Männer, zum Lichte, zur Arbeit!
DER ARBEITSWAHN DER KAPITALISTISCHEN MODERNE UND SEIN ENDE
Streifzüge 2/2003
von Martin Dornis
„Die Müßiggänger schiebt beiseite, dann scheint die Sonn‘ ohn‘ Unterlass…“ aus: Die Internationale, das Kampflied der internationalen Arbeiterbewegung
Nicht selbst, sondern gerade in linken Kreisen wird Arbeit immer noch positiv besetzt. Aber auch jene, die der Arbeit wohltuend die „Faulheit“ entgegensetzen, begründen dies meist eben mit eigener Faulheit, aber leider nicht indem sie die Arbeit als Grundübel der kapitalistischen Gesellschaft erkennen. Damit brechen sie nicht mit den herrschenden Ideologien, nach denen Arbeit als nützlich, sinnvoll oder gar natürlich gilt. In Wirklichkeit aber ist das Gegenteil wahr: Arbeit zerstört nicht nur die Menschen, die sie verrichten müssen (egal ob in der Fabrik, im Büro oder sonstwo), sie zerstört auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen und hinterläßt kahle und öde ausgebrannte Wüstenlandschaften. Vor allem schafft sie das brutale und mörderische kapitalistische Produktionssystem täglich aufs Neue, sie stellt die Substanz des Kapitalismus dar. Damit erzeugt sie ein Gesellschaftssystem, welches sich von Anbeginn gegen die Menschen wendet, die es betreiben: Karl Marx fasste dieses Phänomen als eine fetischistische Gesellschaft. Arbeit steht einem Leben, welches der Lust und dem Genuss gewidmet ist, vollkommen entgegen. Arbeit setzt von Anbeginn das bestehende patriarchale Geschlechterverhältnis.
Arbeit produziert mithin nicht in erster Linie individuellen Reichtum, sondern perspektivisch: individuelles Elend. Man muss nicht KommunistIn sein, um die Abschaffung der Arbeit als einzig mögliche Perspektive jenseits der Barbarei zu erkennen. Eine Gesellschaft ohne Arbeit – das ist die Grundbedingung für ein gutes, glückliches und genussvolles Leben; aber heute auch Überlebensfrage der Menschen. Linke Kritik, die als solche heute noch auftreten will, muss also prinzipiell arbeitskritisch sein: sie darf Arbeit nicht als natürlich fassen, sie muss begreifen, dass nicht jede menschliche Tätigkeit Arbeit ist, dass Menschen durchaus nicht immer gearbeitet haben und dass die Durchsetzung der Arbeit ein scheußlicher historischer Terrorakt war. Dieser muss als untrennbar mit der Etablierung des dualen, identitären Geschlechterverhältnisses begriffen werden. Linke Kritik geht also nur unter radikaler Ablehnung der Arbeit und dualer Geschlechts- Identitätshuberei, muss also eine „Selbstkritik der Männlichkeit“ (Trenkle) von Anbeginn einschließen. Kritik auf dem Standpunkt von Arbeit und Geschlechtsidentität wird die Überwindung des Kapitalismus nicht realisieren können.
1. Links ist dort wo Arbeit ist! ?
Es ist eine der schlimmsten und folgenreichsten Irrungen und Wirrungen der Linken (nicht nur der MarxistInnen – beispielsweise die Anarchos waren da mindestens genau so schlimm), die Arbeit nicht zu kritisieren, sondern sie geradezu heilig zu sprechen.
Die marxistische Linke mag uns als Beispiel dienen. Für Friedrich Engels war die Arbeit eine Natureigenschaft des Menschen. Sie stellte für ihn das Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier dar. „… was finden wir als den bezeichnenden Unterschied zwischen Affenrudel und Menschengesellschaft? Die Arbeit“ (in: Dialektik der Natur, S. 184f). Es blieb leider nicht bei Abhandlungen. Aus der theoretischen Legitimierung der Arbeit wurde blutiger Ernst. In einem der meistgelesensten Bücher der Arbeiterbewegung, in „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel finden wir solche Stellen: „Die Gesellschaft kann ohne Arbeit nicht existieren. Sie hat also das Recht, zu fordern, dass jeder, der seine Bedürfnisse befriedigen will (… ) an der Herstellung der Gegenstände zur Befriedigung der Bedürfnisse aller tätig ist. Die alberne Behauptung, die Sozialisten wollten die Arbeit abschaffen, ist ein Widersinn sondergleichen. Nichtarbeiter, Faulenzer gibt es nur in der bürgerlichen Welt… Der Sozialismus stimmt also mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (S. 414). An der entscheidenden Stelle, nämlich der Arbeit, hat die Linke keine Kritik vollbracht, sondern nur die bürgerlichen Ideologien vom „Wert“ der Arbeit wiedergekäut. Das entscheidende Problem dieser Linken war: Sie verwechselte Arbeit mit freier bzw. notwendiger Tätigkeit. Sie setzte die spezifisch kapitalistische Vernutzung von Tätigkeit damit als unveränderlich, indem sie keine Tätigkeit jenseits der Arbeit dachte. Diese Denkweise kulminierte im Satz des alten Bebel: „Die Arbeit ist das Fundament, auf dem der Staat der Zukunft errichtet wird.“ Hier kreuzen sich Staatsund Arbeitswahn der alten Linken.
Wer aber denkt, sowas hätte sich heutzutage erledigt, der irrt leider. So waren es die 68erInnen, also die Vorfahren der heutigen Linken, die jede menschliche Tätigkeit als Arbeit sehen wollten. Auf diese Weise entstanden blödsinnige Unworte wie „Trauerarbeit“, „Beziehungsarbeit“ oder „Denkarbeit“. Alle Tätigkeiten, die nicht als Arbeit galten, werden von der bürgerlichen Ideologie als nichtig erachtet. Also „erheben“ die theorielosen und denkfaulen linken Nachäffer des Kapitalismus jede Tätigkeit zur Arbeit. An dieser Verwirrung hat auch der Feminismus seinen Anteil. Seine Argumentation zielte daraufhin, die den Frauen zugeschriebenen Tätigkeiten im Haushalt und die Erziehung der Kinder als Arbeit zu benennen („Hausarbeit“). Damit kommt man dem Kapitalismus, welcher Menschen ohnehin nur als Mittel der Verwertung von Kapital, als Menschenmaterial betrachtet, liebevoll entgegen. Kinder würden in der Familie produziert wie Werkstücke in der Fabrik. Solch ein Denken ist abgrundtief unkritisch. Es lässt keinerlei Unterscheidung mehr zu. Alles wird zu Arbeit, und welche Funktion der Arbeit im Kapitalismus wirklich zukommt, gerät vollständig aus dem Blick. Damit war kein kritisches Erfassen und somit Überwinden des Kapitalismus denkbar.
Glücklicherweise gab es in der Linken auch andere Stimmen. So schreibt Paul Lafargue 1887 ein Buch namens „Das Recht auf Faulheit“: „Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder… . Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit… In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung“ (S. 20). „Arbeitet. Arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion“ (S. 29). Damit kann Lafargue als einer der wenigen Linken gelten, die den Marx wirklich kritisch und emanzipatorisch verstanden haben. Arbeit ist eben die Quelle des Elends und nicht etwa von Wohlstand oder derartigem Schmarren.
2. Der Durchsetzungsterror der Arbeit
Gegen die unkritische und gefährliche Apologie der Arbeit bei den Linken ist auf den geschichtlichen Fakten zu beharren. Arbeit ist mitnichten natürlich, so nach dem Motto, die Menschen mussten schon immer arbeiten, sonst hätten sie ja nicht leben können. Marx schreibt treffend im Kapital I: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt…“ (S. 192). Das ist ein Satz zum Auf-der-Zunge-zergehen-lassen, für alle, die es nicht lassen können, von der Natürlichkeit und Ewigkeit der Arbeit zu faseln. Merke: Arbeit ist ein Prozess unter vielen möglichen anderen, sich mit der Natur auseinanderzusetzen. Das Bebauen des Bodens einer mittelalterlichen Bäuerin war eben etwas fundamental anderes als das stupide und bornierte Malochen in einem Stahlwerk oder das langweilende Absitzen von Stunden und Vollschreiben von Zetteln in einem Büro. Was vorkapitalistische Tätigkeiten von kapitalistischen unterscheidet: sie waren bedürfnisorientiert. Die Bäuerin im Mittelalter baute Getreide an, um es zu essen, um es im nächsten Jahr auszusäen oder es dem Feudalherren oder der Kirche zu geben, wo es wiederum ausschließlich verspeist werden sollte. Wenn dann wirklich noch was übrig blieb, dann wurde es auf dem Markt vertickt. Aber es wurde nicht mit dem Ziel produziert, es zu verkaufen. Das ist der Unterschied ums Ganze. Kapitalistische Produkte sind Waren und als solche kommen sie nur mit einer ausschließlichen Bestimmung auf die Welt: Sie streben auf den Markt, um dort ihren Wert zu realisieren, der in der kapitalistischen Gesellschaft die Menschen miteinander verbindet. Im Kapitalismus wird nicht um der Bedürfnisse wegen produziert, nicht um des Herstellens von Gegenständen wegen, die bestimmte Zwecke erfüllen. Alle Produktion dreht sich um eines: aus Geld mehr Geld zu machen, es zu verwerten, es in Kapital zu verwandeln. Nun ist das aber keineswegs als eine moralische Kritik zu verstehen. Überhaupt sollte man sich diesbezüglich jeglicher Moralisierung enthalten. Es gilt vielmehr, gegen eine Produktionsweise zu agieren, die sich über das Geld vermittelt, in der Menschen arbeiten müssen, um zu Geld zu kommen, damit sie leben können. Diese unheilvolle Triade von Arbeit, Ware und Geld muss durchbrochen werden, wenn man eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus denken und realisieren will.
Wie aber setzte sich die moderne Arbeits- und Geldgesellschaft historisch durch? Vor dem Kapitalismus wurde ausschließlich zur Bedürfnisbefriedigung produziert (auch wenn es nicht immer für die eigenen Bedürfnisse war… ). Die ProduzentInnen waren noch nicht von ihren Produktionsmitteln getrennt. Den BäuerInnen oder HandwerkerInnen gehörten ihre Geräte und der Boden noch selbst, außerdem gab es jede Menge Gemeinbesitz, die sogenannte „Almende“.
Diese Zustände fanden mit dem Ende des Mittelalters, mit dem Heraufdämmern des kapitalistischen Systems, ihr jähes Ende. Die Trennung der ProduzentInnen von ihren Produktionsmitteln erfolgte dabei regelrecht militärisch. Unter Federführung des absolutistischen Staates wurden z. B. die englischen BäuerInnen unter Einsatz der Armee von ihren Feldern vertrieben, ihre Dörfer plattgewalzt, ihre Wälder abgeholzt, ihre Felder eingeebnet. Das ehemals bäuerliche Land wurde in Schafweiden für die Wollproduktion zwecks Belieferung der Textilindustrie verwandelt. Die ehemaligen BäuerInnen zogen als RäuberInnen und VagabundInnen durchs Land. Teils wurden sie vom Militär niedergemetzelt, teils in Arbeitshäuser gesperrt. Dort bekamen sie den Takt der Arbeit mittels Prügelstock und anderer feiner Methoden des „klassischen Konditionierens“1 eingeprügelt. So wurden Menschen in wasserdichte Behälter gesperrt, die langsam mit Wasser voll liefen. Die permanente Betätigung einer eingebauten Hand-Wasserpumpe konnte die Person jedoch retten. Dazu musste ein langer Hebel stundenlang unermüdlich hinund herbewegt werden. Auf diese Weise wurden Menschen erfolgreich für den Arbeitsprozess konditioniert. Nach einigen Generationen war diese stumpfe Tätigkeit derart in die Hirne der Menschen gebrannt, dass Arbeit allen Ernstes als natürlich bezeichnet wird, dass Menschen für ein Recht auf Arbeit anstatt für die Abschaffung der Arbeit kämpfen. Anfänglich war es jedoch tatsächlich unmöglich, erwachsene Menschen zum Arbeiten zu bewegen. Sie betätigten sich lieber als RäuberInnen und VagabundInnen denn als ArbeiterInnen. Selbst das Verhungern wurde bisweilen der Arbeit vorgezogen. Daher wurden ebenfalls unter Federführung des Staates Kinder im Alter von zirka vier Jahren im großen Maßstab entführt und in Fabriken verschleppt (vgl. Kapital I, S. 785f). Dort konnten sie dann ungestört ihr Menschenrecht der Freiheit genießen, nämlich unter freiem Willen ihre Arbeitskraft zu verkaufen und dafür Lohn zu erhalten. Dabei gab’s zusätzlich reichlich Peitschenhiebe gratis, da die kleinen Wesen durchaus nicht ihr Menschenrecht auf Freiheit und Arbeit verwirklichen wollten. Angesichts derartiger Uneinsichtigkeit mussten Menschen auch schon mal zu ihrem Glück gezwungen werden. Bei so viel Glücksversprechen gab es anfänglich heftigen Widerstand unorganisierter Arbeiter- Innen. Die später von den Linken so gehassten MaschinenstürmerInnen taten das einzig Richtige: die kapitalistischen Produktionsanlagen zerschlagen. Erst die spätere – nämlich organisierte und damit gebändigte – ArbeiterInnenklasse stritt dann für das Behalten-Dürfen ihrer Fesseln. Mittels ihrer hierarchischen Organisationsstrukturen und ihrer Ideologie von der Natürlichkeit der Arbeit half sie dem Kapital unbewusst bei der brachialen Formierung der Menschen für den weitergehenden absurden Verwertungsprozess. Die heute noch bisweilen bestehende Organisierungs- und Aktionswut der Linken ist ein letzter Rest dieses alt-linken Wahns. Allerdings nunmehr ohne jede ökonomische Basis, denn es gibt kaum noch verwertendes Kapital2, dem man sich liebevoll und anhänglich an den Hals werfen könnte. Es gibt nichts mehr, wofür sich eine Organisation lohnen würde, und die befreite Gesellschaft braucht keine.
Das Durchpeitschen der Arbeit war nur möglich verbunden mit einer rigiden Selbstunterwerfung der Menschen. Sie nahm ihren Ausgangspunkt bei den anfänglichen Vertretern3 des Kapitalismus, im Bürgertum. Die Bürger der Städte waren historisch die ersten, die die Prinzipien der sinnlosen Anhäufung abstrakter Arbeit zu ihrem ureigenen Lebenszweck machten. Unter dem Druck staatlicher Besteuerungsgesetze begann eine maßlose Produktion auf Teufel komm raus. Ihr Ziel war zunächst ausschließlich die Produktion von Feuerwaffen für den absolutistischen Staat (vgl. Robert Kurz, Der Knall der Moderne). Sie war an keinerlei Bedürfnisbefriedigung rückgekoppelt. Viel mehr als dem Glück, dem Genuss und einem guten Leben ist die kapitalistische Produktion von Anbeginn eher dem Dahinmetzeln von Menschen auf dem Schlachtfeld gewidmet.
Ein Schmied stellte jetzt Pflüge her, um danach noch mehr Pflüge herzustellen. Dies brachte den kapitalistische Wahnsinn eines immer-schneller-immer-weiterimmer- höher zuwege. Die Produktion musste auf einer stets erweiterten und ansteigenden Stufenleiter immer aufs Neue fortlaufen und sich höher und höher schrauben. Dazu waren die bürgerlichen ProduzentInnen auf Arbeitskräfte angewiesen. Die landlos gewordenen, vertriebenen BäuerInnen kamen ihnen da gerade recht zupasse. Das Bürgertum übertrug die zunächst an sich selbst durchexerzierte Selbstunterwerfung und Selbstkasteiung, das Abschwören jeglichen Genusses, Glückes und jeglicher Lust, die vollkommene Askese, nun auf andere Bevölkerungsgruppen. So wurden große Teile der Bevölkerung in ein so genanntes Proletariat umgewandelt: arbeitsversessene, fanatische und gefühllose Arbeitstiere (nur der Mensch ist ein Arbeitstier! ) für die Auspressung im kapitalistischen Betrieb. Das betriebswirtschaftlich auszupressende Menschenmaterial hatte nur leider Gewohnheiten (Lust auf Müßiggang, religiöse Riten wie Feiertage) und ungeeignete Körper (die nach mehr als einer Stunde angestrengter Tätigkeit ermüden), die ihrer „natürlichen“ Betätigung als Arbeitskräfte im Dienste des Kapitals durchaus im Wege standen. Hier setzte die oben beschriebene Erziehungstätigkeit ein, die schließlich nach Generationen den modernen, kalten Arbeitsfanatiker hervorbrachte. Das Kapitalverhältnis ist stets die Diktatur der abstrakten Arbeit über die lebendige. Das Kapital übt Herrschaft aus über die Zeit, die Muskeln, die Nerven und die Bewegungen von Menschen (vgl. Eisenberg, Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen, in Feierabend, S. 46f).
Aber erst die historische Durchsetzung der „Maschinerie und großen Industrie“ (Marx) zwang die Menschen vollends unter den hämmernden und ewig pulsierenden Rhythmus des Kapitals. Die Maschine unterscheidet sich dadurch vom Werkzeug, dass sie die ArbeiterInnen anwendet, nicht anders herum (vgl. Kapital I, S. 391ff). Maschinen erzeugten außerdem einen unglaublichen Heißhunger des Kapitals nach Mehrarbeit. Eine nicht laufende Maschine in einer Fabrik bedeutet für einen Kapitalisten einen immensen, ihn nicht ruhen lassenden Verlust, daher die Tendenz, sie ununterbrochen laufen zu lassen. Damit schafft das Kapital systematisch die natürliche Aufteilung der Lebenszeit in Tag und Nacht ab. Das Kapital eliminiert die Nacht zugunsten des Tages. Kapitalismus bedeutet: die Nacht zum Tage machen – eine Gesellschaft unterm Kapitalverhältnis ist: ewiger Tag – ewig gleißendes Licht. Erst mit der Maschine wurde das abstrakte und sinnentleerte Zeitregiment in den Menschen voll durchgesetzt. Ab jetzt liefen die Maschinen, und die ArbeiterInnen mussten sich ihrem Takt bedingungslos unterwerfen. Das sie sich unterjochende Kapitalverhältnis trat ihnen nun in Gestalt der Maschine entgegen und unterwarf sie damit auch seinem abstrakten, vollkommen entsinnlichten Zeitverständnis – dem unerbittlichen Ticken der Uhr. Die Entstehung unseres heutigen scheinbar selbstverständlichen Zeitverständnisses ist also eng mit dem Prinzip der Arbeit und der zwanghaften Eingliederung der Menschen in die Prozesse der kapitalistischen Vernutzung am „Arbeitsplatz“ verknüpft (vgl. Moishe Postone, Time, labour and social domination; erscheint demnächst auf deutsch). Damit zieht sich eine systematische Kontinuität von der Arbeit über die kapitalistische Anwendung der Maschine hin zur Uhr mit ihrer Zerteilung des Tageslaufs in einen gleichmäßigen Takt, der schließlich zur „inneren Uhr“ wird.
Kapitalismus bedeutet stets die Durchführung eines missionarischen Feldzuges gegen die Natur. Diese ist dabei doppelt zu fassen als innere (die Triebwelt und Instinkte) und äußere (die Umweltbedingungen der Menschen). Beide werden unterm Kapitalverhältnis zunächst den entsinnlichten Kriterien der Kapitalverwertung unterworfen und dabei systematisch zerstört. Es kann unterm Kapitalverhältnis nicht anders sein.
Das Kapitalverhältnis begann, sich die Erziehung der Kinder zu unterwerfen. Prinzipien der Distanz begannen das Verhältnis zwischen Mutter und Kind zu bestimmen, Säuglinge werden nicht mehr nach ihren sinnlichen Bedürfnissen, sondern nach der Uhr ernährt, die Exkremente haben „pünktlich“ und nicht etwa gemäß den kindlichen Bedürfnissen entrichtet zu werden. Die damit einhergehende, später zur Selbstverständlichkeit werdende Kontrolle über den Körper kann als Urform von (Selbst-)Beherrschung bezeichnet werden. Ohne diesen Akt wäre weder spätere Herrschaft noch Arbeit möglich. Dem sich durchsetzenden Kapitalismus entspricht die „schwarze Pädagogik“: „Man beginne sofort nach der Geburt damit, den Eigensinn des Kindes zu brechen, die anarchischen Formen seiner Lust einzudämmen und den unreglementierten Trieb zu bändigen.“ Die kapitalistischen Prinzipien sind auf diese Weise wie ein „trojanisches Pferd“ in das einzelne Individuum eingedrungen. Sie übernahmen als „bedingte Reflexe“ und falsche Instinkte die Funktion einer „zweiten Natur“. „Lebensgeschichtlich frühe Rhythmisierung der kindlichen Bedürfnisse, die Dressur der Körper und der Motorik lassen Arbeit zu einer ungreifbaren und zugleich prägnanten Determinierung werden. Als Folge dieses epochalen Umrüstungsprozesses bildet sich eine zweite innere Natur des Menschen heraus, ein Fundus von tief eingewurzelten Automatismen, ( Wiederholungs-) Zwängen und Abwehrmechanismen“ (nach Feierabend, S. 52f). Der kapitalistische Mensch wird somit ein dem Sauberkeits- und Gründlichkeitswahn verfallenes Monstrum, seine Art zu denken, zu fühlen und sich zu bewegen ist bestimmt vom Takt einer fremdbestimmten, bzw. quasi-selbstbestimmten Tätigkeit, der Arbeit.
Dieses Programm machte der Arbeitsfanatiker Thomas Carlyle zum Zentrum seines Denkens: „Was unmethodisch und wüste ist, wirst Du methodisch und urbar machen. Überall wo Du Unordnung findest, da ist Dein ewiger Feind. Greif ihn rasch an und bezwinge ihn; mach Ordnung daraus, die nicht dem Chaos, sondern der Intelligenz, der Gottheit und Dir untertan ist… Arbeit ist die Mission des Menschen auf dieser Erde. … es wird ein Tag kommen, an dem der, welcher keine Arbeit hat, es nicht für geraten halten wird, sich in unserem Bereich des Sonnensystems zu zeigen… Das Werkzeug und der Mann soll heute unser Epos heißen. Was ist unser Werkzeug anderes als Waffen, mit welchen wir die Unvernunft drinnen oder draußen bekämpfen“ (S. 44f). So wie Carlyle muss man sich die perfekten FunktionärInnen der Arbeitsgesellschaft vorstellen: zwanghafte und psychopathische Persönlichkeiten.
In diese Praxis reiht sich das entstehende Schulwesen ein. Entscheidende Lernziele sind die Sekundärtugenden, die Verinnerlichung der abstrakten Zeit, das Warten auf Signale. Wer in der Schule sitzt, sich zu Tode langweilt und sehnsüchtig auf das Pausenklingeln wartet, hat das wesentliche Ziel der Schule schon drauf. Das durchkonditionierte Warten auf Signale und Anweisungen – das sind die „Tugenden“ der Arbeits- gesellschaft – ein Hohn auf ein erfülltes, genussreiches und lustvolles Leben. „Man kolonialisierte die Köpfe, indem man sie mit funktionalem Wissen vollstopfte und die Körper, indem man sie desexualisierte…“ (S. 51).
3. Vergesellschaftung durch betriebswirtschaftliche Vernutzung – das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis
Die durch Arbeit, vermittelt über den Tauschwert, sich herstellende Gesellschaft ist eine prinzipiell verkehrte. Indem Menschen im Produktionsprozess betriebwirtschaftlich Tätigkeit ausgesaugt bekommen und diese in der Kapitalverwertung vernutzt wird, stellen sie Gesellschaft her. Marx nennt diese Form der Vergesellschaftung eine fetischistische. „Der gesellschaftliche Zusammenhang wird im warenproduzierenden System der Moderne über Verausgabung von Arbeitskraft in betriebswirtschaftlichen Prozessen der Kapitalverwertung hergestellt…“ Dabei sind sie aber „gleichzeitig isoliert voneinander und von ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang (… ), der sich als fremde und bedrohliche Macht hinter ihrem Rücken nach den Funktionsgesetzen der Verwertung und der Marktkonkurrenz herstellt.“ Bei dieser Form von Gesellschaft sind „die vereinzelten Einzelnen ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang als einer fremden subjektlosen Macht ausgeliefert“ (Karl-Heinz Wedel, in: Feierabend, S. 160). Auf den Punkt gebracht: Menschen werden zu Dingen, zu bloßen Anhängseln der Maschinen, des Verwertungsprozesses, der abstrakten Zeit, und die Dinge bekommen Herrschaft über Menschen. „Das gesellschaftliche Verhältnis, das durch diese Form vermittelt wird, stellt die Beziehungen von Personen und sachlichen Produkten auf den Kopf: Die Gesellschaftsmitglieder als Personen erscheinen ungesellschaftlich… ; umgekehrt erscheint die gesellschaftliche Beziehung als Verhältnis von Sachen, von toten Dingen… Die Personen werden versachlicht und die Sachen quasi verpersönlicht. Es entsteht eine wechselseitige Entfremdung der Gesellschaftsmitglieder, die ihre Ressourcen nicht nach bewussten gemeinsamen Beschlüssen einsetzen, sondern sich einem blinden Verhältnis toter Dinge – ihrer eigenen Produkte – aussetzen, das durch die Geldform gesteuert wird. Auf diese Weise kommt es immer wieder zu einer Fehlsteuerung der Ressourcen, zu Krisen und gesellschaftlichen Katastrophen“ (Roswitha Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus, S. 13).
Ausdruck davon ist unter anderem, dass die „sinnvollen“ Produkte der Arbeit meist so sinnvoll gar nicht sind. Denn, wie sinnvoll sind die Produkte einer Pharmaindustrie, die die Menschen statt gesund vor allem krank machen? Wie sinnvoll ist das bedenkenlose Überfluten der Welt mit umweltzerstörenden Blech- und Plastiklawinen – das massenhafte, zutiefst geschmacklose Zubetonieren von Landschaften, ihre Zupflasterung mit Autobahnkreuzen, das Herstellen einer immensen Bürokratie aus PolizistInnen, Verwaltungsbeamten, die für das Herstellen einer Herrschaft und einer Wirtschaft beschäftigt werden, deren es nicht mehr bedürfte, die dem Leben der Menschen heute geradezu das Wasser abgräbt, die Inszenierung eines Auto-Weltkriegs auf den Straßen, der erschreckende Wandlungen der menschlichen Persönlichkeit nach sich zieht: eine unentwegte Wachsamkeit und permanente Aufmerksamkeit erfordert, die auf anderes, z. B. auf die Empfindungen und Gefühle von Menschen gerichtet werden könnten?
Die Grundlage des Kapitalismus ist die unentwegte betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Tätigkeit zum Zwecke der Kapitalakkumulation: Und genau das ist die Arbeit. Der Kapitalismus ist jene Produktionsweise, die auf unentwegter Vermehrung des abstrakten gesellschaftlichen Reichtums basiert. Dabei geht es nicht um konkreten sinnlichen, also irgendwie nutzbaren Reichtum, sondern um sinnentleerte Anhäufung toten Reichtums in Form von Geld.
Das Kapital ist genau jenes gesellschaftliche Verhältnis, welches diese Form von Gesellschaft zuwege bringt. Es gibt viele verquere Kapitaldefinitionen. Für die einen ist es die Gesamtheit der angeblich im Kapitalismus direkt herrschenden Einzelpersonen, so eine Art Gesamtunternehmer. Andere wiederum sehen darin das in den Banken aufgespeicherte Geld – und dieses hätte eben – irgendwie – „die Macht“. Gegen diese Verschleierungen ist auf dem Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis unbedingt zu beharren. 4 Im Kapitalverhältnis treten einander Menschengruppen entgegen, wobei wesentlich ist, dass eine Gruppe unter Kommando der anderen arbeitet. 5 Kapital ist somit erstens ein Herrschaftsverhältnis. Dabei werden alle durch das gesellschaftliche Prinzip Arbeit beherrscht. KapitalistInnen wie LohnarbeiterInnen müssen sich dem Diktat der abstrakten Vernutzung von Arbeit unterwerfen.
In diesem Prozess wird die geleistete Arbeit ausgebeutet: Menschen werden unterm gesellschaftlichen Prinzip der Arbeit für die kapitalistische Selbstzweckmaschine vernutzt. Das Kapital ist also zweitens ein Ausbeutungsverhältnis. Dabei erfolgt die Aneignung der Arbeit jener Gruppe an das Kapital. Die von den ArbeiterInnen geleistete Arbeit wird dabei Teil des Kapitals. Marx unterschied dabei die reelle von der formellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital. Formell unterschreiben die ArbeiterInnen einen Arbeitsvertrag und verschreiben sich damit für bestimmte Zeit einem Kapitalisten. Dafür bekommen diese am Ende ihren Lohn. Reell aber wird die Arbeit der ArbeiterInnen dabei dem Kapital einverleibt. Das Kapital ist somit drittens ein Aneignungsverhältnis.
Das Kapital ist kein direktes gesellschaftliches Verhältnis, sondern vielmehr ein indirektes. Es bringt Menschen zusammen, indem es sie am Arbeitsplatz vereinsamt und vereinzelt. Daher ist auch die Herrschaft, Ausbeutung und Aneignung von Arbeit durch das Kapital eine abstrakte. Es herrschen nicht in erster Linie wirkliche Menschen über andere. Vielmehr herrscht ein gesellschaftliches Prinzip: das der Selbstverwertung des Werts, der permanenten Anhäufung abstrakten Reichtums. Dass es dabei bestimmten Menschen besser geht als anderen, ist zwar richtig, tut dem aber keinen Abbruch. Ebenso ist die Ausbeutung im Kapitalismus eine abstrakte Ausbeutung. Niemand nimmt jemandem etwas weg, damit es ihm besser geht. Die ausbeutenden KapitalistInnen sind vielmehr selbst jener Systemlogik unterworfen, der sie um den Preis ihres Untergangs folgen müssen. Dass darunter wirklich Menschen leiden und buchstäblich verrecken, schwächt diese These nicht, sondern stärkt sie geradezu. 6 Nicht anders steht es um die Aneignung. Die ArbeiterInnen bleiben formell unabhängige Rechtspersonen. Sie sind auch tatsächlich im bürgerlichen Sinne frei. Aber genau die Notwendigkeit des Verkaufs der Arbeitskraft ist die Grundbedingung bürgerlicher Freiheit und genau genommen bereits ihr Vollzug.
Wenn das Kapital ein gesellschftliches Verhältnis der Herrschaft, Ausbeutung und Aneignung ist, so stellt sich die Frage, zwischen wem sich dieses Verhältnis abspielt. Im Kapitalverhältnis treten einander lebendige Arbeit (in Gestalt der ArbeiterInnen) und tote Arbeit (in Gestalt des Kapitals) entgegen. Kapital ist also angehäufte abstrakte Arbeit – die akkumulierte Tätigkeit vergangener Produktionsperioden. Kapital ist nicht lediglich Geld. Erst unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen wird Geld zu Kapital. Und zwar genau dann, wenn im Prozess des Warentauschs daraus mehr Geld „entsteht“.
Um das zu verstehen, ist die gesellschaftliche Bewegung des Kapitals als unentwegter Kreislauf zu fassen. Das Kapital ist dabei nicht dinglich zu begreifen, sondern nur als eine stets fluktuierende und flexible Größe. Es befindet sich mal in Geldform, schlüpft von dieser in die Warenform (Produktionsmittel und Arbeitskraft), springt dann in die Gestalt der industriellen Produktion, an deren Ende es wieder als Warenmasse auftaucht, verkauft wird und somit wiederum in der Geldform vorhanden ist. Dabei handelt es sich jedoch um mehr Geld als im anfänglichen Zustand. Zur anfangs der Produktion vorgeschossenen Geldmenge ist ein Mehrwert hinzugekommen. Kapital ist nur begreifbar als sich verwertender Wert, wertheckender Wert bzw. als Geld, das im Prozess seiner Verwertung mehr wird. Kapital kann überhaupt nur durch ständige Verwertung, Verwandlung und Vermehrung in seinem Wert erhalten werden. In seinem Wandlungsprozess erscheint seine schillernde und stets veränderte Gestalt ähnlich einem Chamäleon in seinem Farbenspiel oder besser einem Lurch, der sich vom Ei in die Kaulquappe und von dieser in den Frosch verwandelt – dabei es aber fertig bringt, von der Froschform zurück in die Eiform zu hüpfen und sich dabei zu vermehren.
Das Mittel dieses Mehrwerdens ist die Arbeit, also die betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Tätigkeit. Genauso bestimmt sich im Kapitalismus produktive Arbeit: sie dient im Prozess der Kapitalverwertung dazu, jenen Mehrwert zu schaffen. Produktiv heißt stets: kapitalproduktiv – dazu dienend, Kapital zu vermehren, abstrakten gesellschaftlichen Reichtum anzuhäufen. Daraus ergibt sich die Tendenz des unentwegten Wachstums der kapitalistischen Gesellschaft. Das Problem dabei ist, dass eine Gesellschaft mit leiblich begrenzten Menschen auf einer räumlich begrenzten Erde nicht ewig wachsen kann. Der Kapitalismus muss daher als tendenziell unendliches Wachstum in einer endlichen Welt an einem bestimmten Punkt zusammenbrechen.
4. Arbeit als reale Abstraktion
Marx unterscheidet die Arbeit nach zwei Seiten hin. Als konkrete erzeugt sie bestimmte nützliche Güter – so zum Beispiel die Arbeit der Schusterin Schuhe. Konkrete Arbeit erzeugt sogenannte Gebrauchswerte. Von einer anderen Seite her betrachtet, stellt sich die Arbeit jedoch dar als abstrakte. Als solche schafft sie einen bestimmten Tauschwert. Der Tauschwert einer Ware hat nichts mit ihrem Gebrauch zu schaffen. „Kein Atom Naturstoff geht in die Wertgegenständlichkeit einer Ware ein“, bemerkt Marx dazu (Kapital I, S. 62). Der Tauschwert definiert sich rein gesellschaftlich. Er wird bestimmt durch die Menge verausgabter, toter Arbeitszeit, die in einer Ware auskristallisiert vorliegt und stellt darüber Gesellschaft her.
Allerdings ist Marxens Unterscheidung in abstrakte und konkrete Arbeit teilweise bedenklich. Zwar ist es Marx absolut klar, dass es sich bei beiden stets um dasselbe handelt. Es gibt also niemanden, der nur konkret, und niemanden, der nur abstrakt arbeitet. Es gibt auch niemanden, der manchmal konkret und manchmal abstrakt arbeitet. Vielmehr wird stets einfach nur gearbeitet. Und dieser eine Arbeitsprozess lässt sich nach den oben beschriebenen Seiten differenzieren: einerseits als konkrete, gebrauchsgütererzeugende, andererseits als abstrakte, tauschwerterzeugende, heißt gesellschaftliche bzw. gesellschaftsschaffende, den Arbeitenden gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit.
Allein Marxens Begrifflichkeit bleibt dabei verwirrend: Sein Terminus „konkrete“ Arbeit verkennt, dass diese angeblich konkrete Arbeit bereits eine Abstraktion ist.
Wie oben festgestellt, mussten Menschen nicht immer arbeiten. Arbeit wurde erst in die Menschen mit terroristischer Gewalt eingedroschen. Vorher waren sie allenfalls tätig. Sie hatten auch kein Bewusstsein von Arbeit. Viele alte Sprachen enthalten gar kein Wort dafür. In der griechischen und lateinischen Antike und im christlichen Mittelalter gab es dann zwar ein derartiges Wort. Es stand aber nicht für eine Tätigkeit, ohne die der Mensch nicht sein kann, sondern für „Mühsal“, für „unter einer Last wanken“, für ein sklavisches Dasein oder ähnliches. Aber es gab nicht nur kein derartiges Wort. Die Menschen trennten überhaupt nicht „Arbeit“ und „Freizeit“: sie schliefen, aßen, liebten sich, säten Getreide, beteten, dösten, räumten die Küche auf… Es gab also ein Vollziehen von Tätigkeiten, die als lebensnotwendig, lebenswichtig oder einfach angenehm, lustvoll und befriedigend betrachtet wurden. Nun mag jemand entgegnen: sie hatten zwar kein Bewusstsein von Arbeit, aber gearbeitet haben sie deswegen trotzdem. Das ist jedoch nicht richtig. Vielmehr war die Art, das Leben zu gestalten, eine vollkommen andere als heute im Kapitalismus von uns noch denkbar. Die Tätigkeiten, die Menschen mit dessen Durchsetzung ausführen mussten, unterscheiden sich grundlegend von den vorherigen. Als entscheidendes Kriterium hatte ich oben die vollkommene Entsinnlichung und Entkoppelung von Bedürfnissen genannt. Kapitalismus bedeutet die Steuerung der Tätigkeit durch den an sich sinnlosen Rhythmus des Kapitals, der in seinem unermüdlichen Wahn aus Mehr immer mehr schaffen muss. Vorherige Tätigkeiten dienten der Erhaltung und Gestaltung des eigenen Lebens. Die Arbeit ist jedoch aus dem Leben ausgekoppelt, hat nichts mehr mit ihm zu schaffen. Sie teilt das Leben in Arbeitszeit und Freizeit. Wo die Arbeiter- Innen auf Arbeit sind, sind sie nicht bei sich, wo sie bei sich sind, sind sie nicht bei der Arbeit, schreibt Marx sinngemäß in den Pariser Manuskripten. In diesem Sinn kann von der Arbeit als einer Abstraktion gesprochen werden.
Was ist eine Abstraktion? Wenn ich verschiedene Gebilde, die mein Zimmer künstlich erhellen, als „Lampen“ bezeichne, obwohl es sich dabei um völlig unterschiedliche Dinge wie Stehlampen, Hängelampen, blaue, grüne, gelbe Lampen, elektrische, Gas- und Öllampen handelt, vollziehe ich eine logische Abstraktion. Ich reduziere die Dinge logisch auf ihr Wesentliches, auf das, was sie wesentlich ausmacht. Die blaue Farbe meiner Hängelampe ist nicht wesentlich an ihr (insofern sie Lampe) – sie wäre auch Lampe, wenn sie gelb wäre. Ebenso wenig ist die Tatsache, dass sie an der Wand hängt, dafür wesentlich. Was ihr als Lampe wesentlich zukommt, ist, dass sie mein Zimmer erhellt, wenn ich das wünsche. Diese Abstraktion ist dem Gegenstand selbst, der Lampe, jedoch rein äußerlich. Es ändert rein gar nichts an dem Gegenstand, ob ich ihn unter „Lampe“ abstrahiere oder unter „blaue Gegenstände“ – was mit der blauen Lampe mithin auch möglich wäre.
Ganz anders verhält es sich mit der Abstraktion Arbeit. Dass ich Tischlern, Klempnern, Teller waschen, DemonstrantInnen verprügeln, Gullis säubern und Lohnkosten berechnen unter den gemeinsamen Begriff „Arbeit“ ordnen kann, ist ihnen sehr wohl nicht äußerlich.
Es verhält sich nicht so, dass die Menschen in vorkapitalistischen Zeiten bloß noch kein Bewusstsein davon hatten, dass einige ihrer Tätigkeiten (das Getreide aussäen, Pflüge herstellen, Korn ernten… ) „Arbeit“ sind und andere hingegen (schlafen, sich lieben, essen… ) hingegen „Freizeit“. Vielmehr vollzog sich mit Einzug des Kapitalismus eine fundamentale Wandlung menschlicher Tätigkeiten. Die Menschen wurden sowohl aus Tätigkeiten, die wir heute als nützlich, als auch aus solchen, die wir heute „nur“ als angenehm bezeichnen, herausgerissen. Statt dessen wurden sie in ein ihnen fremdes betriebswirtschaftliches Räderwerk gezwungen, welches niemandem auch nur zu etwas nützt, aber in der kapitalistischen Gesellschaft die einzige Möglichkeit darstellt, zu überleben, nämlich entweder über Lohn, Profit oder Grundrente7 sich Geld zu besorgen. Erst ab jetzt wird es sinnvoll, von „Arbeit“ zu sprechen. Alles andere wäre unkritisches ineinander Schmeißen von Dingen, die nichts Wesentliches miteinander verbindet. Die vorkapitalistischen TischlerInnen tischlerten um der Tätigkeit oder des Gegenstandes bzw. seiner Benutzung willen. Im Kapitalismus wird diese Tätigkeit vollzogen, um zu Geld und mehr Geld zu kommen, um in zwei Jahren nicht 20 Tische pro Jahr, sondern 40 pro Jahr zu erzeugen. Das Wesentliche an der Tätigkeit ist gerade nicht das Herstellen eines Produktes sondern die Plusmacherei, die betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Tätigkeit zum Zwecke der Akkumulation von Kapital, d. i. Arbeit.
In diesem Sinn ist von der Arbeit als einer realen Abstraktion zu sprechen. Das ist eine Abstraktion, die nicht nur logischbegrifflich, rein im menschlichen Denken vor sich geht (wie bei den Lampen, oder beim Zuordnen von Birnen und Feigen zu „Obst“), sondern eine praktisch werdende Abstraktion, eine, die grundlegend ins Leben eingreift, sich dieses unterwirft und umgestaltet. Ob ich einen Apfel als Apfel, grünes Ding oder Obst esse, ändert nichts an der Tatsache, dass das Teil über Mund und Speiseröhre in den Magen gelangt, schmeckt, mich mit Vitaminen versorgt, meinen Appetit stillt. Das die TischlerIn nicht mehr einfach nur tischlert, sondern im Kapitalismus lebt und arbeiten muss, das hebt ihr gesamtes bisheriges Leben aus den Angeln, bzw. bestimmt ihre Art zu leben, zu denken, zu fühlen und tätig zu sein von Anbeginn. Bedeutet das Wort „Arbeit“ in seinem Ursprungsverständnis ein sklavisches Dasein in der direkten gönnerhaften Abhängigkeit von anderen Personen, so bedeutet die gesellschaftliche Durchsetzung der Arbeit, dass alle Menschen einer sklavischen Tätigkeit unterworfen werden und von der Gunst des Kapitals als ihres Gönners abhängen.
5. Arbeit als patriarchales Verhältnis
Die historische Herausbildung der Arbeit ist aufs engste mit der Entstehung des modernen Geschlechterverhältnisses verknüpft. Arbeit ist nicht ohne Männerherrschaft, Männerherrschaft nicht ohne Arbeit denkbar. Die moderne Männerherrschaft ist dabei nicht mehr jene vormoderner Zeiten. Sie gestaltet sich nicht mehr direkt und persönlich, sondern indirekt. 8 Sie drückt sich in der Dominanz männlicher Prinzipien aus. Dabei ist die instrumentelle Naturbeherrschung, die Arbeit, zentral.
Arbeit war oben als eine reale, objektiv wirkungsmächtige Abstraktion bestimmt worden. Menschliche Tätigkeit wurde im Kapitalismus zum Zwecke betriebswirtschaftlicher Vernutzung mit dem Ziel der Kapitalakkumulation historisch umgeformt. Dabei werden menschliche Wesen herangezogen, deren gesellschaftliche Funktion einzig und allein darin besteht, eben diese sinnentleerte Tätigkeit zum Zwecke der Vermehrung von Geld auszuführen (als LohnarbeiterIn) bzw. derartige Geldverwertungsprozesse anzuleiten, zu kommandieren (als KapitalistIn9). Dabei entsteht das Kapital als ein Ausbeutungs-, Aneignungs- und Herrschaftsverhältnis, welches sich als fetischistische Gesellschaft gegen die Menschen richtet, die es betreiben.
Damit ein derart vom Leben abgetrenntes menschliches Wesen überhaupt existieren kann, bedarf es notwendig einer zweiten Seite der Medaille eben dieser betriebswirtschaftlichen Tätigkeitsvernutzung. Schließlich muss ein derart seltsam und absonderlich funktionierendes Wesen essen, sich kleiden, es bedarf, um besser zu arbeiten, emotionaler und sexueller Zuwendung. Schließlich benötigt eine Gesellschaft, die auf einer derartigen Tätigkeitsvernutzung gründet, auch menschlicher Nachkommen, um selbst fortexistieren zu können. Diese müssen herangezogen werden. Doch wer soll das vollbringen, wenn die Tätigkeit aller Menschen in Betrieben, Fabriken und Büros vernutzt wird? Daher kann die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht anders als in Form von zwei Sphären bestehen. In der einen erfolgt die Planung und Ausführung von Tätigkeitsvernutzung (Arbeit) und in der anderen die Heranziehung neuer Arbeitskräfte und die sinnliche Versorgung der bereits lebenden. 10
Bei diesem Prozess, der sich historisch herausbildete, erfolgt die Trennung der Arbeit vom Leben. Die einst mit ihren Produktionsmitteln verbundenen ProduzentInnen wurden von diesen getrennt. Die auf Subsistenzwirtschaft beruhenden, weitgehend selbständigen Produktionseinheiten der mittelalterlichen BäuerInnen und HandwerkerInnen wurden militant zerschlagen. Das Leben der daraus „frei“ (wirklich frei und anders war Freiheit auch nie gemeint) werdenden Menschen wurde in jene zwei Hälften zerteilt. Einerseits jene, die in der kapitalistischen Produktion sinnentleerte Arbeit, Verwaltung oder Kommandotätigkeit ausführen und andererseits jene, die mittels Erziehung und „Liebe“ für den Fortbestand und das Funktionieren dieser Produzenten und Kommandeure des Kapitals Sorge tragen. In Anknüpfung an vorkapitalistische Verhältnisse wurden diese beiden Sphären einerseits Männern und andererseits Frauen zugewiesen. 11
Roswitha Scholz beschreibt diesen Prozess als eine Dialektik von Wert und Abspaltung. Der Wert bezeichnet dabei den Prozess der Verwertung, den Bereich des Geldes, der Arbeit, der Anhäufung von Kapital. Der Begriff der Abspaltung bezieht sich auf jenen Bereich, der vom eigentlichen Zentrum der Kapitalverwertung abgetrennt ist, sozusagen im Hintergrund für das Funktionieren der kapitalistischen Verwertung sorgt. Da dieses Strukturverhältnis von Wert und Abspaltung den Kapitalismus als solches kennzeichnet, kann dieser treffend als warenproduzierendes Patriarchat bezeichnet werden. Die Produktion von Waren ist dabei das eine Wesensmerkmal des Kapitalismus. Mittels Arbeit werden im Kapitalismus Waren hergestellt, mit dem Ziel, sie zu verkaufen, wobei sich dabei der in der Produktion mittels Arbeit in ihnen geschaffene Wert realisiert. Das andere Wesensmerkmal ist sein patriarchaler Charakter. Er beruht auf der strukturellen Herrschaft des männlichen Prinzips der Verwertung von Wert über das abgespaltene Prinzip der Versorgung und Erziehung von jenen, die den Wert endlos und unermüdlich verwerten.
Den Männern und Frauen, die jeweils diesen beiden Bereichen zugeordnet sind, werden innerhalb dieser Strukturlogik bestimmte psychische Eigenschaften zugeschrieben, die sie im Idealfall auch erfüllen müssen. Die der Frau zugewiesenen Eigenschaften des abgespaltenen Bereichs sind Sinnlichkeit, Emotionalität und Passivität. Die dem Mann zugeschriebenen Eigenschaften sind Rationalität, abstraktes Denken und Aktivität. Diese männlichen Eigenschaften sind in der kapitalistischen Gesellschaft die hochangesehenen und leitenden. Aber in einem noch viel umfassenderen Sinn besteht im Kapitalismus die Herrschaft des männlichen Prinzips: die Arbeit, die betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Tätigkeit zum Zwecke der Kapitalakkumulation, ist im Kapitalismus das Entwicklungsgesetz, dem die gesamte Gesellschaft unerbittlich unterliegt.
Das kapitalistische Verwertungsprinzip setzt somit einen geteilten und verstümmelten Menschen voraus und erzeugt ihn. Die emotionale – wesentlich nicht rationale – Frau und den rationalen – wesentlich nicht emotionalen – Mann. Daher spricht man im Kapitalismus von einem dualen Geschlechterverhältnis. Der Kapitalismus bringt nur geistig und psychisch einseitige, verstümmelte Wesen hervor. Selbst dort, wo Verstand und Gefühl in einer Person zusammenkommen, wird meist ohne Verstand gefühlt und ohne Gefühl verstanden. Daraus entstehen eine entsinnlichte Rationalität wie ein Gefühl ohne Verstand.
Das kapitalistische System formt nun aus seiner Funktionsweise heraus derartige „Männer“ und „Frauen“ heran. Dabei werden die wirklichen Menschen real verkümmert und zugerichtet. Als Frau müssen sie eben sinnlich und als Mann rational sein. Eine Ablehnung jeglicher dualistischer Identitätshuberei muss zusammen mit der Arbeitskritik Basis einer kritischen Gesellschaftstheorie sein. So wie Arbeit und die Strukturlogik von Wert und Abspaltung einander wechselseitig bedingen, so setzen sich auch die Kritik des einen wie der anderen wechselseitig voraus.
Noch in einem anderen Bereich aber können die beiden Sphären explizit getrennt werden. Der Bereich des Werts unterliegt der „Logik der Zeiteinsparung“: Alle Tätigkeiten in ihm müssen möglichst effizient, in so kurzer Zeit wie nur möglich erledigt werden. Das ist die absolute Existenzgrundlage kapitalistischen Produzierens. Die Substanz des Wertes ist gerade die vernutzte menschliche Arbeitskraft. Diese wird nicht in Tonnen oder Litern, sondern eben in Stunden und Minuten gemessen.
Der abgespaltene Bereich unterliegt jedoch der entgegengesetzten Logik der „Zeitverausgabung“ (Frigga Haug): Die Tätigkeiten in diesem Bereich sollen gar nicht möglichst effizient ablaufen. Die Mutter soll ihr Kind nicht mit möglichst geringem Zeitaufwand großziehen. Sie soll möglichst viel Zeit für es aufwenden, wenn sie denn den offiziellen Kriterien gemäß eine gute Mutter sein will. Die Logik der Zeiteinsparung ist dabei jedoch die gesellschaftlich bestimmende. In Form der Durchsetzung einer abstrakten und linearen Zeitlogik begann sie über die gesamte Gesellschaft, über das Leben und Produzieren der Menschen zu bestimmen. Damit begann die Herrschaft der Ökonomie, mithin der Arbeit über das Leben. 12Was jedoch gemeinhin nicht sichtbar ist: Sie bedarf zu ihrer Existenz jener anderen Logik. Sie begleitet sie wie ein Schatten. Nach Scholz ist diese Abspaltung „der Schatten, den der Wert wirft“ (Scholz, Wert und Geschlechterverhältnis).
Bei diesen Überlegungen müssen zwei Missverständnisse unbedingt vermieden werden. 1) Der abgespaltene weibliche Bereich darf bei der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft keinesfalls positiv bewertet werden. Die weibliche Logik des Passiven, Sinnlichen etc. darf nicht gegen die männliche Logik der Aktivität und Rationalität gewendet werden. Die weibliche Logik ermöglicht vielmehr durch ihr Vorhandensein die Existenz der männlichen. Sie können beide nicht ohne einander sein. 2) Das Wertabspaltungstheorem besagt keineswegs, dass absolut alle Frauen sinnlich und passiv und absolut alle Männer aktiv, beherrschend und rational sein müssen. Vielmehr handelt es sich bei Wert und Abspaltung um eine die kapitalistische Gesellschaft bestimmende Strukturlogik. Fakt ist nur: es muss Menschen geben, die jene Bereiche ausfüllen. Und die, die das vollbringen, benötigen dazu auch bestimmte Eigenschaften. 13 Das heißt nicht, dass Frauen nicht auch psychisch männliche Verhaltensweisen übernehmen können und mit ihnen im männlichen Bereich agieren können. Dabei verändert sich dieser Bereich allerdings um keinen Deut. Eine von Frauen geführte Armee wäre so mörderisch wie eine weibliche Chefin gewinnorientiert.
6. Überwindung der Arbeit als Bruch mit der Moderne
Mittels der Durchsetzung der Arbeit kam es zu einer gewaltigen Entwicklung der Produktivkräfte, welche die Arbeit heute systemimmanent überflüssig macht und eine Perspektive jenseits von Arbeit und Warenproduktion ermöglicht. Das könnte eine Gesellschaft sein, in der der Mensch als „sinnliches, bedürftiges, soziales Wesen“ innerhalb eines „Vereins freier Individuen“ (Robert Kurz) im Mittelpunkt steht und die Ökonomie der Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen unterworfen ist. Das wird eine Ökonomie sein, die nicht mehr aufgrund des zwanghaften Wachstums ihre eigene Basis, die Menschen und deren natürliche Umwelt zu Schanden macht. Die Ökonomie verselbständigt sich dann nicht mehr von der Bedürfnisbefriedigung, sondern die Herstellung von Gütern ist durch Menschen bestimmt.
Streng genommen kann man dabei überhaupt nicht mehr von Ökonomie sprechen. Denn diese bezeichnet gerade einen aus der Gesellschaft herausgelösten Bereich. Eine „Ökonomie“, die sich nicht mehr gegen andere Lebensbereiche verselbständigt und sie beherrscht, ist kein eigenständiges Gebiet mehr, benötigte damit auch keine besondere Bezeichnung. Mit der Arbeit verschwindet die Ökonomie wie auch die Politik.
Die über Arbeit und Geld vermittelte „Zivilisation“ schweißte die Menschheit einst weltweit zusammen. Doch am Ende der Durchsetzungsgeschichte der Arbeit droht derselbe Zusammenhang, der die Menschen einst zusammenbrachte, sie gewaltsam auseinander zu reißen. Die zivilisatorische Moderne kollabiert an den ihr innewohnenden Gegensätzen. Daher müssen neue, selbstbestimmte Formen einer Weltgesellschaft gefunden werden. Ihre Grundlagen können nur jenseits von Arbeit, Ware und Geld liegen. Mit den Grundlagen der so genannten „Zivilisation“ muss gebrochen werden. Die notwendige Basis dafür ist die Reformulierung und Etablierung einer Überwindungs-, Abschaffungsund Stilllegungsbewegung, die sich in Abgrenzung zum patriarchal-abendländischen Arbeitsterrorsystem der Moderne nur als emanzipatorische Anti-Moderne (Robert Kurz) formieren kann. Deren erfolgreiches Agieren wird davon abhängig sein, dass sie mit den Prinzipien von Arbeit und Männlichkeit abrechnet.
Anmerkungen
1 Als klassisches Konditionieren bezeichnet man in der Psychologie eine besondere Form des Lernens. Sie besteht in einer gezielten Verknüpfung von Reizen und Reaktionen. Das typische Beispiel dafür sind die „Pawlowschen Hunde“. Zeitgleich mit Verabreichung des Essens wurden sie stets einem Lichtreiz ausgesetzt. Nach wiederholter Durchführung dieser Konditionierung zeigten die Hunde bald Äußerungen wie „Tropfen der Zähne“ nicht nur bei Anblick des begehrten Essens, sondern bereits bei Reizung mittels Licht. Sie waren also darauf konditioniert worden, Erscheinungen, die sonst ans Essen gebunden sind, bei Einwirkung von Lichtreizen zu zeigen. Bekannt aus dem eigenen Leben sind solche Impulse bei Ertönen eines Weckers, der stets das Gefühl von Unruhe auslöst. In einer Passage in der Dialektik der Aufklärung (Mensch und Tier) entlarven Horkheimer und Adorno die Psychologie der klassischen Konditionierung als pure Herrschaftsideologie. Mittels ihrer Forschung an Tieren in Gefangenschaft zeige sie nichts über das Tier in Freiheit, aber sehr viel über den Menschen in der total verwalteten Welt des Kapitals.
2 Das ist gewiss eine gewagte These, die hier nicht näher begründet werden kann. Daher an dieser Stelle nur so viel: nicht jedes gewinnmachende Unternehmen ist wirklich gesellschaftlich gesehen kapitalproduktiv.
3 Zu Beginn des Kapitalismus im 15. /16. Jahrhundert waren es zunächst bürgerliche Kreise, die die kapitalistischen Prinzipien der Askese und Selbstüberwindung verinnerlichten. Erst mit weitergehender Durchkapitalisierung der Gesellschaft erfolgte dann die Ausdehnung dieser Prinzipien auf andere Teile der Bevölkerung. Entscheidend war dabei die Eingliederung der ArbeiterInnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 4 Dennoch fungiert das auf den Banken liegende Geld als Kapital. Ebenso wird der Produktionsprozess wirklich von KapitalistInnen kommandiert – die dabei aber nur innerhalb seiner Logik handeln können.
5 Missverständnisse sind hier voraussehbar: Stehen einander also doch zwei Klassen – Lohnarbeit und Kapital – unversöhnlich gegenüber? Fakt ist: Kapitalismus geht nicht ohne Klassen. Aber seine Entwicklung wird nicht vom Klassenverhältnis/ Klassenkampf bestimmt. Im jetzigen Kapitalismus scheinen sich die Grenzen zunehmend zu verwischen. Die ArbeiterInnen sollen sich heute als UnternehmerInnen ihrer Arbeitskraft betrachten.
6 Auch UnternehmerInnen leiden, verarmen in ihrer Gefühlswelt, werden psychisch krank aufgrund des kapitalistischen Produktionsprozesses, den sie kommandieren.
7 Es gibt im Kapitalismus drei Möglichkeiten, den Unterhalt zu bestreiten: als ArbeiterIn über den Lohn, als KapitalistIn über den Profit oder als GrundbesitzerIn über die Grundrente.
8 Das bedeutet nicht, dass Frauen nicht unter direkten oder eben indirekten Herrschaftsverhältnissen leiden.
9 Das geschieht heute durch das Management, was an der Sache nichts ändert.
10 Dass diese Trennung heute so nicht mehr besteht, ist keine Widerlegung dieser These, sondern ein Beweis dafür, dass die Arbeitsgesellschaft an ihr Ende gelangt.
11 Zugewiesen freilich nicht per Dekret oder Vertrag, sondern über eine historische Entwicklung.
12 In ihrer unerträglichen Dumpfheit verewigte die Linke dieses Prinzip mit ihrem Diktum vom Sein, welches angeblich das Bewusstsein bestimmt. Diese Formulierung stammt von Marx, war jedoch von diesem auf die kapitalistische Gesellschaft gerichtet und ist in dieser auch absolut treffend. Engels und vor allem Lenin und der an sie anschließende „Marxismus“ und „Marxismus-Leninismus“ machten daraus eine Ontologie: ein Natur- und Gesellschaftskonzept, eine „Weltanschauung“, nach der Menschen seit ihren frühgeschichtlichen Ursprüngen bis in alle Zukunft vom „ökonomischen Sein“ geprägt wären. Eine Befreiung von der ökonomischen Herrschaft und die Unterordnung dieser unter die menschlichen Bedürfnisse konnte und sollte in dieser Lehre nicht gedacht werden.
13 Im jetzigen Krisenkapitalismus erfolgt ein zunehmender Zerfall des traditionellen Geschlechterverhältnisses. Frauen bekommen nicht mehr die alten weiblichen Verhaltensweisen zugewiesen, sondern dürfen sich auch schon mal als „Karrierefrauen“ versuchen – die sich dann aber immer noch mit der Frage konfrontieren müssen, wie sie das mit „ihrer Familie“ vereinbaren können. Real nimmt die Diskriminierung von Frauen in der Zersetzung des kapitalistischen Patriarchats sogar noch zu: sie müssen sich sowohl in der öffentlichen als auch in der privaten Sphäre bewähren. Scholz bezeichnet diesen Zustand als „verwildertes Patriarchat“. Das allgemeine bürgerliche Bewusstsein versucht, diesen Sachverhalt kläglich mit dem Begriff der „Doppelbelastung durch Familie und Arbeitsplatz“ zu fassen, wobei vorausgesetzt wird, dass weder Familie noch Arbeitsplatz unerträgliche gesellschaftliche Zustände sind.
Literatur
Karl Marx: Das Kapital, 1. Band, Der Produktionsprozess des Kapitals, MEW 23.
Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, 1. Band (besonders im Anhang: Produktivität des Kapitals, Produktive und unproduktive Arbeit, S. 365ff und 4. Kapitel: Theorien über produktive und unproduktie Arbeit, S. 122ff); MEW 26.1.
Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000.
Roswitha Scholz: Der Wert ist der Mann, in Krisis 12, Bad Honnef 1992.
Roswitha Scholz: Wert und Geschlechterverhältnis, in Streifzüge 2/1999. Robert Kurz: Postmarxismus und Arbeitsfetisch, in Krisis 15, Bad Honnef 1995. Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt 1999.
Robert Kurz: Negative Ontologie, in Krisis 26, Bad Honnef 2003.
Norbert Trenkle: Was ist der Wert? Was soll die Krise? , in Streifzüge 3/1998.
Götz Eisenberg: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Gruppe Krisis: Manifest gegen die Arbeit, Leverkusen 1999.
Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, Grafenau 2001.
Karl-Heinz Wedel: Der Mensch als Unternehmer seiner Arbeitskraft, in Robert
Kurz/Norbert Trenkle/Ernst Lohoff: Feierabend. Elf Attacken gegen die Arbeit, Hamburg 1999.
Gaston Valdivia: Arbeit und Wahn, in Streifzüge 4/1998.
Gaston Valdivia: Der Eurofighter ist unsere Zukunft – Arbeit und Wahn II, in Streifzüge 1/1999.
Nur der Mensch ist ein Arbeitstier, in BRIGITTE 4/1994.
Erich Ribolits: Die Arbeit hoch, München 1995.
August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, Berlin 1976.
Friedrich Engels: Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in ders. : Dialektik der Natur; Berlin 1952, S. 179ff.