. Im Hof zeigte Mischa ihnen einen Zug. Fünf alte, abgestellte Waggons, die einmal durch die Welt gereist waren. Sie hielten noch fest zusammen, aber sie reisten nicht mehr. Es war ein Zug, der nirgendwohin fuhr. Alle drei stiegen ein. Fast in jedem Abteil schliefen Leute. Auch Spas und Ilija durften drinnen schlafen. Mischa führte sie zu ihrem Abteil. Man brauche hier nicht zu bezahlen. Man sollte nur ab und zu den Wächter umarmen, mehr nicht, sagte Mischa und ging ins benachbarte Abteil schlafen. Jeden Morgen stiegen aus dem Zug Leute aus, die arbeiten gingen. Ein Zug, der nirgendwo hinfuhr, brachte sie zu ihren Arbeitsplätzen
Bahnhof Wien Mitte
Heute hatte Spas von seinem Chef erfahren, dass jemand sie angezeigt hatte und dass er die Werkstatt für eine ungewisse Zeit schließen musste. Spas und Pavel tranken zuerst eine Flasche Fernet zusammen. Danach begleitete Spas Pavel zum Bahnhof Wien Mitte, von wo dieser seinen Bus nach Brno nahm. „Schau“, sagte Pavel, „es kommen immer Busse. Tschechen kommen hier nach Österreich. Sie reisen, aber in der Reisetasche haben sie Werkzeug. Man reist nicht mehr, um die Welt zu sehen. Man kommt hier arbeiten, reparieren. Ist das normal? Kaputt ist das. Die Welt ist kaputt. Deswegen man fährt immer mit Werkzeug.“ Pavel ging. Spas blieb. Er betrachtete die Busse, die ankommen und wegfuhren. Er wollte noch nicht nach Hause. In Wien Mitte, wo so viele kamen und gingen, traf er den Obdachlosen Johann. Der war immer dort: mit ihm konnte man gleich an Ort und Stelle weitertrinken. „Trinken ist schädlich, Rauchen ist schädlich, sagen die Ärzte. Aber kana von der geschissenen Partie sagt dir, dass Arbeiten schädlich ist“, meinte Johann und zeigte auf seine verstümmelte Hand. „Nach dem Arbeitsunfall wollte mir keiner mehr Arbeit geben. Jetzt sagen sie, ich bin schädlich. A geschissenes Leben“, ergänzte Johann und nahm einen Schluck. Spas gab ihm recht.
Spas hatte elf Jahre in Wien gelebt und gearbeitet. Jetzt war er müde, denn nichts macht einen so müde wie die Suche nach Arbeit, nicht einmal die Suche nach einem Sinn.
* Aus: Dimitré Dinev: Spas schläft. In: Ders: Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen. (Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2005)