Knappheit
Eine Realabstraktion
Streifzüge 32/2004
KOLUMNE Immaterial World
von Stefan Meretz
Die freie Enzyklopädie Wikipedia (de.wikipedia.org) definiert Knappheit als „das (zu) seltene Vorkommen angestrebter materieller oder ideeller Güter/Werte“. Die Klammer verrät die Unsicherheit bzw. das Ambivalente dieser Definition: Handelt es sich um ein „absolut“ seltenes Vorkommen oder bemisst sich Seltenheit an einem Bedarf, mithin am Stand gesellschaftlicher Bedürfnisse? Ist „Knappheit“ also ein ontischer oder ein gesellschaftstheoretischer Begriff?
„Seltenheit“ und damit auch „Knappheit“ sind offensichtlich relationale Begriffe: Selten – in Bezug worauf? Knapp – für wen? Dennoch wird „Knappheit“ häufig als vermeintliche Seinsbestimmung einer Sache verwendet: das knappe Öl, die knappe Zeit etc. Verrückt wird die Angelegenheit, wenn es um hergestellte Güter geht. Güter, die als Waren hergestellt werden, werden nur hergestellt, weil sie knapp sind, denn nur dann sind sie verkaufbar: „Verwertung braucht Knappheit“ (Nuss, S., Heinrich, M., Freie Software und Kapitalismus, Streifzüge 1/2002, 39-43). Die Knappheit, die Verwertungs- also Produktionsvoraussetzung ist, muss gleichsam mitgeschaffen werden, damit überhaupt Güter produziert werden, die jedoch die Knappheit nie beseitigen können, weil sie sonst nicht produziert würden. Verwundert stellen Theoretiker/innen fest, dass wir in Zeiten des Überflusses in einem „Zeitalter der Knappheit“ (Wallimann/Dobkowski) leben. Da sie jedoch Knappheit ontisch und nicht als Resultat der Herstellung von Gütern als Waren, mithin nicht als gesellschaftlich hergestellt begreifen können, prallen Überfluss und Knappheit wie zwei unerklärliche Mysterien aufeinander.
Den Gipfel der Verrücktheit erreichen wir schließlich bei Informationsgütern, die zwar eines stofflichen Trägers bedürfen, selbst aber unstofflich und damit genuin unbegrenzt sind. Hier hilft nur blanke Gewalt, um sie „knapp“ zu machen, trete sie in vermittelt rechtlicher oder unmittelbar physischer Form auf.
Sortieren wir neu: Vorkommen, Begrenztheit, Knappheit – so lautet eine sinnvolle Unterscheidung, entwickelt im Oekonux-Projekt (www.oekonux.de). Ein Gut kommt vor oder nicht – unabhängig davon, ob wir es brauchen oder nicht. Das Vorkommen kennt ein absolutes Maß. Auf der Erde gibt es Rohstoffe fester Menge. Verleiht man dem Begriff ein zeitliches Maß, so ist er auch auf hergestellte Güter übertragbar: In Wien gibt es soundsoviele Fahrräder. Die Apfelernte erbrachte soundsoviele Tonnen.
Die Reichlichkeit oder Begrenztheit stellt ein Verhältnis her zwischen der Verfügbarkeit eines Gutes und den Bedürfnissen der Menschen, dieses zu erhalten und zu benutzen. Gemessen am Bedarf, kann ein Gut in zu geringer Menge vorkommen. Solche Begrenzungen können abgestellt werden. Vom gewünschten Gut kann mehr hergestellt werden. Mit neuen Technologien können vormals unzugängliche Rohstoffe gefördert werden, oder das Bedürfnis wird mit Produkten befriedigt, die eben jenen begrenzten Rohstoff nicht erfordern. Im nächsten Monat können mehr Fahrräder hergestellt werden. In einigen Jahr geben die neu gepfanzten Apfelbäume mehr Äpfel. Produktion von Lebensmitteln im allgemeinen Sinne bedeutet immer, gesellschaftlich mit Begrenzungen umzugehen.
Eine besondere Form des Umgangs mit Begrenzungen ist die Warenproduktion. Genau besehen löst sie die Verfügbarkeit eines Gutes vom Vorkommen und von Begrenzungen ab. Eine Ware darf nicht frei verfügbar sein, sonst ist sie keine, sie muss knapp sein. Ist sie nicht knapp, wird sie knapp gemacht: weggeschlossen, verschlechtert, vernichtet. Knappheit ist eine geschaffene, soziale Form der Warenproduktion, eine Realabstraktion. Sie abstrahiert von wirklichen Begrenztheiten und Vorkommen, um daraus die real wirksame „Form Knappheit“ zu machen. Die soziale „Form Knappheit“ produziert die Paradoxie des Mangels im Überfluss. Da abgelöst vom wirklichen Vorkommen, kann sie auch nicht nachhaltig sein. Sie ist geradezu das Gegenteil, denn sie zerstört Vorkommen. Die Warenproduktion kann Begrenzungen daher auch nicht wirklich begegnen. Anstatt Begrenzungen zu überwinden, muss sie Begrenzung zunächst in Knappheit transformieren, um sie dann zu perpetuieren. Dies gilt für Nahrungsmittel und Bodenschätze, für Industriegüter, für Arbeitskraft und im besonderen Maße für menschliche Kreativität.
Die Ideologie der Knappheit kann durchaus auf reale Begrenzungen verweisen, aber es ist eine Mär, dass Begrenzung Knappheit ist. Begrenzungen können überwunden werden, Knappheiten nicht. Mit Begrenzungen ist die Menschheit schon immer umgegangen, mit Knappheiten schlägt sie sich erst seit den Zeiten des Kapitalismus herum.
Die Abschaffung der „Form Knappheit“ ist eine Schlüsselfrage der weiteren Menschheitsentwicklung. Denn das wäre die Voraussetzung, sich ernsthaft – global und nachhaltig – dem Umgang mit Begrenzungen zuwenden zu können. Das ist nicht weniger als die Frage nach neuen gesellschaftlichen Kooperations- und Vermittlungsformen: Stellt sich die gesellschaftliche Kooperation und Vermittlung „blind“ und „paradox“ als automatische Warenproduktion her, die Knappheit perpetuiert, oder stellen wir eine Kooperations- und Vermittlungsform her, in der es möglich ist, sich mit Begrenzungen zu befassen? Hierbei – und das ist das Spannende – zeigt der Bereich der nichtstofflichen Informationsgüter paradigmatisch auf, was machbar wäre. Dort fehlt nämlich das „naturale Fundament“ von Knappheit, denn Informationsgüter sind genuin unbegrenzt. Sie müssen erst mit Gewalt verknappt werden, um sie in Warenform pressen zu können.
Diesen Umstand hat sich die Bewegung Freier Software zu Nutze gemacht. Mit Hilfe von Lizenzen, die Verknappung verhindern, wird das Gut „Software“ allgemein verfügbar und somit verwertungsunfähig gehalten. Das schließt nicht aus, dass die Software im „Bundle“ mit anderen Leistungen einen Preis haben kann. Es ist jedoch verfehlt, im „unentgeltlichen Nutzen“ von Software das Wesentliche Freier Software zu sehen. Die Bewegung Freier Software ist in ihrem Kern eine soziale Form mit Begrenzungen umzugehen, die nicht Knappheit re/produziert. Das ist ein wesentlich radikalerer, weil paradigmatischer Eingriff in die Logik der Warenform als ein Etikett „kostenlos“ auf einer Ware, die ihre Form nicht ändert.