L’État c’est quoi …

NACHTRÄGLICHE BETRACHTUNGEN ZU EINER DISKUSSIONSVERANSTALTUNG

Streifzüge 1/2003

von Gerold Wallner

Gehen wir einmal davon aus, dass verschiedene Menschen mit linker Tradition, linken Neigungen, linker Vergangenheit und linken Perspektiven einander zu einem Seminar über den Begriff des Staats treffen. Gehen wir davon aus, dass ich einer davon war. Gehen wir davon aus, dass zur Erhellung des Begriffs Staat nichts beigetragen wurde, was nun danach verlangt, einige wesentliche Argumente und Fragen Revue passieren zu lassen.

Eine der Fragen, die ungeklärt bis zum Ausklang des Seminars blieb, wurde gleich anfangs gestellt: Ist es möglich, den Begriff des Staats auf seine wesentlichen Inhalte zu reduzieren, also eine real-abstrakte Form zu finden, aus der das Wesen des Staats und die Form der Staatlichkeit ableitbar wäre? Die Antworten waren divergierend insofern, als im ersten Referat behauptet wurde, die Menschenrechte hätten einen Einfluss auf den Staat, indem sie ihn zu gesellschaftlicher Emanzipation aufriefen – also zu einer Verpflichtung, der er nicht nachkommen könne, und sich so als im Widerspruch zur Gesellschaft stehend entlarve. Der Staat sei quasi das Gegenteil seiner Verfassung, respektive noch nicht einmal auf der Verfassung gegründet. Jeder Rekurs auf Menschenrechte desavouiere den Staat also als den Gewaltapparat, als der er sich realiter darstelle. Zwischen Gesellschaft und Staat tue sich eine Kluft auf, deren Inhalt die versprochenen und noch nicht eingelösten Forderungen von Demokratie und Menschenrechten seien. Doch seien diese Forderungen geschichtsmächtig genug, die vormoderne Gesellschaft an diesem Wunsch nach einem Staat, der eben jene Menschenrechte in seine Verfassung aufnehmen möge, zu blamieren, zu stürzen und eine neue Gesellschaft zu gründen, in deren Staatlichkeit der Kampf um die Durchsetzung dieser Forderungen vollends zum Durchbruch (und bei gutem Wind) zum Sieg gelangen möchte.

Gleichzeitig damit wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht genau dieses Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft mitsamt dem uneingelösten Versprechen von Menschenrechten und Demokratie noch heute weiter wirke, Demokratie und Menschenrechte sich also im Konflikt mit dem Staat befänden, was dann für die Kämpfe um eine emanzipierte Gesellschaft seine Auswirkungen und Grundlagen hätte.

Die beiden folgenden Referate befassten sich mit der ewig sich wandelnden Form des Staats, auch unter den Auspizien der letzten fünfzig Jahre und ihrer Entwicklung. So wurde festgestellt, dass vor allem das Verhältnis von Arbeit und Kapital, wie es sich durch Fordismus, fabbrica diffusa und Postfordismus hindurch darstellte, eine enge Verzahnung von gesellschaftlicher und staatlicher Entwicklung zum Ausdruck bringe; wo also in der vorigen Argumentationslinie noch eine Widersprüchlichkeit zwischen Staat und Gesellschaft aufgemacht wurde – exemplifiziert an der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung der europäischen Metropolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts -, beschränkte sich der zweite Strang der Vorträge darauf, empirische Argumente anzubieten (oder zu suchen), die sich mit den Staatsaufgaben und dem Rückzug des Staats aus ihnen befassen sollten, die – mit Hinweis auf den famosen ideellen Gesamtkapitalisten – das Bild von Klassenkampf und Machtfrage in den Vordergrund rücken. Dies wurde zu Recht kritisiert, bietet doch dieses Bild Abgleitflächen in den Reformismus oder Linksradikalismus an, die sich beide nur um die Macht im Staat (beziehungsweise um deren Übernahme) kümmern.

In der Diskussion der drei Referate schälte sich in nuce eine dritte Position heraus, die hier in aller gebotenen Kürze und daher nur thesenhaft vorgestellt werden soll.

Es gibt eine Formbestimmung des bürgerlichen Staats – so vage sie auch sein mag: Der bürgerliche Staat ist durch die Menschenrechte wesentlich formbestimmt. Es gibt also keinen bürgerlichen Staat – und in Folge werde ich das Wort „bürgerlich“ weglassen, da es keine vorbürgerlichen Staaten gegeben hat -, der nicht auf den Menschenrechten beruht. Der Staat entsteht erst auf bürgerlichem Territorium und zwar in nationaler Form. Dieses Territorium ist nicht durch einander überschneidende Souveränitäten (also die Geltungsbereiche kaskadierter vormoderner Privilegien und Verbindlichkeiten) gekennzeichnet, sondern durch den Geltungsbereich der auf Menschenrechten aufgebauten Verfassung. Souveränitäten, die wir aus dynastischen Beziehungen kennen, haben das Moment der Staatsbürgerlichkeit noch nicht begriffen, verinnerlicht und veräußert. Prinz Eugen von Savoyen stellte sich zwar dem Haus Habsburg untertan, blieb aber Angehöriger des Hauses Savoyen, auch wenn das Haus Capet nicht davon angetan war, die höfische Karriere des Savoyers im eigenen Bereich zu fördern, auch wenn das Haus Capet versuchte, die Karriere des Savoyers am Wiener Hof zu verhindern. Prinz Eugen von Savoyen blieb – egal wo – Savoyer, eine Situation, die mit Staatsbürgerschaft oder Doppelstaatsbürgerschaft nicht annähernd umschrieben werden kann.

Die Menschenrechte, die diese Formbestimmtheit des bürgerlichen Staats ausmachen, nehmen zwar in Anspruch, für die gesamte Menschheit zu sprechen, sind aber jeweils nur durchsetzbar auf nationaler Grundlage. Diese Grundlage muss nicht unbedingt territorial fixiert sein, es genügt, dass die Menschenrechte von einem Territorium, das sie schon kennt, gewaltsam auf ein andres übertragen werden, das sie noch nicht kennt oder – in Kenntnis der Menschenrechte – sich ihnen mit gutem Grund widersetzt.

Wenn ich sage, es handle sich bei den Menschenrechten um eine Formbestimmtheit, nicht um eine inhaltliche Bestimmtheit, muss ich diesen – nur scheinbaren – Affront gegen die linke Tradition und gegen alles, was ihr lieb und wert ist, betonen und erklären. Die Menschenrechte stellen meines Erachtens eben nicht einen inhaltlichen Bezugspunkt auf den Staat dar, sondern bloß einen formalen: wie weit ein aktueller gegebener Staat Menschenrechte in welcher juridischen Festschreibung verwirklicht hat, was kontrafaktisch gegen ihn noch einzuklagen wäre, welche emanzipatorischen Potenzen die nicht zur Gänze verwirklichten Menschenrechte bereithielten im Kampf um eine neue Gesellschaft, spielt für diesen gegebenen Staat keine Rolle. Es genügt ihm, dass er sich – im wahrsten Sinne des Worts – auf die Menschenrechte gründet, sie in seinem Wappen führt und daraus seine Legitimation ableitet – was auch immer sein gesellschaftlicher Inhalt sein möge.

Menschenrechte stellen also diesen formalen – nicht inhaltlichen – Rahmen, diese Grundlage des Staats her, indem sie eben bloß staatlich begrenzt, also durch den nationalen Charakter des Staats, also einfach auf definierten Räumen wirken. Was zählt, ist also bloß der Geltungsrahmen in den Teilen der Welt, die sich die Menschenrechte geben. Gleichzeitig ermöglichen und erheischen die Menschenrechte, dass sie über die spezifische nationale eigenstaatliche Anwendung und Exemplifizierung hinaus universal gültig werden müssen – als movens der Konkurrenz; welcher Staat setzt sie am besten, am reinsten, am humansten (im eigenen Interesse wie im Interesse der Menschheit) durch? Ihr Formales wird deutlich dadurch, dass ihre Geltung sich ohnedies nur auf Abstraktes bezieht, also auf die Freiheit, zusammenzukommen und Meinungen zu äußeren, was keinerlei inhaltliche Füllung verlangt. Dies ist auch der Unterschied zwischen der bürgerlichen Rechtsform und der vorbürgerlichen Form des Privilegs, das für Personen, Zeiten und Orte festlegt, was wo für wen wie lange zu gelten hat. Wollte nun eins ähnliche Konkretionen an Hand der Menschenrechte vornehmen, zeigt sich sofort, wie inhaltlich unmöglich dies wird: Bloß auf Grundlage der Menschenrechte können inhaltliche Ausformungen entstehen; dieses Zustandekommen zu garantieren, ist Inhalt der Menschenrechte und Aufgabe des darauf gegründeten Staats. Jedes Gesetz, jeder Vertrag, jede Vereinbarung ist legal, solange in einer Verfassung geborgen, die auf den Menschenrechten ruht. Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht ein Einspruchsrecht, sondern nur die garantierte Möglichkeit, jeden Unsinn ungestraft absondern zu können und in der Gemeinsamkeit abgesonderten Unsinns sich geborgen fühlen zu können (oder recte müssen).

Menschenrechte sind durch ihre staatliche Begründung schon als selektiv definiert. Sie gelten territorial und national. Der Staat muss, um den Menschrechten diese selektive Gültigkeit nach innen und außen zu garantieren, jede Definitionsgewalt von Freiheit und Gleichheit an sich ziehen. War also in vorbürgerlichen Zeiten der Freie und Gleiche der bewaffnete Mann, so erscheint nun der Freie und Gleiche als entwaffnet. In Verbindung damit wird das gesamte Arsenal an gesellschaftlicher Konfliktlösungskompetenz – das militärische wie das konsensuale, politische – an den Staat abgegeben. Wer eine Waffe trägt, tut dies nur noch im Auftrag des Staats; keineswegs erlaubt das Tragen der Waffe, einen Konflikt zu lösen, höchstens die Lösung dieses Konflikts an den Staat weiterzuleiten und dessen Kompetenz zu bewahren. So gilt dann eben nur noch eine Rechtsform, und deren Beschreibung als Rechtsstaat können wir hier aufsparen. Nur so viel sei angemerkt. Der Rechtsstaat garantiert nichts anderes als das legale Zustandekommen der Gesetze. Hier wird seine Inhaltslosigkeit deutlich. Der Inhalt des Gesetzes wird von der Rechtsstaatlichkeit nicht berührt, aber nicht fürstliche Willkür bestimmt das etwa Empörende an einem gesetzlichen Inhalt. Vielmehr sind es die Menschenrechte, die ihre eigene Leere reproduzieren, so wie das Geschwätz der Meinungsfreiheit sich ausbreitet. Die Menschenrechte erlauben jedes Zusammenkommen; ja mehr noch, sie verpflichten die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger geradezu darauf, zusammenzukommen, einander in ihren Zusammenkünften immer wieder aufs Neue zu versichern, den Konsens bürgerlicher Geselligkeit immer und immer wieder herzustellen. So bedeutet eben Meinungsfreiheit gerade nicht, dass Überzeugungen, Erfahrungen oder Einsichten ausgetauscht werden mit dem Ziel, irgendetwas zu ändern oder zu korrigieren. Vielmehr dienen die Zusammenkünfte (vor dem Fernsehgerät, am Stammtisch, bei der Meinungsforschung) nur dazu, ein Hintergrundgeräusch zu produzieren, das bloß Einverständnis produziert. Dass eins seine Meinung von sich gibt im Brustton der Überzeugung, dies sei seine Meinung und in einer Demokratie könne ein jedes eine jede Meinung äußern, ist genau, was Meinungsfreiheit garantiert und von den Äußernden verlangt. Nicht der Inhalt zählt, sondern die Tatsache, dass mit dem Äußern der Meinung Zustimmung produziert wird. Ein Staat, der auf dieser Art von Konsens beruht, kann seine Form, was immer dann ihr Inhalt sein mag, nur von den Menschenrechten beziehen.