Ratlos unzufrieden
1 Beobachtung und 8 Behauptungen zur Frage, warum es eine gute Zukunft nur jenseits von Markt und Staat geben kann
Streifzüge 2/2003
von Lorenz Glatz
(Beitrag zum Workshop „Jenseits von Markt und Staat – Perspektiven radikaler Transformati-on“ am Austrian Social Forum in Hallein am 31.5.03)
Zu Beginn eine Beobachtung: Soviel Unzufriedenheit war schon seit Jahrzehnten nicht. So viel Ratlosigkeit auch nicht. Seit einigen Jahren schon gehen auch in den so genannten reichen Ländern Millionen Menschen gegen die kapitalistische Glo-balisierung und gegen die steigenden Zumutungen der herrschenden Lebens- und Wirtschaftsweise auf die Straßen, Gewerk-schaften haben ihre Mitglieder zu großen Streiks und anderen Kampfmaßnahmen aufgerufen und tun das weiterhin – und doch wird eine soziale Errungenschaft nach der anderen demontiert, verfallen Lohnniveau und Arbeitsrecht, nehmen Arbeitslosig-keit und Armut zu, bleibt vom Staat immer mehr nur der (allein noch wachsende) Kontroll- und Unterdrückungsapparat. Doch nun zu den Behauptungen:
1. Ob die Linke oder die Rechte regiert, ist von rasant abnehmender Wichtigkeit.
Alle, die im politischen Geschäft für die Macht in Frage kommen, sind für Reformen und verstehen darunter ein Vorhaben, das einer gefährlichen Drohung gleichkommt. Dass „die Konkurrenz härter“ wird, dass wir „Haare lassen“ müssen, dass „abge-speckt“, dass „Privilegien abgebaut“ werden müssen, ist in diesen Kreisen allgemeines Credo. Wer das bezweifelt, wird – je nach den Umständen – belächelt oder attackiert. Der Unterschied zwischen der sozialen Entwicklung unter einer Regierung von Schüssel, Chirac oder Berlusconi auf der einen und Schröder-Fischer und Blair auf der anderen Seite ist marginal. Auch hier-zulande herrscht hinter dem lautstarken Streit der Sozialpartner, der Regierung und der Opposition viel grundsätzliche Einig-keit, aus der auch keiner der Beteiligten ein Hehl macht. Schließlich kann ja keiner der Regierung ernsthaft vorwerfen, dass sie ein Budget machen will und angesichts rapid sich leerenden Kassen damit Probleme hat.
Die Radikaleren – ich meine die politische Opposition fernab der Macht – rechnen vor, dass „genug Geld“ da ist, dass es nur anders verteilt und eingesetzt gehört, um seine wohlstandsfördernde Wirkung zu entfalten, dass es eine „andere Politik“ braucht, „wirklich demokratische“ Machtverhältnisse – dann könne sich alles wieder in Wohlgefallen auflösen. Das weite Spektrum dieser Leute reicht von den Gewerkschaftslinken bis zur Folklore-Truppe der Rest M-L. Der eine oder andere junge Mensch aus diesen Kreisen kommt schließlich nicht nur in die Jahre, sondern vielleicht doch noch zu Amt und Würden. Dann allerdings liegt die Erkenntnis, dass „die Märkte“ die Verwirklichung seiner Jugendträume nicht tolerieren, und seine Bekeh-rung zur Konfession der Reformer sicherlich schon hinter ihm.
2. Regierungen reagieren immer heftiger, regeln aber immer weniger.
Der Nationalstaat entwickelte sich als ideeller Gesamtkapitalist. Als solcher hat er einerseits mit allen seinen Mitteln das Leben auf seinem Gebiet für die Verwertung herzurichten und andererseits mit Recht und Gesetz auch dafür zu sorgen, dass diese Verwertung nicht das Leben und damit zugleich die eigene Grundlage blindwütig zerstört.
Zumindest die zweite Aufgabe bleibt immer häufiger unerfüllt. Die entscheidenden Agenten in der heutigen Weltwirt-schaft sind nämlich Großkonzerne, die jedoch keine Verschwörung, Entartung oder dergleichen sind, sondern das völlig logi-sche Ergebnis marktwirtschaftlicher Entwicklung unter dem Diktat der Konkurrenz. Diese Global players sind aber nicht nati-onal, auch nicht mehr multinational, sondern wesentlich transnational und global. Sie herrschen nicht einfach in Wirtschafts-zweigen vieler Nationalökonomien, sondern sie organisieren den betriebswirtschaftlichen Prozess, die Produktion einzelner Güter, über die nationalen Regelbereiche hinweg für den Weltmarkt. Sie haben den Rahmen der Nationalstaaten gesprengt, auf deren Boden und in deren Schranken sie sich entwickelt haben, und degradieren so jene zu Standorten. Mit nicht unbeträchtli-chen Auswirkungen: Nicht die global players zahlen Abgaben an die Standorte, sondern diese konkurrieren mit Geldgeschen-ken um die Investitionen der Transnationalen und trocknen damit die eignen Kassen aus. Nicht die Staaten erteilen den Welt-konzernen Auflagen, sondern diese goutieren die geschäftliche Qualität von deren Angeboten. Global players, die anders han-deln würden, sind binnen kürzestem keine mehr, Nationalstaaten, die sich dem nicht fügen, sind dann nicht einmal mehr Standorte.
Die Standortkonkurrenz ist als lokaler Wettbewerb der Gemeinden, Städte und Provinzen eine alte Erscheinung. Die Ein-beziehung der Nationalstaaten in diese Konkurrenz hat jedoch eine neue Qualität. Die globalisierte Wirtschaft hat sich damit jene Instanz untergeordnet, die – solange sie noch Schranken setzen konnte – allein fähig war, das im Grund lebensfeindliche, zu einem Zwangsautomatismus gewordene Prinzip der Verwertung für das menschliche Leben und überhaupt für das Leben auf diesem Planeten irgendwie aushaltbar zu machen. Wenn Staaten nicht mehr in dieser Weise das Wirtschaftsgeschehen regulieren können, sondern bloß noch Teil der Konkurrenz der Anbieter von Infrakstrukturen aller Art sind, dann ist Liberali-sierung, sprich der Abbau von Regulativen und Schutzbestimmungen, nicht mehr eine politische Option unter anderen, son-dern ein Erfordernis des Überlebens im Konkurrenzkampf.
Hiebei sind die Gestaltungsmöglichkeiten der Regierungen denkbar gering. Was der Politik bleibt, ist die systematische Opferung von Mensch und Natur auf dem Altar der Verwertung und die Brechung jedes Widerstands der betroffenen Men-schen durch Desinformation, Hetze, Kontrolle und offene Unterdrückung. Wobei es durchaus hilfreich ist, dass die Politiker im Allgemeinen den Schwachsinn, den sie verbreiten, auch selber glauben und die von den leeren Kassen diktierten sozialen Ein-schnitte tatsächlich für Rettungsmaßnahmen halten.
Die Globalisierung bringt die Staaten einander näher, aber keineswegs für die Entwicklung zu einem Weltstaat als einem neuen Regulationsrahmen der globalisierten Ökonomie, sondern – in der Art der WTO und des MAI – für den organisierten Abbau alles dessen, was an staatlicher Regulierung noch übrig ist. Dementsprechung ist die Entwicklung der letzten Jahre nicht von der Vereinigung kleiner Staaten zu großen, sondern von der Aufsplitterung großer in kleine, oft kaum mehr Staaten zu nennenden Gebilde geprägt. Auch die EU kann und will auch gar nicht im Sinn einer Reregulierung agieren, sondern ist, der ökonomischen Realität folgend, eine Agentur der länderübergreifenden Deregulierung und Liberalisierung..
3. Der Realsozialismus ist der Marktwirtschaft nur in den Tod vorangegangen.
Die spektakuläre Implosion des Realsozialismus vor bald anderthalb Jahrzehnten hat sich nicht als Sieg der Marktwirt-schaft, sondern als Beginn des Zerfalls der auf Ware und Geld beruhenden Weltwirtschaft herausgestellt. Die so genannte Systemkonkurrenz hat für die Teilnehmer das Wesentliche verdeckt: „Realsozialismus“ und „soziale Marktwirtschaft“ waren bloß zwei Varianten einer zugrunde liegenden Gemeinsamkeit: Hüben wie drüben ging bzw. geht es nicht um die Herstellung von Gütern für menschliche Lebensbedürfnisse, sondern um die Produktion von Waren für den Verkauf um Geld, was keines-wegs dasselbe ist, wie z. B. jeder Wohnungssuchende unschwer feststellen kann. Es ging und geht um die Behauptung in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt, um die Vernutzung von menschlicher Arbeit für ökonomisches Wachstum, um die Rentabili-tät von Investitionen, kurz: um die Wertvermehrung eingesetzten Kapitals, um die „Verwertung des Werts“, in der menschli-ches Leben nie der Zweck, sondern das Mittel ist.
In der Praxis ist es im Realsozialismus nicht um eine grundlegende Alternative zum westlichen Kapitalismus gegangen, sondern um den Versuch, den Rückstand der in der Entwicklung der modernen Geldgesellschaft zu spät Gekommenen mit der Bündelung aller Kräfte durch den Staat aufzuholen. Die KP-Regime vertraten in der Theorie selten, in der Praxis nie eine grundlegend andere Art zu leben und zu wirtschaften. Sie fungierten nicht nur als ideelle Gesamtkapitalisten wie die Staatsap-parate im Westen, sondern zugleich auch als reelle. Ihre Entmachtung war daher auch – durchaus zur Überraschung vieler Zeitgenossen – nicht das Ergebnis eines scharfen politischen Kampfs. Sie wurden vielmehr von den Märkten „gewogen und für zu leicht befunden“ – sie sind schlicht „entwertet“ worden. In der neuzeitlichen Waren- und Geldgesellschaft gilt auch im Gesamten wie in vielen einzelnen Firmen das Prinzip: last in – first out, und Gorbatschows berühmter Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ hat sich daher gerade auch gegen seinen Urheber gewandt.
4. Die Wirtschaft globalisiert sich nicht nur, sie verfällt zugleich.
Der Bankrott des Staatssozialismus im ökonomischen Weltsystem hat im vermeintlich siegreichen, in Wahrheit bloß über-lebenden Westen mehr der Spekulation Auftrieb gegeben als der Realwirtschaft. Heute ist der Osten weitgehend deindustriali-siert, weite Gebiete der Ex-Sowjetunion sind ökonomisch abgeschrieben, was sich noch verwerten lässt, wird eingegliedert ins globalisierte Kapital. Weite Teile Afrikas sind von der Landkarte der Weltökonomie verschwunden, Südamerika steckt in einer ausweglosen Schuldenkrise. Doch auch das einstige Musterland der Marktwirtschaft, Japan, kommt seit über zehn Jahren aus Rezession und Stagnation nicht heraus, und die gefürchteten und bewunderten ostasiatischen Tiger sind noch im Sprung zu Papier erstarrt. Derzeit gehen auch EU und USA auf eine Rezession zu, während Experten und Politiker uns weiter – wie seit drei Jahren schon – den Aufschwung fürs nächste oder übernächste Quartal verheißen.
Die Ursache der Krisenerscheinungen der letzten Jahrzehnte war weder die „Kommandowirtschaft“ des Ostens noch ist es Korruption und Unfähigkeit, sondern das unaufhaltsame Einbrechen des kapitalistischen Wachstums. Die Dynamik der letzten Blütezeit der modernen Warenwirtschaft in beiderlei Gestalten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist zum Erlie-gen gekommen. Die „Automobilisierung“ der Welt, die Maschinisierung der atomisierten Haushalte und die Möglichkeiten des Fließbandes haben sich erschöpft, Unternehmen und Staaten in aller Welt haben mit Krediten und Anleihen „durchzutauschen“ und eine neue Welle des Wachstums anzustoßen versucht – es war vergeblich, geblieben ist ihnen davon bloß ein weiter wach-sender Schuldenberg. Die neue Technologie der Mikroelektronik hat allen Erwartungen und Versprechungen zum Trotz keinen neuen Akkumulationsschub ausgelöst. Die durch sie bewirkte sprunghafte Zunahme der Produktivität übertrifft auf Dauer und bei weitem die noch möglichen Produktionssteigerungen. Die Computerisierung macht produktive Arbeit in weit höherem Maß überflüssig, als neue geschaffen werden kann. Vom PC bis zur neuesten Handy-Generation findet sich nicht im entfern-testen eine Produktpalette, die trotz der mit allen Mitteln neu geschaffenen Bedürfnisse der Wertschöpfung der Auto- und Haushaltsgeräteindustrie der Fünfziger- und Sechzigerjahre auch nur irgendwie vergleichbar wäre.
Die Vermehrung des eingesetzten Werts in der Produktion ist jedoch das Herzstück der Profitwirtschaft – ohne sie gibt es keine rentablen Investitionen. Mit Schuldenmachen und Spekulation wird noch auf erhoffte zukünftige Verwertung vorgegrif-fen, wenn diese aber nicht eintrifft, werden die Kredite faul, platzen die Spekulationsblasen, die Börsen gehen in den Sinkflug, Firmen bankrottieren, die Marktwirtschaft erlebt den (Salami)Crash.
Für unsereine(n) bedeutet das z. B. , dass etliche hier im Raum kapitalistisch gesehen überflüssig sind und sich bei Stellen-bewerbungen für irgendeine Arbeit (Hauptsache Arbeit! ) oder auch nur auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz mit x anderen für x Zehntel Chancen duellieren müssen. Da es jedoch nie wieder Vollbeschäftigung geben wird und die Menge der Überzähligen ziemlich rasch zunimmt, dürften sie auch in unserem Kreis nur noch mehr werden. Wer „drin“ bleiben will, muss es billiger geben, und auch wer Rente hat, hat die mit Sicherheit nicht sicher. So klar will sich das kaum wer machen, auch wenn es viele spüren, dass wir in einer Zeit des Verfalls einer weltbeherrschenden Lebensweise leben. Trotzdem haben wir Angst davor, uns das auch einzugestehen – es ist daher durchaus folgerichtig, dass Depression in den letzten Jahren drauf und dran ist, zu der weitest verbreiteten Krankheit zu werden.
5. Umweltschutz schadet der Wirtschaft, Sinnfragen gefährden Arbeits-Moral und positives Denken.
Umweltschutz schadet der Wirtschaft – Wenn Präsident Bush eine Erkenntnis hat, spricht er sie auch aus. Seine Kollegen auf dem Rest der Welt haben die Erkenntnis auch, behalten sie aber für sich. Handeln tun sie alle danach. Die Marktwirtschaft funktioniert so, dass sie ihre Kosten auslagert, an die Natur und an die Menschen. Nicht erst seit unsere Landschaften verbeto-niert, die Atmosphäre aufgeheizt, Luft und Boden zunehmend vergiftet sind und mensch an Depression und Karoshi zugrunde geht, sondern von allem Anbeginn. In den Hochzeiten der Regulation durfte aber bei uns weniger geschmutzt werden, dafür in den ökonomisch schwächeren Ländern umso mehr. Ja manche Ostländer und Drittweltstaaten haben sich förmlich um den hochentwickelten Dreck (ob Produktionen oder Abfall) aus EU und USA gerissen, weil er schließlich Arbeitsplätze brachte. Der Abstand ist vielleicht geblieben – bei steigendem Niveau des Gifts. Denn heute ist es auch in den Kernländern der Profit-macherei recht still geworden um die Ökologie, selbst bei den Grünen. Wer sich einen durchschnittlichen heutigen Arbeitsplatz antut oder antun muss, kann nur mehr schwer etwas Empörendes daran finden, dass es der Umwelt ähnlich bescheiden geht wie einem/r selbst. Und dass alles auf unsereins zurückschlägt, ist eh kaum wem neu.
Wer weiß z. B. nicht oder kann nicht wissen, dass die Autos uns umbringen werden, und doch hängt unser Leben dran, dass es vergiftet wird. Es ist auch kein Geheimnis, dass Allergien und neue Seuchen das Ergebnis unserer giftigen Produktionsweise im allgemeinen und der unserer Nahrungsmittel im besonderen sind – wer aber kann und will sich schon was andres leisten? Tagtäglich dröhnen, stinken und gifteln auf den Autobahnen die Lkw aneinander vorbei, die Gleiches von A nach B und Eben-solches von B nach A führen. Gigantische Warenströme werden kreuz und quer um den Globus gekarrt, geschifft, geflogen, von keiner auf Mensch und Natur bezognen Überlegung geleitet, sondern nur von Preisimpulsen und Gewinnerwartungen, gleich was es Mensch und Natur auch kosten mag. Menschliche Lebenszeit wird verheizt für Arbeit, und die wird bezahlt. Für Geld wird konsumiert, was im Angeobt ist. Mehr ist nicht drin und auch nicht vorgesehen! Wer der Frage nachgeht, ob das, was getan wird, sinnvoll ist, ob es wem gut tut, wem schadet, im Interesse von Menschen besser unterbliebe, unnütz ist und wer wofür verantwortlich ist, der ist von einem andern Stern und/oder riskiert seine Arbeitsmoral, seine Selbstachtung als arbeitender Mensch und sein seelisches Gleichgewicht – Indolenz und permanente Anästhesie gehören zu den Voraussetzungen für die Bewältigung dieses Lebens.
6. Wo die Wirtschaft stillsteht, führt der Zwang zum Geldhaben schnell in die Barbarei.
Die Kapitalakkumulation stockt, die Geschäfte gehen schlecht. Die Zahl der Arbeit suchenden Migranten an den scharf bewachten Grenzen der Festungen Europa und USA schwillt an. Aber auch drinnen wächst die Zahl der Arbeitslosen und wird ihre Schikanierung schärfer, leidet die Unterstützung Schwindsucht. Es wird jedoch wenig darüber gesprochen, denn in dieser Gesellschaft ist es ein Makel, wenn eins sich nicht verkaufen kann, ein Verbrechen, wenn man es nicht unermüdlich weiter versucht oder gar nicht so recht mehr will. In vielen Gebieten der Welt geht die Landflucht, der Verlust agrarischer Selbster-haltungspotenz, ungebrochen weiter. Da zwischen dem Bedarf des Überlebens und seiner Deckung der Geldzwang steht, wer-den die Aktivitäten der Überlebenswilligen immer prekärer.
Die Dienstleistungsgesellschaft wird weltweit wahr. Wer noch im Hamsterrad der regelrechten Arbeit weiterlaufen darf, hat sie zur Verfügung – von der Schuhputzerin bis zum Stricher, vom Einkaufstaschenträger bis zur Lebensberaterin. Und wer sonst nichts zu verkaufen hat, verkauft als Bettler gutes Gewissen für die Spender oder ganz physisch eine Niere für die Ge-sundheit eines Käufers.
Andererseits wuchert die organisierte Kriminalität über das in den Kapitalismus traditionell integrierte (hohe) Maß hinaus. Menschenschmuggel, Frauen- und Drogenhandel gehören zu den größten Wirtschaftszweigen. Auf ihrem Erfolg auf den (wie lange noch ergiebigen? ) schwarzen Märkten Westeuropas und Amerikas beruht das Überleben weiter Landstriche der soge-nannten Dritten Welt und Osteuropas.
Wo im Niedergang des Weltsystems Staaten verfallen, verschmelzen Apparat und Mafia, und die Ökonomie rastet aus in Raubmord und in Plünderung von allem, was sich noch verwerten lässt. Ob Industrieanlagen, ob Fernseher, Waschmaschinen oder Mobiliar, alles findet seinen Weg auf Märkte, solange es noch Kaufkraft gibt.
Im Zerfall wird Überleben mehr denn je das Metier der Frauen. Die Männerrolle der abstrakten, auf Gelderwerb abgestel-len, sonst gleichgültigen Arbeit ist in vielen Gegenden des Planeten nicht mehr zu besetzen. Das Patriarchat dreht durch, wird nichts als destruktiv. Die Youngsters in den Gangs der Slums Amerikas, die mit Drogen vollgepumpten Schlächterbuben der Räubermilizen auf der ökonomisch ausgebrannten Erde Afrikas, Asiens und wer weiß, wo bald sonst noch, sind das letzte Wort der Marktwirtschaft und ihrer Form des Männerherrschaft.
Völlig abgehoben von jeder Perspektive dieser Welt agieren als Endstadium dieses Auflösungsprozesses schließlich die diversen Selbstmordtrupps und sonstigen Terroristen als die perspektivlosen „Rächer der Enterbten“.
7. Sicherheitshalber wird kontrolliert, eingesperrt, bombardiert und besetzt
Die Globalisierungsgewinnler oder die sich dafür halten wollen, und die Ordnungshüter dieser Welt nehmen den Verfall des Systems von Geld und Ware vor allem als Sicherheitsproblem wahr. Umutsäußerungen und Widerstandsregungen werden verhetzt und kriminalisiert. Die aus der Bauart des Kapitalismus selbst entstehenden weltweiten gesellschaftlichen Zerset-zungserscheinungen – von der Kriminalität bis hin zu den Terroranschlägen – werden als das Werk finsterer, aus der Vergan-genheit oder sonstwo von außen kommender Mächte interpretiert. Die Integrationskraft des Systems für seine Dissidenten ist weitgehend erloschen, was bleibt, sind Unterdrückung, Bespitzelung und andere Methoden der Geheimpolizei, die dank der Möglichkeiten der Mikroelektronik zu einer Überwachung der ganzen Bevölkerung ausgedehnt werden.
Gegen die Verlotterung und Brutalisierung des Alltagslebens und die darin vielerorts allgegenwärtige Kriminalität wird nach einer Politik der Nulltoleranz gerufen. In der Führungsnation der westlichen Welt sind (auch pro Kopf der Bevölkerung) mehr Menschen inhaftiert als in beliebigen Militärdiktaturen je waren. Auch hierzulande geht die Zahl vor allem jugendlicher Häftlinge steil nach oben.
Die übriggebliebene Supermacht USA vergattert den zerstrittenen und widerspenstigen Haufen der subalternen „Ord-nungsmächte“ aller Länder zum Kampf gegen die drohende Auflösung der Weltordnung ins Chaos. Auf dem Spiel stehen dabei nicht einfach die Geschäftsmöglichkeiten dieses oder jenen nationalen Kapitals, sondern der globalisierte Verwertungs-zusammenhang im Ganzen. Drohung, Embargo, Bombardement und Besetzung gehören zum Repertoire, mit dem die USA nach dem Ende des modernen Völkerrechts souveränder Staaten sicherstellen wollen, was noch zu verwerten ist, und alle(s) ruhig zu stellen hoffen, notfalls zu vernichten suchen, woraus sich kein Geld mehr machen lässt. Die Gegner sind nicht mehr Konkurrenten, die es niederzuringen gälte. In einer Welt, die für jeden Investor den roten Teppich aufrollt, gibt es auch kein verschlossenes Land mehr, das man für die Segnungen des Kapitals erst öffnen müsste, sondern die Feinde, gegen die ins Feld gezogen wird, sind die „Krisengespenster“ des einen Weltsystems: funktionslos gewordene Regime aus dem Kalten Krieg, unbotmäßige Warlords und – immer bedrohlicher und militärisch nicht zu greifen – der blanke Terror, das paranoide Spiegel-bild eines nicht weniger paranoiden Systems der selbstzweckhaften Geldvermehrung.
8. Die Perspektive liegt jenseits von Markt und Staat: Kooperation statt Konkurrenz. Leben statt „Arbeit“. Mensch statt Profit
200 Jahre nach der endgültigen Durchsetzung des Kapitalismus scheint jeder Gedanke, der über dessen Grundlagen und Grundbegriffe hinausreicht, physisch ausgerottet und intellektuell-moralisch diskreditiert. Daher bleiben auch die Gedanken vieler, die den aktuellen Kapitalismus oft mit starken Worten kritisieren, doch in seinem Bann und sind auf eine Reparatur abgestellt, auf ein aussichtsloses Zurück in die Zeiten, wo die Marktwirtschaft angeblich noch sozial und der Sozialismus noch einer war (eine Auffassung, die m. E. zumindest eine eurozentristische Borniertheit ist).
Was wir brauchen, ist eine grundlegende Umgestaltung, deren Ansatzpunkte sich aus dem ergeben, worunter wir zu leiden haben. Versuche, diese Ansatzpunkte praktisch auszubauen, können viel dazu beitragen, die eingangs erwähnte Unzufrieden-heit aus ihrer Ratlosigkeit zu führen.
Der Kampf gegen die steigende Flut sozialer und ökologischer Zumutungen ist als Kampf um Arbeitsplätze, Arbeitsbedin-gungen, Einkommen, Staatsausgaben und Regulationen nicht zu gewinnen, weil der Boden von Staat, Arbeit, Markt etc. , auf dem diese Ausenandersetzungen geführt werden müssen, gleichzeitig wegbricht (und dieser positiv besetzte Gesamtzusam-menhang für die Mehrheit der Menschen auf der Welt schon immer eine Katastrophe war).
Es ist absolut lebensgefährlich geworden, die Existenz der menschlichen Gesellschaft weiter vom blindwütigen Prozess der Verwertung und von diesem dienstbaren staatlichen Institutionen bestimmen zu lassen, menschliches Leben davon abzu-hängig zu machen, ob sich investiertes Kapital noch vermehren lässt und das Wohl und Wehe von Menschen davon entschei-den zu lassen, ob eins noch imstande ist, durch irgendeine „Arbeit“ zu diesem Prozess irgendwie beizutragen. Der Ruf nach „mehr Demokratie“, „Wir wollen Arbeit“ – Sprechchöre und Pensionssicherungs-Streiks, „damit es so bleibt wie bisher“, dro-hen allmählich zu einer autoaggressiven Selbstpersiflage der Beteiligten zu werden.
Der Kampf hat dann eine Perspektive, wenn die Ansprüche sich nicht auf Geld und das Verlangen staatlicher Regulierun-gen beschränken, sondern den Zugang zu stoffllichen Ressourcen und die autonome Gestaltung menschlicher Lebenszeit ins Auge fassen. Rentabilität und Finanzierbarkeit sind als Kriterien zu demontieren, als widersinnig, ökologisch verheerend und selbst die einfachsten menschlichen Überlebensbedürfnisse ignorierend anzugreifen. Es gilt die Frage zu stellen und zum Ge-genstand einer breiten Auseinanderzusetzung zu machen, was ein „Gutes Leben“ ist, was wir dazu brauchen und tun müssen und zunächst einmal und vor allem: was wir dafür auf keinen Fall länger tun und verschwenden dürfen.
Wir sind inmitten einer blind globalisierten Gesellschaft atomisierte, von Konkurrenz gespaltene Arbeitende und Konsu-menten, die in erster Linie durch Geld- und Arbeitsbeziehungen miteinander in Kontakt stehen und nur ausnahmsweie und vorübergehend gemeinsame Interessen vertreten. Wir werden zunehmend hilfloser, weil wir zunehmd überflüssig sind und ausgeschlossen werden vom Zugang selbst zum Nötigsten.
Kraft kann eine Bewegung gegen diese Entwicklung dann gewinnen, wenn sie nicht bloß Forderungen an Staat und Unter-nehmen stellt, sondern selber konkrete Schritte unternimmt, den wert-vermittelten (Geld, Warenkonsum, Konkurrenz etc. ) gesellschaftlichen Zusammenhang in einen direkten, kommunikativen, persönlichen und persönlich verantworteten zu verwan-deln; wenn sie sich daran macht, die für ein „Gutes Leben“ nötigen, heute von der Verwertung beschlagnahmten und vergeu-deten bzw. stillgeleten materiellen und geistigen Ressourcen schrittweise selbst in die Hand zu bekommen und kooperativ zu nutzen, neu zu gestalten und zu entwickeln. Pointiert gesagt, brauchen wir nicht einfach eine Widerstandsbewegung, sondern eine globale Aneignungs- und Genossenschaftsbewegung.
Dass jeder Erfolg in dieser Richtung die Wirtschaft schädigt, den Staat schwächt und die Krise vertieft, ist klar und kann niemanden schrecken, der aus diesen Beziehungen herauskommen will: Statt Arbeit für den abstrakten Zweck der Geldver-mehrung sinnvolle Tätigkeit für die gemeinsame Gestaltung des Lebens – vom alltäglichen Umkreis bis auf die Ebene des ganzen Planeten.
Was es für den skizzierten Bruch mit den bankrotten gesellschaftlichen Beziehungen und den dazu gehörenden Gedanken braucht, ist geistige Auseinandersetzung und jede Menge Experimente. Und das nicht erst morgen, sondern jetzt.