Desinteresse und Deklassierung
LIEGEN GEBLIEBENE UND ÜBERARBEITETE TRÜMMER ZU KLASSE UND KLASSENKAMPF
Streifzüge 3/2002
von Franz Schandl
Eine Selbstbestimmung des Arbeiters im Arbeitsprozess kann es nicht geben, denn dieser hat mit dem Verkauf der Ware Arbeitskraft sich seiner Souveränität entledigt. Hier verdinglicht sich der Mensch zur Sache, übereignet nicht bloß einen Gegenstand, sondern sich selbst dem Käufer. Die Selbstbestimmung zur Arbeitskraft widerspricht geradezu seiner Selbstbestimmung als Arbeitskraft. Hier gilt ganz kategorisch: “ Was der Käufer einer Ware mit derselben anfangen will, ist dem Verkäufer durchaus gleichgültig. „1 Auch wenn er selbst diese Rolle wahrnimmt. Ist die Arbeitskraft verkauft, ist der Arbeiter dem Käufer ausgeliefert. Wie könnte es im Kapitalismus auch anders sein? Was einer kauft gehört ihm, und wenn es ein Mensch ist.
Daran ändert auch keine Mitbestimmung etwas. Überhaupt: Mitbestimmung? Dass einem nicht bei dem Wort schon graust? Es geht dabei vornämlich darum, Unfreiheit gar nicht mehr zu empfinden, sondern sie selbstständig zu gestalten. Sich nicht bloß unterwerfend zu fügen, sondern sich mit der gesellschaftlichen Verfügung gleich noch mal zu verbrüdern. Unterdrückung ist nicht, denn sonst könnte ich ja nicht dafür sein, meint der Knecht, der sein eigener Herr ist. Mitbestimmung (z. B. corporate identity) liegt voll auf der Linie neuerer Managementmethoden, ist also keine beginnende Alternative zur Verwertung, sondern ein ganz spezifischer Treibsatz derselben. Demokratie meint ja schließlich: Wir werden nicht gezwungen, wir zwingen uns selbst. Uns braucht man nichts anschaffen, wir erledigen das von alleine. Im linksdemokratischen Slang nennt sich das „Demokratisierung der Arbeitswelt“.
Der Selbstbestimmte kann nie Arbeiter sein, und der Arbeiter niemals selbstbestimmt. Das wäre so, als könnte der Verkäufer sich nachträglich einmischen, was der Käufer mit der erstandenen Ware anzustellen hat. Die Perversität dieser Normalität demonstriert sich eben gerade auch im Zugriff auf den lebendigen Menschen, abgeschwächt nur durch eine gesellschaftlich notwendige Arbeiterschutzgesetzgebung. Die Arbeiter sind selbstbestimmt als Warenverkäufer ihrer Ware Arbeitskraft, als Ware Arbeitskraft sind sie sodann unterworfen. „Ihre Kooperation beginnt erst im Arbeitsprozess, aber im Arbeitsprozess haben sie bereits aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit dem Eintritt in denselben sind sie dem Kapital einverleibt. Als Kooperierende, als Glieder eines werktätigen Organismus, sind sie selbst nur eine besondere Existenzweise des Kapitals.“ 2 „, Wertschöpfung‘ ist Umsatz von Arbeitskraft in Arbeit. „3 Diese wird personifiziert durch den Arbeiter, die Arbeiterin. Ihre Rolle ist vorbestimmt. Darin, und nur darin besteht ihre Funktion in der kapitalistischen Gesellschaft.
Die wirkliche Selbstbestimmung des Arbeiters wäre seine Überwindung. Arbeiter ist so dem Kommunismus keine positive Kategorie. Ziel des Kommunismus ist die Abschaffung des Proletariats. Nichts anderes sagt der Begriff der „klassenlosen Gesellschaft“ aus.
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Klassenkampf meint also nimmer mehr Befreiungskampf, sondern bedeutet Einbunkerung in eine Position, die strategisch sowieso nicht zu halten ist. Klassenkampf meint, dass die Charaktermasken bejaht werden, dass man seine Rolle spielen und ihre Interessen vertreten will. Klassenkampf meint, der Arbeiter soll Arbeiter bleiben. Im Klassenkampf geht es eben absolut nicht darum, die Hülle der Rolle zu sprengen, sondern sie effektiv zu füllen.
Nicht zum Ausdruck hat sich der Proletarier zu bringen, sondern er hat als potenzieller Mensch ausdrücklich gegen seine Funktion Stellung zu beziehen. Um zu sich zu kommen, muss er außer sich sein, eben nicht simpel sich mit seinem Daherkommen identifizieren, sondern dieses auf Schritt und Tritt in Frage stellen. Nicht irgendein Klassenbewusstsein ist gefragt, sondern Denken wider die normierten und absehbaren Schicksale. Der Nucleus des Ich ist die Attacke gegen sich. Nicht: „Ich bin stolz darauf, Arbeiter zu sein“, ist angesagt, vielmehr: „Ich will kein Arbeiter sein! “ Dies sollte jedoch nicht als bloß individueller Wunsch auftreten, sondern sich als kollektives Anliegen organisieren. Nichts hat eine Ware zu sein! Freilich, solange das Kapital herrscht, soll jeder seine Haut so teuer wie möglich verkaufen, aber schlussendlich geht es darum, dass niemand (s)eine Haut verkaufen muss und kaufen kann. Von den neuen Transvolutionären wird also eine hohe Erkenntnisleistung gefordert, die aber nicht nur Wissen sein soll, sondern auch im Gefühl sich einnistet. Gefordert ist nichts weniger als ein schizophrenes doppelt bewusstes Bewusstsein, eines, das Absicht und Lage auseinander zu halten versteht, eines, das nicht vor den irren Verhältnissen kapituliert, aber auch nicht irre wird ob der irren Verhältnisse.
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Atypische Beschäftigungsverhältnisse zeugen von der Prekarisierung der Lebensumstände. Wobei das nicht einfach oder gar ausschließlich als sozialer Abstieg gesehen werden darf. Es ist vielmehr ein Umstieg. Prekär meint nur, dass im Gegensatz zu früher (wo zumindest in Westeuropa das soziale Netz bis in die Achtziger immer dichter geworden ist) die Entsicherung um sich greift. Objektive Entsicherung bedeutet subjektive Verunsicherung. Das Anpassungsvermögen hat sich zu automatisieren. Flexibilität und Geschwindigkeit sind äußere Zwänge, die, als innere Imperative, das Individuum auf die Zerreißprobe stellen.
Soziale Regression kann nicht mehr primär anhand sozialer Positionierung von Klassen beschrieben werden. Es geht nicht um die Klassenzuordnung, sondern um die Deklassierung, was meint, dass die Menschen aus ihren Strukturen herausfallen, z. B. die Arbeit verlieren, aber Arbeitsmonaden bleiben, kein Geld haben, aber Geldsubjekte sein müssen. Die Deklassierung betrifft nicht nur das sogenannte Proletariat, sie ist allumfassend. Obwohl die sozialen Widersprüche sich verschärfen, entschärfen sich die Klassenwidersprüche. Gegen die allgegenwärtige Entmenschlichung gilt es zu kämpfen, nicht gegen die Entproletarisierung.
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Die Konkurrenz ist nicht nur ein äußerer Zwang, sondern auch der innere Modus der Subjekte. Vor allem in der durchgesetzten Demokratie erscheint die Formatierung der Gehirne am weitesten fortgeschritten. Der marktwirtschaftliche Typus wird seriell hergestellt. Nichts wird in Zeiten allgemeiner Egomanie so verhöhnt wie der Altruismus. Da jeder sich selbst gehört, ist auch jeder für sich selbst verantwortlich. Zuständig, also ständig zu: Ich bin meiner mir mich. Solidarität war zumindest in Ansätzen etwas gewesen, was auf ein Jenseits der zwänglerischen Identität (Ich bin ich; oder im österreichischen Plural Mia san mia) verwies. Es besagt, dass ich für die anderen da bin, und dass sie für mich da sind. Auf der mikroökonomischen Ebene wurde durch das (staatlich garantierte) Versicherungsprinzip sogar das Tauschprinzip aufgeweicht. Der Sozialstaat war aber stets nur Zusatz, nicht Gegensatz zum Markt oder gar Vorwegnahme des Sozialismus, wie der alte Reformismus behauptete. Und er speiste sich auch immer aus Abgaben und Steuern, die am Markt erzielt wurden. Er war nie verwertungsunabhängig oder gar politikgemacht.
Der Verfall des Sozialen wird mehr oder weniger fatalistisch hingenommen. Man glaubt, sowieso nichts machen zu können. Nach der ersten Aufregung verpufft der Widerstand. Das Wehren verunglückt meist im Anfangsstadium. Nicht das Interesse (weder das unmittelbare noch das reflektierte) ist eine zentrale Kategorie, sondern das Desinteresse. Die Politikverdrossenheit wird immer größer. Nichts wirkt heute etwa so fad wie eine Sozialreportage. Im Prinzip sollen bestimmte Menschen, d. h. jene, die sich nicht auf der Siegerstraße befinden, aus unserem Blickfeld verschwinden. Nicht Solidarität oder zumindest Betroffenheit ist angesagt, sondern in erster Linie Gleichgültigkeit oder im schlimmsten Fall offene Aggression: „Eure Armut kotzt uns an! “
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Die österreichischen Arbeiter wurden international nicht belächelt ob ihrer institutionalisierten Sozialpartnerschaft, sie wurden beneidet. Meist wird übersehen, dass die spezifische Institutionalisierung der österreichischen Sozialpartnerschaft eine Stärke der Arbeiterklasse gegenüber dem hiesigen Bürgertum ausdrückt, dass die Sozialpartnerschaft eine hohe Form, wahrscheinlich überhaupt die höchste Form des Klassenkampfs darstellt. Die Sozialpartnerschaft ist also kein Verrat am Klassenkampf, sondern dessen Erfüllung. Kommunisten und radikale Linke betrachteten hingegen die Sozialpartnerschaft meist unter dem sehr idealistischen Gesichtspunkt der abzulehnenden Klassenkollaboration, so als ob die Klassenzusammenarbeit zwischen konstantem und variablem Kapital nicht eine unbedingte Notwendigkeit darstellt, will die bürgerliche Gesellschaft bestehen und wollen ihre Mitglieder existieren.
Heute befinden wir uns aber in einer auf den ersten Blick paradoxen Situation, dass die Sozialpartnerschaft von rechts in Frage gestellt wird. Das Kapital versucht, die Lohnarbeit als formal gleichberechtigten Partner abzuschütteln. Weder Gewerkschafter noch Linke wissen darauf schlüssige Antworten zu formulieren. Gleich Hans Sallmutter wird man nun damit beginnen, Loblieder auf die Sozialpartnerschaft zu singen. Die Gewerkschaft selbst verbunkert sich hinter dem Arbeitsplatzfetisch und starren Regelungen, wo diese und jener immer mehr an Bedeutung verlieren. Ihr Ziel, die ökonomische Solidarisierung der Arbeiterklasse zu gewährleisten, ist sie immer weniger im Stande zu erreichen. Die traditionelle Arbeitnehmerpolitik ist an ihrem Ende angekommen. Die klassische Interessenspolitik gehört der Vergangenheit an, die Gewerkschaften sind, wenn sie so weitermachen, ein Auslaufmodell, das eine Kapitulationsurkunde nach der anderen unterzeichnet.
*** Arbeitnehmer. Wie enteignet und bankrott viele Linke sind, demonstrieren sie ausgerechnet dadurch, dass sie den Begriff „Arbeiter“ durch „Arbeitnehmer“ ersetzt haben. Ganz selbstverständlich sprechen sie im Trottelvokabular von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, pflegen also „jenes Kauderwelsch, worin z. B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben lässt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird“. 4 Indes jene hätten nur bei ihrem geliebten Friedrich Engels, jenem Mann, der eigentlich den Marxismus etablierte, nachschlagen müssen, um diesen ihren Unsinn zu erkennen. Nichts dergleichen. Manche dieser Traditionsritter haben wohl nicht einmal das Vorwort zum Kapital gelesen, aus dem obiges Zitat stammt. Geschweige denn „Das Kapital“. Bitte lesen.
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Im Marxismus wurde das Proletariat von einer zu überwindenden zu einer positiven Kraft. Als solche wird sie noch heute angebetet. Soziologistische Bekenntnisse ersetzten das analytische Denken. Je lichter die Reihen werden, desto dichter werden sie geschlossen. Die theoretische Enge ist der Wohnsitz vieler Sozialisten geworden. Während die Mehrheit sich privatisiert hat, hält eine Minderheit gleich den letzten Auflinken die Fahne hoch, während sie selbst schon versunken ist. Durchhalteparolen ersetzen das Denken. Sogar einige linke Sekten gedeihen noch einmal am Wegesrand. Das Wagenburg- Syndrom ist allerorten spürbar, die Kommunikationsunfähigkeit nimmt fast pathologische Züge an. Diskutiert wird fast nirgends, Auseinandersetzungen erheben sich selten über die Ebene von Abgrenzung, ja Denunziation. Als in den Siebzigerjahren Radikalisierte erleben wir ein Déjà vu nach dem anderen. Die (uns wiederum an diese Zeit erinnernden) zu spät geborenen Vorkämpfer des Proletariats sind freilich nur noch die letzten Nachkämpfer einer längst zu Ende gegangenen Epoche. Ihnen gilt es zuzurufen: Genossen, die Farce waren doch wir, doch was seid Ihr?
Anmerkungen
1 Karl Marx, Das Kapital, Zweiter Band (1885), MEW, Bd. 24, S. 219.
2 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band (1867), MEW, Bd. 23, S. 352-353.
3 Ebenda, S. 229.
4 Friedrich Engels, Vorwort zur Dritten Auflage des „Kapitals“ (1883), MEW, Bd. 23, S. 34.