Out Of Area – Out Of Control (1. Teil)
Streifzüge 31/2004
Warengesellschaft und Widerstand im Zeitalter von Deregulierung und Entstaatlichung
1. Teil: Der fatale Endsieg der Ware
VORLAUF SOZIALKRIKTIK
von Ernst Lohoff
I. Die Unselbständigkeit der Politik
1.
Seit den Tagen des Ersten Weltkriegs bis tief in die 70er Jahre hinein galt es als ausgemacht: Zukunft hat nur eine durch Staatseingriffe modifizierte und sozial eingehegte Marktwirtschaft. Insbesondere zur Zeit des Nachkriegsbooms teilten alle tonangebenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte in den Weltmarktzentren diese Perspektive. In den 60er Jahren firmierte dieses Programm hierzulande unter dem Markennamen „Soziale Marktwirtschaft“, in den USA zur gleichen Zeit unter dem Label „Great Society“. Da wie dort stand außer Frage, dass der Staat als Gegengewicht zum freien Spiel der Marktkräfte aufzutreten hat. Insbesondere der Sozialstaat wurde als Synonym von Modernität gefeiert und „Reformpolitik“ bezeichnete an beiden Ufern des Atlantiks nichts anderes als dessen energischen Ausbau.
2.
Mittlerweile hat sich dieses Szenario von Grund auf verändert. Das Leitmotiv des globalisierten Kapitalismus, wie er sich seit den 80er Jahren herausgebildet hat, lautet: „Wo Staat ist soll Markt werden“. Vor allem der Sozialstaat, ehemals Inbegriff des Fortschritts, steht nun für Rückständigkeit und Verknöcherung. Bekanntlich bleibt es auch in den Weltmarktzentren nicht bei der ideologischen Generalmobilmachung. Seit der Jahrtausendwende gehen wie vorher schon in Großbritannien und den USA auch in Kontinentaleuropa mit atemberaubender Geschwindigkeit die sozialen Errungenschaften von Jahrzehnten über Bord.
3.
Die Liquidatoren des Sozialstaats und Fürsprecher von Privatisierung und Deregulierung rechtfertigen ihre Bestrebungen als überfällige Korrektur politisch motivierter Fehlentwicklungen. Die jede Privatinitiative lähmende „Überregulierung“ blockiere zusammen mit dem „sozialstaatlichen Wildwuchs“ den Weg zu Wachstum und Wohlstand. Die Beseitigung all dieser Hindernisse sei dringend geboten, leiern die marktwirtschaftsideologischen Gebetsmühlen.
Die Verteidiger staatlicher Regulation und sozialstaatlicher Umverteilung sehen das anders. Nicht die sozialstaatlichen Errungenschaften seien das Resultat einer falschen, am arbeitsgesellschaftlichen Gemeinwohl desinteressierten Politik, sondern deren Beseitigung. Die beiden streitenden Parteien bewerten zwar die laufende Entwicklung diametral entgegengesetzt, ihre Deutungen folgen indes dem gleichen Interpretationsmuster. Die einen wie die anderen behandeln staatliche Regulation stur und ausschließlich als abhängige Variable politischer Kämpfe und Entscheidungen. Die Irrungen und Wirrungen politischer Auseinandersetzungen scheinen letztinstanzlich dafür verantwortlich zu zeichnen, welcher Stellenwert dem Staat bei Produktion und Verteilung des warengesellschaftlichen Reichtums zukommt.
4.
Die linke Variante dieser Argumentationsweise dürfte vertraut sein: Arbeitsschutzgesetze, Arbeitszeitverkürzungen, Tariflöhne, Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen sind in harten Klassenkämpfen dem Kapitalismus abgetrotzt worden. Heute nutzt „das Kapital“ die Schwäche der organisierten Arbeiterklasse zur Zurücknahme dieser Zugeständnisse und zur Reinstallierung des alten „Manchesterkapitalismus“.
So viel ist an dieser Sichtweise richtig: Der Prozess sozialstaatlicher Formierung verdankt den Kämpfen der Arbeiterbewegung wesentliche Impulse. Und auch die Abwicklung des Sozialstaats lässt sich kaum ohne die wilde Entschlossenheit seiner neoliberal indoktrinierten Totengräber denken. In die Irre führt diese Interpretation aber insofern, als sie die politischen Richtungsentscheidungen als voraussetzungslose Prima Causa behandelt. Damit fällt aber das Wesentliche unter den Tisch. Bei den großen politischen Konzepten handelt es sich bereits um Reaktions- und Verarbeitungsformen auf tieferliegende strukturelle Entwicklungen, die außerhalb der Reichweite politischen Handelns liegen. Die Väter des Sozialstaats konnten nur deshalb dauerhafte Erfolge verzeichnen, weil sie dem System kapitalistischer Reichtumsproduktion etwas für dessen Durchsetzung und Verallgemeinerung Unerlässliches hinzufügten. Und auch beim derzeit laufenden marktideologisch begründeten Abrissunternehmen handelt es sich um mehr als um eine ungünstigen politischen Kräfteverhältnissen geschuldete Verirrung; es entpuppt sich näher besehen als durchaus folgerichtige innerkapitalistische Antwort auf die grundlegende strukturelle Krise von Arbeit und Verwertung. Der politische Paradigmenwechsel verweist auf einen fundamentalen inneren Widerspruch warengesellschaftlicher Reichtumsproduktion; Etatisierung und partielle Deetatisierung lassen sich als die historische Verlaufsform dieses inneren Widerspruchs fassen.
II. Kleine Politische Ökonomie des Staatssektors
1.
Beginnen wir bei der Klärung des widersprüchlichen Verhältnisses zunächst auf einer sehr grundsätzlichen Ebene, bei der Frage nämlich, was in der kapitalistischen Logik überhaupt unter Reichtum zu verstehen ist. Eine Antwort liefert Marx gleich in den ersten beiden Sätzen des „Kapitals“: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform.“ Diese Bestimmung lässt sich auch als „historische Mission“ lesen. Die kapitalistische Gesellschaft kennzeichnet der Drang, einen möglichst großen Teil des gesellschaftlichen Reichtums in Waren zu verwandeln und alle Reichtumsproduzenten in Warenproduzenten. Je konsequenter einer Gesellschaft dies gelingt, desto reiner bildet sich ihr kapitalistischer Charakter aus.
Was die Vernichtung traditioneller nicht-monetärer Reproduktionsformen angeht, hat sich die historische Entwicklung buchstabengetreu an dieses Programm gehalten. Zumindest in den Metropolenländern wurden sie spätestens im 20. Jahrhundert ausgelöscht oder völlig marginalisiert. Parallel dazu machte freilich ein in Sachen Reichtumsproduktion neuer Akteur Karriere: der Staat. Die Expansion der Staatstätigkeit ordnet sich zwar selber in den großen Prozess der Monetarisierung und der Verwandlung aller gesellschaftlich gültigen Tätigkeit in bezahlte Arbeit ein, doch hat er nicht direkt an der Kommodifizierung Teil. Der Staatstätigkeiten entspringende gesellschaftliche Reichtum setzte sich gerade nicht aus zusätzlichen, auf optimale Verkäuflichkeit hin erzeugten Waren zusammen. Wo der Staat Güter bereitstellt oder bei deren Händewechsel die Finger im Spiel hat, hebelt er vielmehr den Äquivalententausch, die soziale Beziehungsform von Warenbesitzern, aus. Was jedoch hat die Warengesellschaft dazu animiert, eine von ihrer Idealgestalt abweichende Form von Reichtumserzeugung und -verteilung in die Welt zu setzen?
2.
Die Lösung dieses Rätsels liegt im spezifischen Charakter, den Reichtum durch seine Verwandlung in Waren annimmt. Diese Transformation verbindet in sich zwei widersprüchliche Momente. Die „Elementarform“ des kapitalistischen Reichtums, die einzelne Ware, steht für etwas von Grund auf Paradoxes, nämlich für „ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit“ (Marx).
Einerseits führt der Aufstieg der Ware zur herrschenden Reichtumsform zur Ausbildung eines hochgradig arbeitsteiligen und vergesellschafteten Systems. Zum logischen Fluchtpunkt hat der Vormarsch der Ware den Weltmarkt und damit die Verschmelzung von Produktion und Konsumtion zu einem einzigen planetaren Zusammenhang. Die Einzelproduzenten und die Warensubjekte agieren als allseitig abhängige Glieder eines gigantischen gesellschaftlichen Aggregats.
Gleichzeitig bedeutet die Reduktion von Reichtum auf Warenreichtum aber gleich in zweifacher Hinsicht eine systematische Entgesellschaftung. Zum einen insofern, als mit der Herrschaft der Warenform gesellschaftliche Beziehungen nur noch als die Beziehung von Sachen existieren. Soweit Gesellschaft ohne direkte soziale Beziehung nicht auskommt, ist für sie nur in einer vom eigentlichen großen gesellschaftlichen Zusammenhang abgespaltenen Sondersphäre Platz. Zum anderen handelt es sich aber auch bei der in Warenbeziehung verwandelten Beziehung zu den materiellen Gütern um einen radikal entgesellschafteten Bezug, und zwar für jeden im unendlichen Warenuniversum vorgesehenen sozialen Ort. Vom Standpunkt des Produzenten erscheinen die sinnlich-stofflichen Qualitäten des Erzeugnisses und damit auch dessen gesellschaftliche Wirkung und Wirklichkeit völlig irrelevant. Von Belang ist allein deren Verkäuflichkeit. Zwischen Giftgas und Gummibärchen, Gewaltvideo und Gardine gibt es dementsprechend aus der Produzentenperspektive keinerlei Unterschied. Der Käufer seinerseits kann immer nur isolierte Endprodukte erwerben, deren Entstehungsbedingungen und damit ihre gesellschaftliche Dimension völlig außerhalb seines Zugriffs liegen. Schließlich bleibt das Warensubjekt all den Waren gegenüber ganz und gar verhältnislos, denen es nicht aktuell als Käufer oder Verkäufer gegenübertritt. Nur zu einen im Nanobereich angesiedelten Bruchteil des Warenkosmos kann das Warensubjekt via Zahlung überhaupt in eine Beziehung treten. Wer im Warenuniversum aus dem Zirkel von Kauf und Verkauf herausfällt, gerät sofort in die unkomfortable Lage eines Fisches auf dem Trockenen und ist in einer hochgradig vergesellschafteten Welt von allem abgeschnitten, was eine menschliche Existenz ausmacht.
3.
Der innere Widerspruch von totaler Vergesellschaftung und radikaler Ungesellschaftlichkeit läuft zu Ende gedacht auf nichts anderes als auf Selbstzerstörung hinaus. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder tatsächlich bei absolut jeder Lebensäußerung durch das Nadelöhr des Äquivalententauschs treiben wollte, wäre reproduktionsunfähig. Um der Selbstdemontage zu entgehen, kommt die Warengesellschaft nicht umhin, Teile der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion auszugliedern, um sie der Warenform nicht direkt, sondern nur indirekt zu subsumieren. Das gilt zunächst einmal für die breite Palette häuslicher Tätigkeiten. Sowohl die unerlässliche Nach- und Vorbereitung des privaten Warenkonsums als auch zentrale Aspekte der sozialen Grundversorgung werden ins Reich des Abgespaltenen abgedrängt. Die Warengesellschaft verlässt sich stillschweigend darauf, dass irgendwelche, in der Regel weiblichen Geisterhände außerhalb der warengesellschaftlichen Buchführung Kinder erziehen, sich um Angehörige kümmern und Haushalte führen.
Die Warengesellschaft ist aber nicht allein auf diese Schrumpfform unmittelbarer sozialer Beziehungen angewiesen, für die all diese ohne großes Aggregat leistbaren Tätigkeiten stehen. Um als Warensubjekte agieren zu können, müssen die Menschen gewisse allgemeine infrastrukturelle Voraussetzungen dieser Daseinsweise vorfinden. Kein Individualverkehr ohne von allen Privatfahrzeugen benutzbare Straßen. Keine Arbeitskraft kann auf den Arbeitsmarkt treten, ohne vorher Bildungsinstitutionen zu durchlaufen, die sie auf die notwendigen allgemeinen kulturellen Standards trimmt. Damit diese Voraussetzungen der Existenz als Warensubjekt allen potentiellen Warensubjekten universell zugänglich sind, dürfen sie selber aber nicht die Form der Ware annehmen. Je weiter die Produktivitätsentwicklung voranschreitet, desto tiefer gestaffelt und umfänglicher fällt dieses System infrastruktureller Vorleistungen aus, und nur der Staat ist als abstrakte Allgemeinheit in der Lage für dessen Unterhalt Sorge zu tragen. Der ungesellschaftliche Charakter der Warengesellschaft erzwingt die Herausbildung einer zweiten, abgeleiteten Form warengesellschaftlichen Reichtums. Der Siegeszug des primären Warenreichtums hätte ohne die Entstehung eines umfänglichen Sektors staatlich organisierter Reichtumsproduktion gar nicht vonstatten gehen können.
4.
In der Warengesellschaft erfährt Reichtum immer auf dem gleichen Weg gesellschaftliche Anerkennung, nämlich durch die Verwandlung in Geldverhältnisse. Was sich nicht gegen die Ware aller Waren umsetzt, ist irrelevantes Privatvergnügen. Wo Geld fließt, da ist gesellschaftliche Bedeutung.
Auch die Ausdehnung des Staatssektors ordnet sich in den großen historischen Monetarisierungsprozess ein. Allerdings unterscheidet sich die etatistische Sekundärvariante entscheidend von der Monetarisierung durch den Vormarsch der Ware. Die Produktion von verkäuflichen Waren vermehrt gesamtgesellschaftlich betrachtet den monetären Reichtum. Die staatlich organisierte Reichtumsproduktion dagegen erscheint gesamtgesellschaftlich vornehmlich als Konsum – als Staatskonsum. Die sekundäre Form warengesellschaftlichen Reichtums muss vom primären Warenreichtum alimentiert werden.
Dieser insgesamt defizitäre Charakter ist einer grundlegenden Differenz in der sozialen Vermittlungsform geschuldet. Die Tauschbeziehungen funktionieren streng nach dem Äquivalenzprinzip. Wer eine Ware erhalten will, muss deren Gegenwert an den Verkäufer abtreten und realisiert ihn damit. Im Staatssektor ist dieses Prinzip durchbrochen. Wert tauscht sich nicht gegen Wert. Geben und Bekommen fallen zumindest partiell auseinander. Das eine nimmt die Form administrativ-juristisch festgesetzter Zahlungsverpflichtung (Steuern, Abgaben) an, das andere die Form rechtlich festgeschriebener Ansprüche.
Bei ausschließlich aus Steuern und Abgaben finanzierten Staatstätigkeiten, die allen potentiellen Nutzern kostenlos zur Verfügung stehen, ist diese Entkoppelung vollständig. Aber auch die an Geldleistungen gebundene Nutzung öffentlicher Infrastruktur unterliegt keineswegs dem Äquivalenzprinzip. Das gilt nicht allein für defizitäre, sondern selbst für gewinnbringend arbeitende öffentliche Versorgungsunternehmen. Ihr Infrastrukturcharakter, die Ausrichtung auf eine für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich flächendeckende Versorgung, findet in der allgemeinen Versorgungspflicht ihren juristischen Niederschlag. Die öffentlichen Unternehmen sind gehalten, unabhängig von den jeweiligen besonderen Gestehungskosten jedem Bürger ihre Leistung für das gleiche Entgelt anzubieten. An die Stelle des Preises tritt die Gebühr.
5.
Die Warengesellschaft hat die Ware Arbeitskraft zur Basisware. Das System der Wertverwertung ist auf verwertungstaugliches Menschenmaterial angewiesen. Zu den staatlicherseits zu garantierenden allgemeinen Voraussetzungen der Warenproduktion gehört dementsprechend auch die Verfügbarhaltung der Ware Arbeitskraft, und zwar in einer dem erreichten Produktivitätsniveau entsprechenden Qualität.
Partiell fällt diese Aufgabe mit den allgemeinen Infrastrukturleistungen des Staates zusammen. Auch amtierende, künftige und ehemalige Arbeitskraftverkäufer nutzen wie alle anderen Kategorien von Warenbesitzern das Bildungssystem, das Verkehrsnetz und Kultureinrichtungen oder die öffentliche Wasserversorgung. Im gleichen Maß wie der Arbeitskraftbesitzer zur vorherrschenden Kategorie von Warenbesitzer aufstieg, fiel der staatlichen Regulation aber noch eine zusätzliche, dem spezifischen Charakter dieser Ware geschuldete Funktion, zu. Sie obliegt dem Sozialstaat im engeren Sinn.
Der Besitzer der Ware Arbeitskraft erfreut sich doppelter Freiheit. Wie jedes andere Warensubjekt kann er frei über seine Ware verfügen und darf seine Haut selber zu Markt tragen. Gleichzeitig ist er von allen Reproduktionsmöglichkeiten befreit, die ihm diesen Gang ersparen könnten. Diese zweite Freiheit bedeutet nichts anderes als strukturellen Arbeitszwang.
Der strukturelle Arbeitszwang garantiert indes nicht immer auch die Möglichkeit vom Verkauf der eigenen Arbeitskraft leben zu können. Die Existenz als Arbeitskraftverkäufer ist nämlich mit gewissen biographischen Regelrisiken verbunden. Das Arbeitsvermögen kann zeitweise (Krankheit) oder auf Dauer (Alter, Erwerbsunfähigkeit) verloren gehen oder es findet sich vorübergehend kein Anwender. Der Sozialstaat und seine Zwangsversicherungen organisieren auf den Eintritt solcher Risiken abgestimmte alternative Revenuequellen und verschaffen damit den außer Kurs gesetzten Arbeitskraftbesitzern einen sekundären Ersatz-Zugang zur schönen Warenwelt. Die sozialstaatliche Redistribution hat den strukturellen Arbeitszwang nie prinzipiell außer Kraft gesetzt, im Gegenteil. Zum einen sind die sozialstaatlichen Leistungen in der Regel in Dauer und Umfang an vorab erzielte Lohneinkünfte gekoppelt; zum anderen rückt für alle offiziell Arbeitsfähigen an die Stelle tatsächlicher Arbeit allemal amtlich zu kontrollierende Arbeitsbereitschaft. Wo Arbeitsbereitschaft anfängt und wo sie aufhört, lässt freilich Interpretationsspielräume offen. Eine gewisse Lockerung des rigorosen Zwangs sich zu verkaufen, stellt die kollektive Absicherung gegen die Risiken der Arbeitskraftverkäuferexistenz allemal dar.
III. Der Pyrrhussieg des Marktes
1.
Der Siegeszug der Warengesellschaft im 20. Jahrhundert ging mit dem Vormarsch des Staates einher. Nur auf diesem Weg konnte der schreiende innere Widerspruch „ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit“ überhaupt eine provisorische Lösung finden. Diese provisorische Lösung hatte allerdings einen Haken. Sie funktioniert nur solange problemlos, solange die Masse der sich in Waren vergegenständlichenden wertproduktiven Arbeit wächst. Spätestens mit der mikroelektronischen Revolution ist aber eine Auszehrung der Arbeitssubstanz in den industriellen Kernsektoren zu verzeichnen. Die Diskrepanz von weiter steigendem Aufwand für den Unterhalt des infrastrukturellen Rahmens und schrumpfendem wertproduktiven Kern führt zu einer strukturellen Finanzierungskrise des aktiven Staates. Die Warengesellschaft droht von ihren Faux Frais erdrückt zu werden.
2.
Die Krise der Arbeitsgesellschaft macht aber nicht nur die Finanzierung der allgemeinen staatlichen Rahmenleistungen zum Problem. Mit ihr steht zugleich die bisherige Aufgabenbeschreibung staatlicher Tätigkeit zur Disposition. Das betrifft zunächst einmal vornehmlich den eigentlichen Sozialstaat.
Für das Zeitalter der fordistischen Massenarbeit lässt sich die Warengesellschaft als eine Gemeinschaft repressiver Integration beschreiben. Der Sozialstaat machte wie schon angedeutet in diesem Zusammenhang als ein Instrument der Verfügbarmachung und Flexibilisierung von Arbeitskraft Karriere. Sein Ausbau war eine der unabdingbaren Voraussetzungen für die Individualisierung der Daseinsvorsorge und damit für die Zurückdrängung vorkapitalistischer auf familiale Selbstversorgung gestützter Reproduktionsformen. Ohne diese Absicherung gegen die Regelrisiken einer Existenz als Arbeitskraftverkäufer hätten sich die Menschen schwerlich vorbehaltlos auf diese Daseinsform einlassen können.
Angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft fällt in wachsendem Umfang im kapitalistischen Sinne überflüssiges Menschenmaterial in den sozialstaatlichen Zuständigkeitsbereich. Mit der Veränderung seiner Klientel beginnen die Integrations- und die Zurichtungsfunktion des Sozialstaats für das Wertverwertungssystem auseinander zutreten. Die sozialstaatliche Absicherung, bis dato Voraus- und Begleitkosten produktiver Vernutzung, wird zumindest partiell vom gesamtkapitalistischen Standpunkt zur notorischen „Fehlallokation von Ressourcen“. Aus der Perspektive der an die Stelle der Nationalökonomie tretenden Standortgemeinschaft ist es „Luxus“, stets knappe monetäre Mittel in Menschen zu investieren, bei denen schwerlich eine entsprechende Amortisation zu erwarten ist. Die „Großzügigkeit“, mit der bis dato freigesetzte Menschen unter der Prämisse, ihre Freisetzung sei vorübergehend Honoris Causa als potentielle Arbeits- und Warensubjekte mit durchgeschleppt wurden, verliert ihre materielle Grundlage. Der Sozialstaat mutiert zur Selektions- und Exklusionsinstanz, die zwischen verwertbarem und unverwertbarem Menschenmaterial zu scheiden hat. Für Letzteres bleibt, die warengesellschaftliche Logik bis zu ihrem bitteren Ende gedacht, nur die Existenz von Geldsubjekten ohne Geld.
3.
Die Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung überspielt in den 80er und 90er Jahre die basale Krise der Arbeitsgesellschaft. Der Vorgriff auf die Vernutzung künftiger Arbeit diente als Ersatztreibstoff für die erlahmende tatsächliche Arbeitsvernutzung und hielt die Wertverwertungsmaschine auf Touren. Stofflicher Träger der kasinokapitalistischen Hoffnungen waren in erster Linie die neuen Kommunikationstechnologien. Eine neue zusätzliche gigantische Infrastruktur entstand in diesem Bereich, diesmal eine, die sich privatwirtschaftlich rechnen sollte.
Der New Economy Crash demonstrierte zweierlei. Erstens das Kunststück noch nicht geförderte Kohle zu verheizen trägt auf Dauer nicht. Zweitens dem Versuch, die erklecklichen Investitionen in die neue Kommunikationsinfrastruktur in verkäufliche Waren umzumünzen, sind Grenzen gesetzt.
Damit endete freilich nicht das Unternehmen Privatisierung der Infrastruktur; gefördert durch die prekäre Finanzlage der öffentlichen Hände verschiebt sich vielmehr nur dessen Schwerpunkt. An die Stelle der Kapitalisierung ungedeckter Zukunftserwartungen tritt zusehends ein anderes handfesteres Heizmaterial. Aus den schon existierenden staatlich organisierten allgemeinen Voraussetzungen gesellschaftlicher Reproduktion sollen verstärkt profitable Waren werden. Sie wandern jetzt als Brennstoff in den Rachen der Profitmaschine und was partout keinen Heizwert freisetzen will, geht als Ballast über Bord.
4.
Der Kapitalismus unserer Tage ebnet die Differenz zwischen infrastruktureller Voraussetzung der Warenproduktion und Warenproduktion im eigentlichen Sinn ein. Ihr Vorbild hat diese Variante kapitalistischer Akkumulation in einer Szene aus Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“. Auf dem Dampfschiff, das den Helden des Romans Phileas Fogg über den Atlantik zurück nach England bringen sollte, gingen vorzeitig die Kohlevorräte zur Neige. Daraufhin brachte er Kapitän und Besatzung dazu, das Schiff selber Stück um Stück verheizen, um die Kessel weiter unter Dampf zu halten.
Welche Folgen hat die Übernahme von Foggs Methode für die Warengesellschaft?
Die ganz grundsätzliche Antwort liegt nach dem bereits Entwickelten auf der Hand: Die Ware steht für das Paradox ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit. Damit trotz dieses inneren Widerspruchs die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Warengesellschaft sichergestellt werden können, musste neben die Produktion von Waren eine sekundäre, staatlich organisierte Form von Reichtum treten. Wo Waren den staatlichen Beitrag zur Reichtumsproduktion substituieren, sind sie nicht mehr sichergestellt. Der Vormarsch der Ware führt zu Entgesellschaftungsschüben. Die Exklusion der Unverwertbaren, die Demontage der sozialstaatlichen Sicherungssysteme, um die Daseinsvorsorge sukzessive dem Markt zu überantworten, erweist sich näher besehen als ein bloßes Teilmoment eines viel umfassenderen allgemeinen Entgesellschaftungsprozesses.
5.
Was Entgesellschaftung im Einzelnen heißt, ist davon abhängig, welche bis dato staatlich organisierte Funktion dem Markt jeweils überantwortet wird. Was die klassischen Infrastrukturunternehmen wie die Bahn, die Strom- und Wasserversorger, die Post usw. angeht stellt sich bei deren Infrastrukturgütern und -leistungen vor allem ein Problem. Reine Marktbeziehungen sind partikulare Beziehungen getrennter Tauschpartner, keine universellen. Der Warenverkäufer tritt nie mit der Gesamtheit aller Warensubjekte in Beziehung, sondern nur in viele möglichst rentierliche Einzelbeziehungen. Das kollidiert mit dem flächendeckenden allgemeinen Charakter von Infrastruktur. Privatisierung führt unweigerlich zur Rosinenpickerei und zur Konzentration des Angebots auf profitable Kernbereiche. Es liegt in der Falllinie betriebswirtschaftlicher Logik Angebote zu vernachlässigen und herunterzufahren, die sich nicht oder nur bedingt rechnen. Die Koppelung von Privatisierung der Infrastruktur und juristisch festgeschriebener Grundversorgungsauftrag führt im Zeichen der Kostenoptimierung zu einer beständigen Herunterdefinition dessen, was Grundversorgung bedeutet.
Für eine funktionierende Infrastruktur hat Versorgungssicherheit einen sehr hohen Wert. Versorgungssicherheit ist an Reserven gebunden. Die Verwertungsmaschine als Ganze ist darauf angewiesen, dass sich bei Strom, Wasser und Kommunikationsinfrastruktur die potentiellen Kapazitäten von den aktualisierten unterscheiden. Die Aufrechterhaltung einer solchen Differenz schlägt der betriebswirtschaftlichen Logik indes ins Gesicht. Die kennt nur das Gebot der Kostenminimierung pro Einzelware. Profitmaximierung impliziert die Minimierung des Unterschieds zwischen potentieller und aktueller Leistungsfähigkeit von Infrastruktursystemen. Das führt aber notwendig zu Flexibilitätsdefiziten bei Schwankungen und Störungen. Wo der Markt der Infrastruktur seine Logik aufzwingt, sind periodische Zusammenbrüche vorprogrammiert. Die Stromausfälle in den USA im letzten Sommer demonstrieren in dieser Hinsicht recht deutlich den gesellschaftlichen Preis betriebswirtschaftlicher Kostenminimierung bei Infrastrukturunternehmen.
6.
Auch die Nutzung öffentlicher Infrastrukturleistungen kostete und kostet in den meisten Fällen. Wer Wasser und Strom ins Haus bekommt oder Beförderungsleistungen in Anspruch nimmt, hat auch dann zu zahlen, wenn ein öffentliches Unternehmen diese Güter bereitstellt. Die Zahlungsverpflichtung nimmt die Form der Gebühr an. Fällt Infrastruktur dem Markt in die Hände, wechselt die monetäre Beziehungsform und an die Stelle der Gebühr tritt der Preis. Was ändert sich damit? Vor dem Versorgungsauftrag des öffentlichen Unternehmens sind alle gleich. Die Gebühr kennt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Groß- und Kleinverbraucher und sie ist in der Regel über einen längeren Zeitraum konstant. Beim Preis sieht das anders aus. Er präferiert grundsätzlich den Großkunden und zeigt deutliche Schwankungen.
Privatisierung wurde und wird als Entbürokratisierung verkauft. Konkurrenz und Profitorientierung sollen angeblich dafür sorgen, dass sich auf dem Markt schließlich die kundenfreundlichsten Unternehmen mit dem bequemsten Service durchsetzen. Die Konkurrenz der Infrastrukturanbieter nach dem Ende der staatlichen Monopolbetriebe sorgt für ein heilloses Angebots- und Preiswirrwarr. Das Einkaufen von Infrastrukturleistungen wird für den an einem günstigen Preis Interessierten zum Full-Time-Job. Die Ausgliederung von Aufgabenbereiche an Subunternehmen schafft ein Zuständigkeitswirrwarr, das den umstandskrämerischen früheren Staatsbetrieb im Rückblick als Hort von Übersichtlichkeit und Effizienz erscheinen lässt und gelegentlich auch lebensgefährliche Risiken in sich birgt.
7.
Der Kommodifzierungsprozess erfasst auch die Krankenversicherungen und die Altersversorgung. Die Antwort auf die durch die Krise der Arbeitsgesellschaft ausgelöst finanzielle Misere dieser Sozialversicherungen heißt „Eigenverantwortung“, sprich Überantwortung an Marktkräfte. Was zieht diese Zuständigkeitsverlagerung nach sich? Zweierlei liegt auf der Hand. Erstens: wenn aus dem individuellen Arbeitseinkommen bestritten werden soll, was vorher aus Lohnnebenkosten und Steuern finanziert wurde, gehen die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft im Schnitt in die Höhe. Zweitens: viele sind außerstande diese Zusatzausgaben zu tätigen. Das Niveau der Daseinsvorsorge und der akkumulierten Versorgungsansprüche sinkt insbesondere bei der jüngeren Generation dramatisch. Nicht nur Arbeitslosigkeit, auch die beiden anderen Regelrisiken der Arbeitskraftverkäufer-Biographie Alter und Krankheit, reimen sich wieder auf Armut.
8.
Dass der Vormarsch des Marktes in den Bereich der Daseinsvorsorge immer mehr Menschen die Teilhabe erschwert, ist vor allem der sukzessiven Veränderung des Zugangsmodus geschuldet. Die Etablierung des Sozialstaats bedeutete die partielle Entkoppelung von individuellem Beitrag und Leistungsanspruch und gleichzeitig die Zusammenfassung von Menschen mit unterschiedlichen Versicherungsrisiken zu monetären Haftungsgemeinschaften. Der Vormarsch des Marktes beseitigt gerade diese beiden unter dem Schlagwort „Solidargemeinschaft“ gefeierten Qualitäten. Zum einen führt er unweigerlich zur Sortierung nach guten und schlechten Risiken. Menschen müssen die höhere biographische Wahrscheinlichkeit, eine Versicherungsleistung auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen, mit höheren Beiträgen bezahlen. Zum anderen erlaubt es das Äquivalenzprinzip nicht, die gleichen Versicherungsleistungen bei unterschiedlichen Beiträgen zu gewähren. Die umlagefinanzierten Sozialversicherungen kamen vor allem den unteren Einkommensschichten zugute. Deren Bevorzugung fällt dem Vormarsch des Äquivalenzprinzips zum Opfer.
Am deutlichsten tritt dieser Systemwechsel beim Krankenversicherungswesen zu Tage. In Konkurrenz von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen stehen sich letztendlich zwei entgegengesetzte Interpretationen von Gleichheit gegenüber. Die gesetzlichen Krankenversicherungen vertreten das Prinzip gleichen Zugangs für alle Versicherten. Die „Eigenverantwortung“ im Gesundheitswesen verhilft dem heiligen Äquivalenzprinzip zur Geltung. Gesundheit mutiert von einem allgemein zugänglichen Gut zu einer Ware, die man sich auch leisten können muss. Der Trend, Menschen von Gesundheitsleistungen abzuschneiden mag einige Empörung auslösen; mit der zugrunde liegenden Logik kann man indes hierzulande sogar werben. Bis vor kurzem machte jedenfalls eine große deutsche Versicherung mit folgendem Slogan Reklame: „Einem Karies-Bakterium ist es egal, wie viel Sie verdienen. Einer Krankenzusatzversicherung der Allianz auch. “
Was aus dieser Analyse der laufenden Deregulierungsprozesse für die Neubestimmung einer emanzipativen Perspektive folgt, untersucht der zweite, in der nächsten Ausgabe erscheinende, Teil dieses Beitrags.