Der Triumph des Irrealis

ARBEITSWAHN UND LINKE IDENTITÄT

Streifzüge 1/2003

Ernst Lohoff

In den späten 70er und frühen 80er Jahren galt es nicht nur im links-alternativen Spektrum, sondern auch auf Soziologentagen als ausgemacht: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Die mikroelektronische Revolution verwandelt nicht allein mechanische Schreibmaschinen, sondern auch die Ware Arbeitskraft auf breiter Front in einen unverkäuflichen Anachronismus. Die zunehmende Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Arbeit muss zu einem grundlegenden gesellschaftlichen „Wertewandel“ führen. Allenthalben wollte man bereits eine neue, „postmaterielle Orientierung“ (Ingelhard) erkennen. Am historischen Horizont schien sich eine „Tätigkeitsgesellschaft“ (Dahrendorf) abzuzeichnen, die bewusst mit dem Primat der Erwerbsarbeit bricht.

Ein Vierteljahrhundert später erscheint diese Erwartung in einem seltsamen Zwielicht. Der erste Teil der Prognose hat sich zwar bestätigt, aber nur um die damit verknüpfte Hoffnung gründlich zu blamieren. Zyklus übergreifend betrachtet, wächst die Masse des für das globalisierte Kapital unverwertbaren, und damit vom arbeitsgesellschaftlichen Standpunkt überflüssigen Menschenmaterials. Statt mit einer Relativierung des arbeitsgesellschaftlichen Diktats ging diese Entwicklung aber mit dessen Verschärfung einher. Noch nie war die Arbeitsgesellschaft so sehr Arbeitsgesellschaft wie heute. Je prekärer langfristig die Gesamtperspektive für die Anbieter auf dem Arbeitsmarkt, desto brutaler der Zwang, die eigene Arbeitskraft doch noch loszuschlagen, desto entschiedener fühlt sich jeder verpflichtet, das größte Glück auf Erden im erfolgreichen Managen seines „Humankapitals“ zu sehen. Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist Wirklichkeit geworden, um aus der öffentlichen Debatte zu verschwinden. Das herrschende Bewusstsein macht überall Unflexibilität und Sozialschmarotzertum aus; es schwadroniert von „Nieten in Nadelstreifen“, die Unternehmen in Sackgassen geführt haben sollen und von verkrusteten sozialstaatlichen Strukturen, die unbedingt aufgebrochen werden müssen; der eigentlich naheliegende Gedanke, der arbeitsgesellschaftliche Imperativ könne das eigentliche Problem sein und nicht die mangelnde Bereitschaft ihm Genüge zu tun, darf aber nicht mehr ausgesprochen werden.

Dass die politische Klasse mit Leerformeln und Lügen hantiert, ist man seit jeher gewohnt. Heute ist sie aber einen Schritt weiter und bezieht sich nur noch halluzinierend auf die soziale Realität. Regierung und Opposition und die assistierenden Experten- Idioten kennen nur noch einen Modus operandi, den Irrealis. Die Dekonstruktivisten hatten die Krisen-Welt nur weginterpretiert, unter Schröder und Hartz wird die Entsorgung von Wirklichkeit zur unmittelbaren materiellen Gewalt.

Das gesamte weltwirtschaftliche Gefüge kracht, in Deutschland aber hat man davon offenbar noch nichts gehört und führt unverdrossen eine denkbar provinzielle „Standortdebatte“. Die Folgen des New- Economy-Crashs bringt es ans Licht, der Arbeitsgesellschaft bricht der Boden unter den Füßen weg. Ausgerechnet mitten in der Rezession aber meinen die wildgewordenen „Reformer“, der 1. Arbeitsmarkt müsste jetzt die Menschen aufnehmen, die schon während der kasinokapitalistischen Boomphase bestenfalls auf dem 2. unterzubringen waren. Die Förderung prekärer Selbständigkeit und Lohnsubventionen sollen staatliche Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen ersetzen.

Die Regierung erklärt der Arbeitslosigkeit den Krieg, ein Krieg freilich, der soweit er nicht auf einen Kampf gegen die Arbeitslosen hinausläuft, sich auf seltsame Umbenennungen reduziert. Der Kanzler lässt die Arbeitsämter schließen, um sie als „Job-Centers“ neu zu eröffnen. Er kennt keine Arbeitslosen, sondern nur noch Ich- AGs und Angestellte der den künftigen „Job Centers“ angegliederten Personal- Agenturen. Dass deren Wochenarbeitszeit in der Regel bei Null Stunden liegen dürfte, verschwindet im Kleingedruckten.

Halluzinationen und ihre materielle Basis

Aber nicht nur die politische Klasse flüchtet sich in Realitätsverleugnung. Insgesamt gilt: gestern noch abgedrehte Theorie, heute vulgäre gesellschaftliche Praxis. Nicht dass der auf den Verkäufer-Verstand zusammengeschrumpfte durchschnittliche Waren-Verstand die von Baudrillard ausgegebene Parole von der „Substituierung des Realen durch das Zeichen des Realen“ schon mal gehört hätte, in Fleisch und Blut übergegangen ist sie ihm dennoch. Dementsprechend weiß er alle Wirklichkeit in Diskurswirklichkeit aufzulösen. Wirtschaft beruht zur Hälfte auf Psychologie, schallt es aus jedem Kindergarten; also heißt es positiv denken, auf dass sich die andere Hälfte von alleine findet.

Schlechte Zeiten für Berufs-Satiriker; ein Volk von Realsatirikern macht sie überflüssig. Schlechte Zeiten für Ideologiekritiker, solange Ideologie (notwendig) falsches Bewusstsein bezeichnet. Denn der Zeitgeist hat viel von einer Gespensterparade, aber wenig mit Bewusstsein zu tun.

Dieser amnestisch-halluzinatorische Zustand lässt sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen, sondern nur als Mischung verschiedener Betäubungsmittel und als das Ergebnis eines ganzen Motivcocktails beschreiben. Zu den Hauptingredienzien gehört sicherlich das Erbe der kasinokapitalistischen Phase. In den 80er und 90er Jahren gelang es der Arbeitsgesellschaft ihre fundamentale Krise, zumindest für ihr Kernsegment, zu überspielen. In diesem Zeitabschnitt brachte sie das Kunststück fertig, den Vorgriff auf künftige Arbeit, Arbeit die realiter nie verausgabt werden wird, zur Grundlage gegenwärtiger Arbeit zu machen. Die IT-Luftschlösser sorgten nicht nur in den vermeintlichen Zukunftssektoren selber für einen beispiellosen Boom und für eine ganze Menge lukrativer Jobs; die von diesen Sektoren getragene Dynamik fiktiver Kapitalverwertung, also die Kapitalisierung ungedeckter Erwartungen, generierte überhaupt ein erkleckliches wirtschaftliches Wachstum und damit künstliche Beschäftigung. Mit diesem eigentlichen Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts ist es mittlerweile vorbei; das materielle Substrat der Simulation, der als sich beständig aufblähende private Kreditschöpfung sich monetarisierende Glau- ben an die arbeitsgesellschaftliche Zukunft, ist in Auflösung begriffen. Damit lösen sich die entsprechenden Bewusstseinsformen aber noch lange nicht in Wohlgefallen auf. In der Wendung zum Halluzinieren erhebt sich das simulative Denken über seinen realen Bedingungszusammenhang und findet gleichzeitig einen Ersatz und eine Fortsetzung. Nachdem sich der Traum des neuen Kapitalismus, die Entfesselung der totalen individualisierten Konkurrenz würde einen ewigen kapitalistischen Frühling garantieren, in den Avantgarde-Sektoren blamiert hat, soll das Phantasma durch Verallgemeinerung erneuert werden. Wenn unterschiedslos alle – vor allem die vergessenen Verlierer – sich auf die vollständige Selbstzurichtung als Marktsubjekte verpflichten, bisher das besondere Privileg der so genannten Gewinner, dann wird alles doch noch gut!

Krisenmöblierung

In der großen postkasinokapitalistischen Geistertanzbewegung schwingt ein sadistisches Moment mit. Was der „Leistungsträger“ sich angetan hat und weiter antut, soll sich gefälligst jeder antun müssen, und zwar – wie die Ex-Gewinner zunehmend auch – ohne Gratifikationen. Rache für die geplatzten, von Alpträumen kaum unterscheidbaren Hoffnungen, Rache, egal an wen. Das allein erklärt freilich für sich genommen noch nicht die aberwitzige Bereitschaft, Schnitte ins soziale Netz zu akzeptieren und zu fordern. Wichtiger ist der Gesichtspunkt der Autosuggestion. In einer Gesellschaft, deren Mitglieder die Pose des autistischen Siegers und der Zwang sich zu verkaufen zur zweiten Natur geworden, verkehrt sich selbst noch die Niederlage zu einem Sieg der etwas anderen Art. Gerade die „neuen Selbständigen“ der Avantgarde-Sektoren lehren uns heute, nicht nur im Beruf, auch beim Konsum, machen Höchstleistungen in Sachen Flexibilität den wahren Erfolgsmenschen aus. Blöde klassische Arbeitnehmer mögen bei Einkommensverlusten von ein paar läppischen Prozent gleich auf die Barrikaden steigen. Der neue IT-Selbständige bleibt cool und sitzt eine Halbierung seines Einkommens locker aus.

Werbung und Zeitgeistliteratur haben die Zeichen der Zeit längst erkannt. Die Figur des „neuen Loser“ (FAZ vom 24.11.2002), unter allen Umständen fähig sich in eine „Win-Win-Situation“ hineinzuphantasieren, macht Karriere. Ikea präsentiert derzeit stolz, wie Krisen angepasstes Wohnen es erlaubt auf der Grundfläche einer Gefängniszelle problemlos und nett einen ganzen Singlehaushalt unterzubringen, Platzangst-Resistenz vorausgesetzt. Der Elektronik-Händler Saturn gibt neuerdings die Parole aus: „Geiz ist geil“. Noch viel gruseliger als diese ästhetisierenden neo-asketischen Darbietungen ist aber, dass sich diese neue Sorte von Autosuggestions- Kunst im Alltag tatsächlich überall eins zu eins breit macht.

Krise welche Krise?

Die Verwandlung der Arbeits-Kirche in die größte Esoterik-Sekte aller Zeiten, die Chuzpe mit der die aberwitzigsten Zumutungen als „unkonventionelle Lösungsansätze“ verkauft und in Szene gesetzt werden, schreit geradezu nach einer entschiedenen Gegenpositionierung. Bis jetzt wird aber keine Stimme hörbar, die ausspricht, wie splitternackt die glorreiche Arbeitsgesellschaft dasteht. Nennenswerter Widerstand regt sich nicht und Kristallisationspunkte, an denen er sich formieren könnte, lassen sich bislang ebenso wenig ausmachen. Die Linke jedenfalls zeigt sich völlig gelähmt. Auf ihrer Weise hat sie selber Teil an der neuen Form des Irreseins. Das gilt zunächst einmal für die Wirklichkeitswahrnehmung. Ob postmodern- kulturalistisch oder klassenkämpferisch orientiert, in der Disziplin Weghalluzinieren der fundamentalen arbeitsgesellschaftlichen Misere rangiert die Linke auf einem der absoluten Spitzenplätze. Bei manchen von den einschlägigen Diskursen nachhaltig Verblödeten hat man den Eindruck, sie werden auch dann noch unerschüttert „Krise welche Krise“ vor sich hinbrabbeln, wenn sie genötigt sind, auf der Suche nach Essbarem Mülltonnen zu durchstöbern.

Argumentativ steht die Annahme, die warengesellschaftliche Normalität würde munter weiterfunktionieren, auf recht schwachen Füßen. Die Begründung dieser Sicht, falls man von so etwas wie einer Begründung überhaupt sprechen kann, folgt eigentlich immer dem gleichen Grundmuster: Der Verlust der Alternativen zum totalen Markt und das ungestörte Funktionieren des Systems der Wertverwertung werden in eins gesetzt. Soweit sich das linke Geschwätz vom Fortbestehen der kapitalistischen Normalität überhaupt auf die Ebene von Arbeit und Ökonomie einlässt, kommt diese Kurzschlusslogik pseudoempirisch daher und zählt eifrig Äpfel und Birnen zusammen. Es nimmt die Beschäftigung in den wertproduktiven kapitalistischen Kernsektoren und die verzweifelten Versuche von Abermillionen Menschen am Rande und in den Nischen der Arbeitsgesellschaft irgendwie über die Runden zu kommen als das Gleiche. Die Überarbeit von Dienstmädchen, Papiersammler und Kleinsthändler in der Dritten Welt, und hunderttausenden, meist klandestinen Küchenhilfen in Westeuropa und den USA, die auf sekundären und tertiären von der Wertakkumulation in den Kernsektoren abhängigen Arbeitsmärkten ihr Dasein fristen, wird zur Grundlage der Wertproduktion mystifiziert. Die Tatsache, dass Menschen auch und gerade in der Krise um jeden Preis ihre Haut zu Markte tragen und loswerden müssen, wird mit gelingender Wertverwertung gleichgesetzt und damit dass die vom kapitalistischen Standpunkt Überflüssigen gar nicht überflüssig wären. Der Arbeitsmarkt unterscheidet sich in einer Hinsicht grundlegend von allen anderen Märkten. Während schwindende Nachfrage nach einer Ware und sinkende Preise für sie ansonsten letztlich zu weniger Produktion und weniger Angebot führen, müssen die Besitzer der Ware Arbeitskraft angesichts schrumpfender Absatzmöglichkeiten ihr Angebot vermehren. Im Gefolge der Krise der Arbeitsgesellschaft kommt diese Anomalie zum Tragen. In den wirren Köpfen der linken Krisenleugner verkehrt sich aber dieses Symptom der arbeitsgesellschaftlichen Misere zum Beweis ihrer Nicht-Existenz!

Die Spaßgesellschaft und ihre Freunde

Es ist grotesk, vom Fortbestehen des Formzwangs auf den ungestörten Fortgang der Akkumulationsbewegung zu schließen. Es fällt nicht sonderlich schwer, klarzulegen warum. Nicht ganz so einfach lassen sich die altlinken Essentials ausmachen und kritisieren, auf denen der gegen die simpelsten wirtschaftlichen Oberflächenzusammenhänge und Grundlagen der Kritik der politischen Ökonomie gleichermaßen resistente Glaube an die ewige Überlebensfähigkeit des Kapitals fußt. In erster Linie dürfte hier die tief in linke Köpfe eingespurte Subjekt-Illusion zu nennen sein. Von irgendwelchen Selbstwidersprüchen der kapitalistischen Logik will man partout nichts wissen und kann sich der Tradition entsprechend grundsätzlich nur ein prinzipielles Problem vorstellen, mit dem es der Kapitalismus zu tun haben kann, den bewussten Angriff irgendeines revolutionären Subjekts auf die kapitalistische Ordnung. Davon kann nicht die Rede sein, ergo der Kapitalismus muss sich im grünen Bereich bewegen.

Fast wichtiger als die Frage nach dem Wie linker Realitätsverweigerung ist freilich das Warum. Welche identitären Barrieren haben sich in den letzten beiden Dekaden aufgebaut, die gerade dem linken Soziotop den Blick versperren?

Die 80er und 90er Jahre werden bekanntlich kaum als Hochzeit oppositioneller Bestrebungen in die Geschichte eingehen. In einer Phase kapitalistischer Entwicklung, die keine Gesellschaft mehr kennen wollte, sondern nur noch Individuen, und den Selbst-Verkäufer-Standpunkt als Inbegriff von Freiheit und Menschsein abfeierte, schienen sie zum Anachronismus zu mutieren – dummerweise aber nicht nur in den Augen ihrer Gegner. Statt selbstkritisch die eigenen inhaltlichen Beschränkungen zum Thema zu machen, die das linke Denken an die Konstellationen einer untergegangenen Epoche kapitalistischer Entwicklung fesseln – Voraussetzung gesellschaftskritischer Neuformierung – verzweifelte die Linke nur an sich selber und am emanzipativen Anspruch überhaupt. Sie begann das Dasein eines Überwinterungsund Erbverwaltervereins für abgewickelte Hoffnungen zu führen.

Gerade durch diese Selbstverbunkerung gab sich das linke Milieu aber dem Einfluss des neoliberalen Zeitgeistes und dem neuen Ausgrenzungskapitalismus preis. Nicht dass sich die Linke nicht auch weiterhin gegen den Ausschluss von Menschen gewandt hätte, wie sie es seit jeher getan hat; diese Frontstellung richtete sich aber einseitig gegen den Versuch die Desintegrationstendenzen der Warengesellschaft in ein sexistisch, rassistisch orientiertes Apartheidsystem zu transformieren. Ausgeklammert blieb dagegen die mit dem neurasthenischen kasinokapitalistischen Boom einhergehende soziale Ausgrenzung. Sieht man von dem zusammenschmelzenden Häuflein von Gewerkschaftslinken und ein paar verstreuten Einzelkämpfern ab, behandelte die 90er-Jahre-Linke die „soziale Frage“ kaum weniger als Anathema als die Leitideologie der kasinokapitalistischen Ära, der Neoliberalismus. Damit verzichtete die Linke aber nicht nur freiwillig auf jede Chance so etwas wie eine weiterreichende gesellschaftliche Wirksamkeit wiederzugewinnen; einer an Sozialkritik völlig desinteressierten Linken droht spätestens angesichts der realen, die Hegemonie des Neoliberalismus über den Haufen werfenden Krisenschübe die Degeneration zu einer Facette des mehrheitsdemokratischen Irrsinns.

Identitätspolitische Skurrilitäten

Mittlerweile ist diese Gefahr Wirklichkeit geworden. Insbesondere in dem Segment der Linken, das sich selber gerne als „Radikale Linke“ bezeichnet und die etwas gehobeneren intellektuellen Ansprüche bedient, haben sich gleich zwei Varianten der Umwidmung von Pseudogesellschaftskritik in offene Apologie des Amok laufenden Kapitalismus herausgemendelt. Sowohl die tonabgebenden Teile der deutschen Pop- Linken als auch der einseitig auf Ideologiekritik orientierten hiesigen Linken sind sich einig: das Gebot der Stunde heißt Verteidigung der Spaßgesellschaft und der heilen schrillen West-Werbung-Welt.

Was die kulturalistische Linke angeht, entbehrt der Absturz ins Bodenlose nicht einer gewissen Folgerichtigkeit. Auf ihre Weise geht schon die kulturalistische Wendung während der 80er Jahre auf einen grundsätzlichen Baufehler der Neuen Linken zurück. Auch in den Zeiten, als diese dem inhaltlichen Anspruch nach um eine allgemeine soziale Veränderung bemüht war, handelte es sich bei ihr selber – zumindest in Deutschland und Österreich – um ein kulturelles Phänomen. Der Bezug der Gegenkultur auf die soziale Frage hatte wenig mit einer Kritik der eigenen sozialen Existenzweise zu tun, aber viel mit Sozialromantik. Nachdem sich diese Form arbeiter- bzw. randgruppen-seliger Stellvertreterpolitik blamiert hatte und sich auch der idealistische Elan in Sachen „Menschheitsthemen“ Ökologie und Frieden verbraucht hatte, stellte die kulturalistische Wendung so etwas wie Kongruenz von Inhalt und Form her. Dieses Segment der linken Szene überlebte und etablierte sich, indem es das zu seinem eigentlichen Inhalt machte, was schon vorher das wesentliche Bindemittel linker Identität gewesen war, ein bestimmter Konsum- und Freizeitstil eine gemeinsame subkulturelle Orientierung. Von Krisenschüben, die diesen selbstgenügsamen, in die allenthalben entstandene Beliebigkeitskultur gut eingebetteten Lebensstil über den Haufen werfen könnten, will diese Spießerfraktion verständlicherweise genauso wenig wissen wie alle anderen Häuslebauer-Fraktionen.

Der über ideologiekritischen Reduktionismus führende Weg zur Apologie des westlichen Kapitalismus hat einen etwas anders gearteten identitätspolitischen Untergrund. Diese Sekundärpathologie erwächst unmittelbar aus der Selbstisolierung der hiesigen Linken und ist überhaupt nur als Frucht extremer Selbstbezüglichkeit verständlich. Schon seit geraumer Zeit hat sich eine innerlinke Minderheit von Ex-Szene- Angehörigen zu Verwaltern der Altbestände gesellschaftskritischer Theorie aufgeschwungen, die diese Rolle dadurch aufzuwerten versucht, dass sie jede Realanalyse des heutigen Kapitalismus für überflüssig erklärt und das Nachdenken über eine emanzipative Perspektive für reaktionär. Sie schöpft ihren identitären Mehrwert daraus als Schriftenausleger gewohnheitsmäßig ihren ehemaligen Artgenossen die Leviten zu lesen und dafür mit Abwehrreaktionen belohnt zu werden. Negativ auf die linke Szene und ihre Kapriolen fixiert, verschafft den Ideologiekritikern der Verfall der Szene-Politik und die tatsächlich vorhandenen Berührungspunkte des traditionellen linken Denkens mit antisemitischen und rechten Vorstellungen allerlei Gelegenheit sich szene-intern in Szene zu setzen. Aus diesem unfruchtbaren Spiel wird offener Irrsinn, wo die Polemik gegen die Wald- und Wiesendummheiten der Linken in Legitimation ihrer Gegner umschlägt. Die Grenze zum Abfeiern der Amok laufenden westlichen Demokratie im Zusammenhang mit dem 11. September ist überschritten. Allzeit abrufbereit steht aber ein anderes irres Verdikt im Raum: Wer sie stellt, ist im besten Fall Reformist, im schlimmsten Fall begibt er sich in die Nähe des Antisemitismus.

Linke Schizophrenie

In der Linken dürften Menschen, die sich unter prekären Bedingungen über die Runden retten oder einer ungewissen Zukunft entgegengehen, deutlich überrepräsentiert sein. Dass der arbeitsgesellschaftliche Zwang heute eine neue, terroristische Qualität gewinnt, trifft diese Menschen unmittelbarer und härter als den Bevölkerungsdurchschnitt. Zur Szene-Identität aber gehört es, die eigene Reproduktion als Privatproblem zu handhaben und ein Doppelleben zu führen. Das für die Warengesellschaft charakteristische Spaltungsirresein wird hier reproduziert, ja auf die Spitze getrieben. Die Linke hat Teil an der allgemeinen Leugnung der arbeitsgesellschaftlichen Misere, und droht doch gerade deshalb ihr zum Opfer zu fallen. Die eingebürgerte Art von oppositionellem Dasein wird immer mehr zum biographischen Luxus. Unabhängig von allen ideologischen Fragen und Konjunkturen stellt sich die Frage wer es sich psychisch und finanziell auf Dauer leisten kann, gleichzeitig in einer Welt zu leben, in der Arbeit und sich verkäuflich machen alles ist und in einer, in der all das nicht vorkommt.

Auf den ersten Blick könnte der Kontrast zwischen der heutigen und der 70er Jahre Linken kaum schärfer ausfallen. Damals war die „soziale Frage“ noch ein, wenn nicht das zentrale Thema gewesen. Die Beschäftigung mit der Realität der Arbeitswelt fand nicht nur in einer eigenen Literaturgattung ihren Niederschlag, trotz (vielleicht auch wegen) ihren sozialromantischen Tendenzen, strahlte die linke Diskussion auf gesamtgesellschaftliche aus. Die Linken übernahm so etwas wie eine Katalysator- und Avantgarderolle für den letzten großen arbeitsgesellschaftlichen Integrationsschub, die sozialdemokratische Reformära. Die marginalisierte Linke unserer Tage dagegen kennt die soziale Frage nicht mehr.

Nichtsdestotrotz hat sich in diesem Umschwung etwas Wesentliches erhalten: ein grundlegend schizophrener Umgang mit dem arbeitsgesellschaftlichen Zwang. Schon zu den Hochzeiten der Neuen Linken ließ sich eine linke Biographie kaum ohne Distanz zur arbeitsgesellschaftlichen Normalität vorstellen. Ob affirmativer Bezug auf die Arbeit oder Ignoranz gegenüber der sozialen Problematik, linke Biographien fanden immer in den von der Arbeitsgesellschaft gelassenen Poren statt. Die Verschärfung des arbeitsgesellschaftlichen Terrors lässt nur zwei Optionen. Entweder verschwindet dieser lebensweltliche Hintergrund zusehends oder die Absetzbewegung vom Arbeitsterror wird selber zum zentralen Inhalt oppositioneller Bestrebungen erhoben. Das Ende des individuellen Durchlavierens durch die arbeitsgesellschaftlichen Zumutungen lähmt jede oppositionelle Regung oder sie wird Ausgangspunkt für kollektiven Widerstand, der weit über die heutige Restlinke ausstrahlt.