Von der Herrenbildung zur Begabungswirtschaft
Vier Betrachtungen über Menschsein und Bildung zum Zwecke der Skandalisierung diverser Fortschritte
Streifzüge 30/2004
von Lorenz Glatz
1. Herr des Weibes – Hirte der Mannen
Beim römischen „Buntschriftsteller“ Aulus Gellius (Noctes Atticae XIII 17; 2. Jh. n. Chr. ) findet sich die Bemerkung, dass „humanus“ (menschlich) im Latein der besten Autoren nicht so wie im „gemeinen Volk“ (vulgus) üblich einen umgänglichen, sondern vielmehr einen gebildeten („eruditus doctusque“ – durch Schule und Erfahrung unterrichtet, wissenschaftlich gebildet) Menschen bezeichne. 1 Menschlich-human bezeichnet also nicht bloß die Zugehörigkeit zur Species des Homo Sapiens, sondern meint paradoxerweise sowohl in der einen als auch in der anderen angeführten Bedeutung des lateinischen Worts ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen. Sowohl dies als auch die Tatsache, dass gleich zwei verschiedene trennende Eigenschaften mit einem Wort bezeichnet werden können, weist auf einen Bruch im Menschsein hin. An den mögen wir gewöhnt sein, er bleibt aber erklärungsbedürftig. Dazu die folgenden Bemerkungen anhand der „gut lateinischen“ Bedeutung, nämlich der Gleichsetzung von „humanitas“ mit der griechischen „paideîa“ (das durch Erziehung Gewonnene, Bildung, Kenntnisse, Wissenschaft).
Bezeichnenderweise steht das Wort gleich in des Gellius Belegstelle (ein Satz aus Varro, einem Dichter und gelehrten Zeitgenossen Ciceros und Cäsars) im Komparativ. Man war also ganz wesentlich „humanior“ (menschlicher) als andere. 2 Und tatsächlich konnte „man“ das weit eher als „frau“, die in jeder sozialen Lage gesellschaftlich nur als Schatten ihres Mannes, ob Vater, Bruder, Gatte oder Eigentümer, wahrgenommen wurde und deren Herkunft aus dem von Gott selbst geschaffenen Mann fast keine illuminierte christliche Handschrift der jüdischen Bibel auch bildlich darzustellen versäumt. 3
Nach vielen Jahrhunderten patriarchaler Entwicklung war dies jedoch gewiss die älteste, aber keineswegs mehr die einzige Spaltung im Menschsein. „Humanitas“ im Sinne von Gellius-Varro setzte nämlich Vertrautheit mit den artes liberales voraus, mit den einem Freien zustehenden und zugänglichen Fertigkeiten, Künste, Wissenschaften. Deren Inhalt und Umfang unterlagen zwar im Laufe der Zeit beträchtlichen Veränderungen, doch waren definitionsgemäß stets alle die ausgeschlossen, die nicht den Status persönlicher Freiheit genossen. Darüber hinaus setzte der Vollerwerb einer solchen Bildung freilich auch die Freistellung vom opus servile (jede Tätigkeit, für die ein Herr einen Sklave verwenden mochte) und damit den Besitz von Sklaven voraus. Nur wer über ausreichend scholé (griechisch für Muße, davon abgeleitet Schule, was die Betroffenen gewiss nicht mehr erkennen mögen) verfügte, konnte zu dieser vollen humanitas gelangen.
Das Leben und Dasein der Unfreien war wesentlich instrumentell. Sie waren ein „instrumenti genus vocale“ (sprachbegabte Art von Werkzeug – Varro, de agricultura 1,17), sie waren der Arbeit für die alltägliche Notdurft nicht nur nicht enthoben, sondern wurden im Gegenteil eben für die Enthebung ihrer Herrn von dieser Notdurft verwendet, ihre „humanitas“ war kaum gebildet, und diese Un-Bildung war die Voraussetzung für die gebildete Humanität der Herrn, ja diese war geradezu Grund und Sinn der mangelnden Humanität und der Unfreiheit jener.
Auch wenn in den meisten Gegenden und Zeiten der alten Welt das Verhältnis Herr-Sklave nur für eine Minderheit der Gesellschaft bestand und nach altem Herkommen wenigstens der mindere Stand der Sklaven unter der Fuchtel der herrschaftlichen Humanität noch durchaus gesichert war, so rückte der Vorrang des aus dem natürlichen Rohmaterial zum patriarchalen Vollmenschen gebildeten4 Mannes gegenüber seinen wenig gebildeten, roh gebliebenen Untertanen die Behauptung des Komparativs, er sei „humanior“, mehr Mensch als Frau und Pöbel, diese mehr oder minder in die Nähe von Tieren.
Schon im ältesten Stück europäischer Literatur, in der homerischen Ilias, erscheinen gleich zu Beginn Frauen nur als Kriegsbeute und Ehrengeschenk, Arbeits- und Sexsklavinnen der Herren. Doch auch für die Männer-Gesellschaft findet sich schon hier in einer immer wiederkehrenden Formel die Metapher vom Hirten und seiner Herde (poimèn laôn – Hirte der Mannen). Der Sophist Thrasymachos deutete später diese Hirten-Herde-Metapher durchaus affirmativ als Gesellschaft von zur Menschen- Bildung ermächtigten Nutznießern auf der einen und ohnmächtigen Benutzten, ja offen Geschädigten auf der anderen Seite. Platon hat diese Provokation in seinem Dialog „Politeía“ (p. 343) bekämpft, aber als nicht minder patriarchaler Denker nur zudecken, nicht aber widerlegen können.
Was ein so geprägtes Verständnis von Welt und Leben an Wissen bilden konnte, war von Anfang an verstellt von den sozialen Grundlagen, auf denen dieses Menschsein sich spreizte, und damit von der bis in die Gegenwart anhaltenden Übertragung des Bildes von Herrschaft auf jeden Gegenstand der Erkenntnis.
Auch heute empfängt in einer Bildungsstätte wie dem Wiener Kunsthistorischen Museum Antonio Canovas programmatische Skulptur des Theseus, der einen Kentauren mit dem Knüppel erschlägt, die Besucher – eine Allegorie, die auch vife Gymnasiasten ohne größere Schwierigkeiten ausdeuten können. 5
Die bis heute weithin vertretene, von der Aufklärung entwickelte und in ihrem Gefolge vom Marxismus übernommene Sinngebung des Risses in der menschlichen Gesellschaft qua Fortschrittsideologie – was ist sie anderes als blanker Zynismus, mit dem die Scharen der Beleidigten, Unterdrückten, Verstümmelten und Geopferten zur Voraussetzung einer Höherentwicklung der Menschheit erklärt werden?
2. Knecht Gottes
Mannigfache Formen, diesen Bruch im Menschsein zu leben, gab es mit Sicherheit vom ersten Einbruch des Patriarchats an. Das Christentum war und ist davon wohl eine der geschichtsmächtigsten. Es negierte bzw. bagatellisierte mitten in der vollausgebildeten hierarchischen Struktur der römischen Gesellschaft durch seine Heilserwartung die Spaltung in Voll- und Teilmenschen und die daran geknüpfte Bildung edler freier Männer. Sub specie aeternitatis (angesichts der Ewigkeit/des ewigen Lebens) wurde menschliche Herrschaft als ein zeitweiliges, unerhebliches Phänomen betrachtet, ein „servus dei“ (Sklave, Knecht Diener Gottes) zu sein gehörte jedoch zur condicio humana (grundlegende Verfasstheit des Menschen). Insofern alle Menschen gegenüber Gott als seine Knechte bzw. Kinder gleich unmündig waren6, blieb die ideelle Einheit des Menschseins symbolisch gewahrt und damit zugleich auch der reale Zusammenhalt der in sich zerfallenen Gesellschaft abgesichert und im Alltag praktikabel. Selbst Fürsten und Könige, Bischöfe und Papst hatten dieses Selbstverständnis, ja sie formulierten sogar ihre Herrschaft als Dienstbarkeit eines „servus servorum dei“ (Knecht der Gottesknechte). Auch ihr ewiges Seelenheil hing wie das aller ihrer Mitknechte von Gottes Gnade ab.
Bildung war wesentlich auf Frömmigkeit und Moral gerichtet, die seit dem Altertum gepflegten „freien Künste“ wurden in diesem Kontext zum Propädeutikum der Erkenntnis Gottes, die Philosophie und damit jede nicht ausdrücklich auf Gottes Offenbarung fußende Erkenntnis zur ancilla theologiae (Magd der Theologie). Gott gegenüber zählte die innere Gesinnung so sehr, dass sie sogar für die Alltagssprache der Romanen mit der Adverbbildung auf -ment(e) (mente – mit Gesinnung) eine ganze Wortart prägte und das diesseitige soziale Institut der Herrschaft auch im Massenbewusstsein vielfach zu einer bloßen Bewährungsprobe für das ewige Leben verkleinert wurde.
Und doch war, wer als „servus servorum dei“ seinen frommen Gebeten, Gedanken und Werken oblag, davor und danach irdisches Abbild des Herrgotts oder (als kirchlicher Würderträger) gleich ausdrücklich vicarius Christi (Stellvertreter Christi) in der irdischen Herrschaft über Gottes Herde in Kirche und Welt und hatte damit Zugang zu allem, was seine Sinne reizte, und Macht über seine Frauen, seine Untertanen und unterlegenen Feinde.
Andererseits erlaubte die Vorstellung der allgemeinen Gottesknecht- bzw. -kindschaft die Destruktivität der gesellschaftlichen Spaltung in bestimmter Weise zu thematisieren. Ein breites Band gesellschaftlicher Strömungen und Gruppen hatte darin einen geistigen Ansatzpunkt für Kritik. Der Bogen reichte von dem weitverbreiteten und vielgestaltigen bruderschaftlichen Genossenschaftswesen über die religiöse Frauenbewegung bis zu den Armutsbewegungen, sozialen Rebellionen und Bauernaufständen. Entscheidend blieb dabei aber, dass auch der Protest gegen die Herrschaft sich als die Idee allgemeiner Knechtschaft dem väterlichen Gott gegenüber formulierte und die patriarchale Grundkonstitution des Lebens auf dieser Welt außer Streit stand.
3. Werkzeug göttlicher Zwecke
Nicht die Befreiung von Herrschaft, sondern eine eigentümliche Neudefinition, ja ein Erleben von Knechtschaft als Freiheit ist seither das Ergebnis der Geschichte. Sie begann im blutigen Zeichen der neuen Feuerwaffentechnologie und der für ihre Anwendung und Entwicklung notwendigen Transformation des gesellschaftlichen Lebens in ein System von Arbeit und Geld. Die Neuzeit samt ihrem humanistischen Rückgriff auf die Bildung der heidnischen Antike kam im Donner der Kanonen, der sie bis heute begleitet. 7 Machtgewinn mittels und Schutz vor der neuen Kriegsführung standen nur dem offen, der die Ressourcen für Rüstung und Fortifikation mittels Geldsteuern und Geldwirtschaft zu erpressen und zu sichern vermochte. Und die einmal in Schwung geratene Entwicklung lehrte auch den gottesfürchtigsten Senor/Signor (auch dies übrigens ein Komparativ), dass er vielleicht nicht mehr lange einer ist, wenn sein Nachbar einer bleibt oder einer werden will – der verhängnisvolle Start eines zwanghaften Wettlaufs, der über die Ökonomie schließlich auf jeden Bereich des modernen Lebens übergreifen sollte.
Der Bischof der in hussitisch-reformatorischer Tradition stehenden „Böhmischen Brüder“, Jan Amos Komensky (latinisiert: Comenius, 1592-1670), gehörte zu jenen, die die heraufziehenden neuen Verhältnisse für die Bildung neu zu formulieren und diese für die Gestaltung jener zu nutzen versuchten: Die gleiche Kreatürlichkeit aller Menschen wird zu ihrem Auftrag. Sie gebietet ihnen allen gleichermaßen die aktive Mitwirkung am Schöpfungsvorgang, der – ebenfalls dynamisiert – keineswegs abgeschlossen sei, sondern durch die Weltgeschichte bis heute anhalte. Damit die menschlichen Geschöpfe Gottes nach ihren individuellen Möglichkeiten dazu auch wirklich fähig werden, braucht es die allgemeine Bildung aller Menschen, ja ausdrücklich ihre Schulung, die Comenius als von Gott „ohne Ansehen der Person“ auferlegte Pflicht formulierte, als Pflicht des (noch in den Kinderschuhen steckenden modernen) Staates ebenso wie als Pflicht aller von diesem beherrschten Menschen. Denn „nicht nur der Reichen Kinder, sondern alle, vornehme und schlichte, reiche und arme, Knaben und Mädchen in allen großen und kleinen Städten, auf dem Land und auf den Gütern, sind Schulen zuzuführen (scholis sunt adhibendi)“. Niemand darf von der „Begabungspflege/Begabungswirtschaft“ (lat. : ingenii cultura, eine Parallelbildung zu agri cultura) ausgeschlossen werden, denn einerseits will Gott „von allen erkannt, geliebt und gelobt werden“ und andererseits ist „für uns nicht einsehbar, zu welchen Funktionen/Zwecken/ Verwendungen (ad quos usus) die göttliche Vorsehung diesen oder jenen bestimmt hat“ (Zitate aus Comenius, Didactica Magna 1, 4-9; eigene Übersetzung aus dem Lateinischen).
Comenius hatte sich ein christliches Friedensreich auf Erden vorgestellt. Wirksam aber wurde anderes: In solchem Denken war die überkommene Art von hierarchischer Struktur, aber auch die einigermaßen sichere soziale Platzanweisung der Gottesknechte zugunsten eines offenen Lebens(wett)laufs in Frage gestellt. Die Lebensstellung soll nicht mehr einfach dei gratia (von Gottes Gnaden) oder providentia (von der Vorsehung) kraft Geburt und Geschlecht verliehen, sondern das Ergebnis von individueller Lern- und Leistungsfähigkeit sein (mit tendenziellem Bedeutungsverlust von Gesinnung). Oder eben das Ergebnis des Scheiterns an den Anforderungen. Denn die soziale Stellung in einer weiterwirkenden göttlichen Schöpfung ist an „usus“ gebunden, zu denen Bildung befähigen sollte, ohne dass von Anfang an absehbar ist, wer denn endlich von Gott wozu berufen wird, und – so muss der Gedanke weitergesponnen werden – ohne dass feststehen muss, worin in der dynamisierten Schöpfungsgeschichte diese „usus“ in Zukunft bestehen mochten.
Das Aufgabenfeld moderner „Begabungswirtschaft“ staatlicher Institutionen war erst in Umrissen sichtbar und im Umfang kaum erahnbar. Doch schon die historische Verbindung dieser Gedanken mit den Feuerwaffenkriegen und mit der staatlichen Formierung der sich modernisierenden Monarchien des 17. Jh. s im Namen und Auftrag göttlicher Wahrheiten von Reformation und Gegenreformation erwies die „usus“, mit denen Menschen als Täter und Opfer zurechtkommen sollten, als ein Prokrustes-Bett, in dem sie mehr denn je (und oft ganz wörtlich) „zu-recht“- gestreckt und -gehackt wurden.
Nicht zuletzt in Komenskys tschechischer Heimat hatte die soziale Transformation der modernen Menschheit in „Arbeiter“ jeglichen Rangs schon blutige Gestalt angenommen – in den Arbeits- und Geldsubjekten der Gehilfen, Meister, Buchhalter und Verwalter der Rüstungsmanufakturen und Kriegsmagazine, der Huren und MarketenderInnen, einfachen Söldner, Spezialisten und Offiziere der Truppen Wallensteins8 und ebenso sowohl im sozialen Aufstieg dieses selbst vom klug investierenden und risikofreudigen Condottiere selbst angeworbener „Sold“aten zum kaiserlichen Generalissimus, Steuererfinder und reichsten Reichsfürsten als auch in seiner blutigen Beseitigung.
Was im Aufgang der Moderne als Predigt für den Krieg um Reformation und Gegenreformation begann, scheint in ihrem Untergang als Verblödung für Crusade und Djihad wiederzukehren.
4. Ich-AG
Die Vorstellungen des Comenius vom allgemeinen Bildungsauftrag Gottes waren wesentlich an die Institution des modernen Staats gebunden. Die von diesem auf den Weg gebrachte neue Lebensweise der kapitalistischen Arbeit für die Vermehrung eingesetzten Kapitals hat längst die ganze Gesellschaft durchdrungen. Sie richtet heute alles Sinnen und Trachten und alle Einrichtungen und Institutionen einschließlich des Staats selbst nach ihrem Wert-Maßstab aus. Sie hat Gott als veraltete Formulierung einer neuen Macht erwiesen. Diese ist so patriarchal und klassenbewusst wie sie jeden Unterschied in ihrem Dienst auch wieder zu nivellieren bereit ist. Sie kennt kein Ansehen der Person, weil sie selber unpersönlich ist, keine Rücksichtnahme auf Leben, weil sie selber sachlich ist, aber zugreifender und durchdringender als jeder Zauber, der davor das Leben der Menschen geregelt hatte.
Sachzwang schafft seine „Gerechtigkeit“ anders als Gottes Gebot schon hienieden und „rechtfertigt“ seine Gläubigen ausschließlich durch ihren Erfolg. Eigenqualität wird gleichgeschaltet nach dem einen Wert-Maß, alle Zwecke werden Mittel für Gewinn und Einkommen, alles hat einen Preis und steht zum Kauf und Verkauf. In dieser Unterwerfung verdiesseitigt und vereinheitlicht sich die gleiche Gottesknechtschaft für alle. Die Märkte sind das Weltgericht. Der Komparativ wird individualisiert und gilt nur in jedem Fall und überall. Er bekommt in der alle Lebensbereiche erfassenden quasi göttlichen Macht der Konkurrenz eine Dynamik, die Herr und Knecht gleichermaßen verschlingt.
Bildung als Dienstleistung des modernen Staates und gesetzliche Pflicht seiner Bürger-Untertanen ist endlich gesellschaftlich durchgesetzte Wirklichkeit geworden. Sie ist nunmehr die Befähigung zur Fortsetzung von Eroberung mit mehr als bloß militärischen Mitteln. In der vollen Ausbildung und Vereinzelung dieser spezifischen Verzweckung während der letzten Jahrzehnte wird Schulung darüber hinaus immer mehr eine individuell zu kaufende und durch lebenslangen Zukauf auf dem neuesten Stand zu haltende Ausrüstung der Ich-AG für den täglichen Arbeits-Krieg, in dem sich entscheidet, ob eins sich als brauchbar erweist für Gott Mammon oder aber dieses sein Lebensrecht verwirkt.
Gut dreihundertfünfzig Jahre nach Comenius und nach zwei Jahrhunderten Schulpflicht fragen gelegentlich schon Volksschulkinder, wozu sie dies oder jenes „im Leben brauchen“ werden, und meinen damit mehr oder weniger klar, ob sie dieses Wissen wohl einmal zu Geld machen können. Und viel anderes kann in einer Warengesellschaft unter dem Schulmeisterideal „Fürs Leben, nicht für die Schule lernen wir“ auch nicht verstanden werden.
Diese radikale Ökonomisierung von Bildung und Wissen ist derzeit dabei, auch noch die letzten Schlacken nicht unmittelbar marktrelevanter Bildungsvorstellungen aufzulösen, die sich allerdings sowieso schon lange bloß auf das abstrakte Pendant des Markts, die staatlich verfasste Gesellschaft, bezogen hatten.
Bisher marktwirtschaftlich unverzweckte Bildung wird individuell zum Trumpf in der Millionenshow und im Smalltalk und Kulturprogramm der Geschäftsanbahnung, auf dem Markt selbst taugt sie noch zum verkaufbaren Freizeit- Event, verfällt jedenfalls wie immer mehr bisher staatliche Bereiche dem betriebswirtschaftlichen Kalkül. Die klarste Affirmation dieses Vorgangs findet sich denn auch nicht in dem auf Hungerdiät gesetzten staatlich-akademischen Lehrbetrieb, sondern im direkten Umkreis der Verwaltung der Wertverwertung, z. B. in einer Studie des Think Tanks „Deutschland Denken! „. Dort wird, wenn es um Bildung geht, bloß noch nach dem „Humankapital in Deutschland und seine(n) Erträge(n)“ gefragt. „Bildung ist hier als Investition gesehen, die mit anderen Investitionen konkurriert. Um in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, gilt es, dieser Investition in unsere intellektuellen Fähigkeiten und die unserer Kinder offen gegenüber zu treten“ und die Bildungsinhalte nach ihrer ökonomischen Rentabilität zu bewerten. (Wieviel Bildung brauchen wir? hgg. von der Alfred-Herrhausen- Gesellschaft für internationalen Dialog, ein Forum der Deutschen Bank, Frankfurt am Main 2002, S. 8)
Doch wer heute noch Kunst, Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte gesellschaftlichen Stellenwert geben will, weist am besten darauf hin, wie sehr es zu den höchsten Managementaufgaben befähige, in Elite-Universitäten „über existentielle Fragen nachzudenken, über Sinnfragen“ und dass beim weltweit renommiertesten Unternehmensberater McKinsey „inzwischen schon jeder fünfte Historiker, Sinologe, Philosoph, Germanist oder Theologe“ ist. (M. Rollin, Studium Generale in Geo-Wissen 3/2003) Die mystische Ganz-Hingabe des mittelalterlichen Einsiedler- Mönchs an seinen Herrn und Gott kehrt wieder als freie und profane Selbstauslieferung des Denkens, Handelns und Fühlens des modernen Arbeitsmenschen an Sachzwang und Geld, ohne Rücksicht auf sich selbst, auf andere und den Rest der Welt.
Ho mè dareìs ánthropos ou paideúetai (Der Mensch, dem nicht die Haut abgezogen wurde, wird nicht erzogen / kann nicht erzogen werden). Diese Gnome des altgriechischen Komödiendichters Menander (4. /3. Jh. , die 422. Gnome der unter seinem Namen überlieferten Monostichoi) hat Goethe als Motto des ersten Bandes seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ gewählt. In der eigenen Haut sind Menschen seit der Antike in die Gesellschaft nicht mehr integrierbar, auch die Herren nicht. Aus ihnen wirklich „Menschen zu machen“ (bis heute Bestandteil des Kasernenjargons) ist ein Gewaltakt, eine grausame Verstümmelung, die der heutige Mensch als unermüdliche Selbstanpassung an die dauernd wechselnden Zumutungen dieser „unserer schnelllebigen Zeit“ mit „positiv Denken“ und Antidepressiva an sich selbst vollzieht.
Wenn das für immer mehr Menschen in der epochalen Krise dieser Gesellschaft, in der nicht nur der gesellschaftliche Zusammenhang, sondern auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit auf dem Spiel stehen, aus den verschiedensten Gründen einfach nicht mehr leistbar ist und hoffentlich immer mehr das auch gar nicht mehr leisten wollen, ist Neu-Bildung, was wir brauchen.
Anmerkungen
1 Die „vulgäre“ Bedeutung der erwünschten Eigenschaft freundlich und rücksichtsvoll gegenüber anderen zu sein („philanthropía“ – Menschenliebe nennt das unser Autor mit einem griechischen Wort) ist einem auch von „menschlich“ und „human“ geläufig, oft mit dem Bewusstsein verbunden, dass solches Verhalten in der Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, leicht Nachteile einbringt. Der Zusammenhang mit Bildung ist bei der lateinischen Ableitung „humanistisch“ noch fassbar.
2 Als „humaniora“ bezeichnete das Bildungsbürgertum denn auch noch bis weit ins vorige Jahrhundert gern die ihm faktisch vorbehaltene, auf der antiken Literatur basierende humanistische Bildung.
3 Tatsächlich fehlte eine solche Miniatur in keiner einzigen der Prachtbibeln, welche die Österreichische Nationalbibliothek bis Jänner 2004 in der Ausstellung „Am Anfang war das Wort-Glanz und Pracht illuminierter Bibeln“ zeigte.
4 „Entrohen“, aus Rohem bilden, so die stammgleiche Übertragung des lateinischen Verbs erudire.
5 Auch der plastische Schmuck des als Standesvertretung des bürgerlichen Honoratiorentums erbauten Wiener Parlaments spricht eine deutliche Sprache: Die beiden Auffahrtsrampen werden von griechischen und römischen Historikern flankiert, zu deren Füßen Dioskuren ihre Rosse bändigen.
6 Vater bezeichnet z. B. bei Homer vor allem den Herrscher – Zeus als „Vater der Götter und Menschen“. Es ist damit übereinstimmende patriarchalische Tradition, dass Dienstbare und Kinder gleich bezeichnet wurden: vgl. griechisch país, lateinisch puer und auch deutsch Mädchen und Bursch.
7 Zur Durchsetzung des Kapitalismus als einer „Ökonomie der Feuerwaffe“ siehe einführend Robert Kurz, Der Knall der Moderne, auf: www.krisis.org/r-kurz_knall-dermoderne. html mit Angabe weiterführender Literatur. Wie nicht nur heutige Intelligenz großteils im Dienste der Rüstung steht, zeigt das Beispiel Leonardos da Vinci, der weniger als begnadeter Maler als vielmehr als genialer Festungsarchitekt sein Auskommen fand. Der Zusammenhang zwischen dem Rückgriff auf die vorchristliche antike Literatur und dem Angriff auf die überkommenen sozialen Sicherheiten der mittelalterlichen Gesellschaft bleibt, so weit ich sehe, in der Geschichtswissenschaft unbelichtet.
8 Nicht zu vergessen den Astronomen Johannes Kepler, der sein Einkommen aus der Fähigkeit bezog, dem Feldherrn mit seinen Horoskopen die Zukunft zu deuten.