Naher Osten: Brennpunkt der globalen Paranoia
von Lorenz Glatz
„Der Hass hat sie vergiftet und vergiftet auch uns. Wir werden jeden Tag gleichgültiger gegenüber dem Tod. Von wem auch immer. Sie benutzen ihre Kinder zum Töten, und wir töten ihre Kinder. “ (Abraham Yehoshua, israelischer Schriftsteller am 25.3.04 in La Repubblica)
Die israelische Regierung hat Sheich Jassin, den Gründer und religiösen Führer der Hamas, die für einen Großteil der Selbstmordattentate in Israel verantwortlich zeichnet, samt neun Begleitern ermorden lassen. Auch Israels Premier Sharon ist vermutlich klar, dass dies den Konflikt immens anheizen und auch viele Israelis das Leben kosten wird. Sharon hält den Krieg für so gewinnbar, wie auch Jassin das getan hat. Das ist ein tödlicher Irrtum für alle Gläubigen und für alle, die im Augenblick des Zuschlagens in deren Reichweite sind.
Der Kern des blutigen Irrtums ist die falsche Überzeugung, dass sich mit Israel – Palästina noch Staat machen lässt, ob einen oder zwei, ist dabei nicht der entscheidende Unterschied. Mit Staat machen meine ich die Behauptung ausreichender Kontrolle über ein fixes Territorium und das Bestehen einer Ökonomie, die der Weltmarkt (noch) gelten lässt – anderes lässt sich unter Staat in der heutigen Welt weder verstehen noch praktizieren. Beides ist Israel, soweit es das je hatte, im Begriff zu verlieren, keines von beiden ist für Palästina – ob neben oder statt Israel – noch erreichbar
Das ist einerseits eine Folge der kapitalistischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Diese hat im globalen Maßstab Nationalstaaten aus Organisatoren von Nationalökonomien zu konkurrierenden Standorten transnationaler Betriebswirtschaft degradiert und reduziert so deren Regulierungs- und soziale Gestaltungsmöglichkeiten (wo diese überhaupt bestanden haben) bzw. dementiert sie das der großen Mehrheit der Welt abseits der Metropolen gemachte Entwicklungsversprechen und die darein gesetzten Hoffnungen.
In Zusammenhang damit stehen die dramatisch zunehmenden Schwierigkeiten durch rentable Investitionen noch Geld zu vermehren, was in steigender Arbeitslosigkeit und Verarmung, sozialer Ausgrenzung, unvorstellbaren Schuldenbergen, hemmungslosen Spekulationen, waghalsigen Privatisierungen von Infrastrukturen und rasanter Umweltzerstörung sichtbaren Ausdruck findet. Diese Entwicklung hat große Teile der Welt (bis hin zu weiten Gebieten der Industrieländer selbst) unrentabel gemacht und z. B. in Afrika kaum konstituierte Staaten auch schon wieder in blutige Auflösungskriege gestürzt.
Auch in Israel verarmt ein großer Teil der Bevölkerung rapid, der Staat ist mehr denn je ohne massive Hilfe der jüdischen Diaspora und der USA weder militärisch noch ökonomisch überlebensfähig, die marktwirtschaftliche Lebensweise des Raubbaus an der Natur fährt eben an die Wand. Das Überleben in Palästina hängt wie in mittlerweile sehr vielen Notstandsgebieten für sehr viele Menschen am Tropf humanitärer Hilfe, auch der Aufstand ist von außen finanziert, eine weltmarktökonomische Existenz eines Palästinenserstaates ist am ehesten noch astrologisch darstellbar.
Diese Prozesse haben neben diesen eher allgemeinen Charakteristika in jedem Fall auch noch eine spezielle Verlaufsform. So bedroht im Nahen Osten jede von der allgemeinen Entwicklung verursachte Instabilität die Verfügbarkeit des Erdöls, des Lebenssafts der wankenden Weltwirtschaft, und zieht daher unweigerlich und unmittelbar massive Einmischungen der (keineswegs einmütigen) Diplomatie und Kriegsmacht der Weltgendarmerie unter der Ägide der Supermacht USA nach sich, die mit immer mehr Aufwand und Realitätsverweigerung „business as usual“ simulieren.
Außerdem ist Israel seit seiner Gründung nie über seine Frontstellung gegen die arabischen Staaten hinausgekommen, sondern der Konflikt ist im Zuge der allgemeinen Weltkrise gefährlich vertieft und ausgeweitet worden. Ausgeweitet, insofern Israel (zusammen mit den USA) zum Satan der wachsenden Zahl (selbst)mordbereiter Islamisten geworden ist, was auch seine innere Sicherheit empfindlich unterminiert. Gefährlich vertieft wurde der Konflikt, indem die Israel-USA-Connection zur Projektionsfläche für den weltweit zunehmenden Antisemitismus geworden ist. Diesen treibt die drohende oder schon erlittene „ungerechte“ Niederlage in der durchdringenden warengesellschaftlichen Wahnsinns-Konkurrenz zur zuletzt mörderischen Kritik am „ungerechten Mammon“, der als „jüdisch“ personalisiert wird und mit allen Mitteln vernichtet werden soll. Diese Art Kapitalismus-Kritik hat offene Grenzen zu einer weiten Palette verwandter Vorstellungen, die auch bei Kriegsgegnern und Antiimperialisten verbeitet sind und allesamt durch die Personalisierung und Moralisierung des Kapitalverhältnisses an Stelle einer grundsätzlichen Kritik an Ware, Geld, Kapital, Arbeit und Staat gekennzeichnet sind.
In Zeiten der Zersetzung der warengesellschaftlichen und der auf ihr gegründeten modern-staatlichen Weltordnung ist für jede Lebensweise, die von diesen Kategorien bestimmt ist, Nieder- und Untergang vorgezeichnet. Immanente Auswege und Alternativen sind verstellt, wer um sie kämpft, verstrickt sich in Mord und Totschlag. „Zivilisation und Barbarei“, „Imperialismus und Befreiungskampf“ werden gleich unangemessen, paranoid und tödlich. Der Nahe Osten wird so zum Brennpunkt des perspektivlosen und menschenverachtenden Schlachtens gegensätzlicher fundamentalistischer Paranoia verschiedenster Provenienz, die mit jedem Akt die Katastrophe des nächsten auslöst.
Wer gegen diesen Crashkurs für das bedrohte Leben der Menschen an Ort und Stelle über die aufgezwungenen Fronten hinweg eintritt und entgegen den politischen, religiösen, kulturellen etc. Verboten und Geboten im Alltag kooperiert wie die vielgestaltige israelische Friedensbewegung und etliche wahrlich mutige PalästinenserInnen es tun, hält die Aussicht auf Besserung offen, verdient bei allen Einwänden, die eins haben mag, die Unterstützung aller, die sich über den Rand des etablierten Wahnsinns zu blicken bemühen.
(einige Adressen solcher Gruppen finden sich unter den Angaben auf: www.ariga.com/humanrights; vgl auch: „Jüdischer Staat und Befreiung Palästinas. Konzepte ohne Perspektive“ in: Streifzüge 2/2002 und die Verweise dort)