Weil nicht sein kann, was nicht sein darf …
Über Michael Heinrichs Versuch, die Marxsche Krisentheorie unschädlich zu machen
Streifzüge 1/2000
von Norbert Trenkle
Michael Heinrich hat sich in den 90er Jahren den Ruf erworben, ein sehr guter Kenner der Marxschen Wert- und Krisentheorie zu sein. Sein Buch „Die Wissenschaft vom Wert“, das soeben in einer zweiten, erheblich erweiterten Ausgabe erschienen ist, gilt mittlerweile, zumindest in akademischen Kreisen, als einschlägiges Standardwerk. Darüberhinaus dient es auch als Referenz für eine Kritik an den in der Krisis entwickelten wertkritischen und krisentheoretischen Positionen. Dabei hat sich teils explizit, teils implizit eine etwas seltsame Gegenüberstellung eingebürgert. Heinrichs Werk gilt als „fundierte“ und „ernsthafte“ Auseinandersetzung mit dem Thema; der Krisis-Ansatz hingegen bleibe angeblich „oberflächlich“, theoretisch „indiskutabel“ und empirisch völlig unbegründet. Allein der Einfluß, den dieser Ansatz derzeit im gesellschaftskritischen Diskurs hat, rechtfertige, daß man sich überhaupt zu einer Auseinandersetzung mit ihm herablasse.
Nun gehören solche Abwehrmechanismen zu den üblichen ebenso leicht durchschaubaren wie lächerlichen Verhaltensmustern etablierter theoretischer Zitierkartelle. Hinter ihnen verbirgt sich nicht viel mehr als der Versuch, die eigenen, brüchig gewordenen Paradigmen gegen Kritik zu immunisieren und noch eine Zeitlang über die Runden zu retten (sehr schön nachzulesen bei Kuhn 1976/1962). Frappierend ist dennoch der ungeheure Kontrast zwischen der vorgeblichen „Wissenschaftlichkeit“ und der theoretischen Substanz vom dem, was da geboten wird. Selbst gemessen an den Standards der linksakademischen Publikationen der 70er Jahre aus dem Umfeld der Zeitschrift PROKLA (deren geschäftsführender Redakteur Heinrich heute ist), insbesondere aber des „Hegel-Marxismus“ (Backhaus, Reichelt u. a. ), stellt Heinrichs Buch einen eklatanten Absturz dar. Wenn das nicht wahrgenommen wird, dann nur, weil die Theorierezeption insgesamt diese Absturzbewegung mitgemacht hat.
Wie schwach schon Heinrichs Grundlegung der Werttheorie ist, wurde an dieser Stelle bereits von Franz Schandl und mir (Streifzüge 2/99 bzw. 3/98) angemerkt. Heinrich macht den Wert letztlich zu einer Kategorie der Zirkulationssphäre, deren Bezug zur Verausgabung abstrakter Arbeit einen bloß noch formalen Charakter hat, und konstruiert so (genau darauf kommt es ihm auch an) eine Kompatibilität zwischen der Marxschen Theorie und der positivistischen bürgerlichen Volkswirtschaftslehre. In der nächsten Ausgabe der Streifzüge werde ich mich damit anhand des ersten Teils der Neuausgabe seines Buches noch einmal ausführlicher beschäftigen und dabei vor allem die argumentativen „Tricks“ unter die Lupe nehmen, mit denen Heinrich versucht, die Kritik der politischen Ökonomie zu positivieren und unschädlich zu machen. Hier möchte ich mich zunächst mit dem krisentheoretischen Kapitel auseinandersetzen, das in der Erstfassung des Buches noch nicht enthalten war. 1
Heinrichs zentrales Anliegen ist es, jede zusammenbruchstheoretische Implikation aus der Marxschen Theorie herauszusäubern. Daß nicht sein kann, was nicht sein darf, steht als oberstes Gebot über allen seinen Erörterungen. Marx habe zwar gezeigt, die kapitalistische Produktionsweise sei ihrem Wesen nach krisenhaft, keinesfalls jedoch, daß sie aus ihrer eigenen inneren Dynamik heraus letztlich an eine absolute historische Schranke stoßen müsse. Einschlägige Aussagen, die eindeutig in diese Richtung weisen, sollen einer Phase der Ökonomiekritik entstammen, in der Marx den ganzen Zusammenhang noch nicht so recht durchschaute. „Diesen frühen Gedankenblitz“ habe er dann aber „recht schnell ad acta“ gelegt – „ganz im Unterschied zu manchen seiner Interpreten“ (S. 350), 2 wie Heinrich sich zu versichern beeilt. Im späteren Marxschen Werk dagegen fänden sich die „Elemente eines allgemeinen Krisenbegriffs … , der auch noch für eine Analyse der Krisenprozesse des 20. Jahrhunderts geeignet zu sein scheint. … Dieser allgemeine Krisenbegriff unterscheidet sich sowohl von der Vorstellung einer Zusammenbruchskrise, als auch von einem Verständnis der Krise als einem Moment der zyklischen Ausgleichsbewegung. Gegen die Vorstellung einer Zusammenbruchskrise wird festgehalten, daß Krisen Lösungen, wenn auch gewaltsame, von Widersprüchen sind: Gerade das Zerstörerische der Krisen ist für die kapitalistische Entwicklung ein produktives Moment“ (S. 369).
Nähreres zur theoretischen Begründung diesen „allgemeinen Krisenbegriffs“ erfahren wir von Heinrich nicht. Angedeutet wird nur (S. 344), daß er sich weitgehend mit jenem bekannten regulationstheoretischen Paradigma deckt, wonach es zu strukturellen Kriseneinbrüchen kommt, wenn ein bestimmtes „Akkumulationsmodell“ (z. B. der Fordismus) an seine Grenzen stößt; womit immer nur die Durchsetzung eines neuen „Akkumulationsmodells“ vorbereitet wird (vgl. zur Kritik Trenkle 1998). Insofern schwimmt Heinrich ganz im marxistischen Mainstream, zu dessen Grundüberzeugungen es immer schon gehört hat, daß Krisen stets bloße „Reinigungskrisen“ innerhalb eines prinzipiell nicht davon erschütterten kapitalistischen Kontinuums sind. Den Nachweis, daß Marx einen solchen „allgemeinen Krisenbegriff“ vertritt, muß Heinrich freilich schuldig bleiben. Dafür erteilt er sich gleich zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Problem die Generalabsolution, indem er nämlich behauptet, es sei unmöglich einen „konsistenten Kern Marxscher Krisentheorie“ ausfindig zu machen, da nur „inhaltlich divergierende Ansätze vorliegen“ (S. 342). 3 Außerdem habe Marx noch gar keinen adäquaten Krisenbegriff entwickeln können, weil die kapitalistische Produktionsweise zu seinen Lebzeiten noch nicht ausreichend entwickelt gewesen sei, um sie „in ihrem idealen Durchschnitt“ zu erfassen (S. 343).
Nun hängt die Richtigkeit einer kritischen Theorie des warenproduzierenden System natürlich nicht per se davon ab, ob sie sich mit den Marxschen Auffassungen deckt oder nicht. Wer aber wie Heinrich den Anspruch erhebt, an der Marxschen Theorie anzuknüpfen und sie weiterzuentwickeln, muß sich doch daran messen lassen, wie ernst er diese nimmt. Selbstverständlich kann und muß Marx ebenso kritisiert werden wie jeder andere Theoretiker auch. Daß jedoch das Marxsche Werk unabgeschlossen geblieben ist und bleiben mußte, Widersprüche aufweist4 und im übrigen in mancher Hinsicht seiner Zeit verhaftet bleibt, darf kein Freibrief dafür sein, ihm nach Belieben die eigene Lesart aufzuzwingen. Genau in dieser Weise verfährt Heinrich jedoch schon in „methodischer“ Hinsicht. Die Tatsache, daß die Kritik der politischen Ökonomie natürlich nicht jenseits der Empirie entwickelt worden ist, dient ihm als Alibi, Marx ein empiristisch-induktives Erkenntnismodell zu unterschieben und somit seine Einsichten in das Wesen und die innere Logik der kapitalistischen Produktionsweise grundsätzlich zu entwerten (übrigens ein nicht gerade neues Verfahren, um die Marxsche Theorie wahlweise für obsolet zu erklären oder durch äußerliche Anbauten zu „ergänzen“).
Zwar grenzt Heinrich sich verschiedentlich gegen eine positivistische Interpretation der Marxschen Theorie ab, doch sein Vorgehen spricht eine andere Sprache. 5 Wollte er den eigenen Anspruch ernst nehmen, müßte er nachweisen, daß seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich Entwicklungen stattgefunden haben, welche die kapitalistische Basislogik und insbesondere auch die Krisenlogik substantiell verändert haben. Was er jedoch anführt, ist auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt, nämlich auf der Ebene der kapitalistischen Binnengeschichte, der Durchsetzung, Totalisierung und Entfaltung der modernen Warenproduktion und ihrer institutionellen Ausdifferenzierung. Er spricht von „Faktoren“ (schon der Begriff verrät alles), „wie die Struktur des nationalen Kapitals, die institutionellen Beziehungen des Bankensystems, die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, die gesellschaftlichen Konsummuster oder die Rolle sozialstaatlicher Sicherungssysteme“ (S. 344) und dergleichen mehr. Auch der typisch positivistische Einwand, Marx habe zu seinen Lebzeiten nur „Krisen innerhalb des industriellen Zyklus kennengelernt“ (S. 343), strukturelle Krisen (wie die „Gründerzeitkrise“ von 1873 ff. ) hingegen zwar „noch genau registriert, theoretisch aber nicht mehr verarbeitet“ (ebd. ) zielt vollkommen am Problem vorbei. Denn seinen Krisenbegriff hat Marx eben gerade nicht aus der unmittelbaren Anschauung der Empirie gewonnen, sondern aus der theoretischen Einsicht in die grundsätzliche innere Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise, wie ich gleich noch ausführlicher zeigen werde. Die Frage, in welcher Form sich diese Widersprüchlichkeit in den Krisen des 19. Jahrhunderts ausgedrückt hat, steht auf einem anderen Blatt.
Seine Interpretation der Marxschen Krisentheorie kann Heinrich nur scheinplausibel machen, weil er geradezu gewaltsam mit den Marxschen Schriften verfährt. Er degradiert Marx nicht nur zum positivistischen Ökonomen, sondern blendet darüberhinaus auch auf der Ebene des vorliegenden Textmaterials systematisch alle Aussagen aus, die nicht in sein Bild passen. Was dann noch übrigbleibt, ist ein „Marx“, der nun wirklich kaum noch von Keynes zu unterscheiden oder jedenfalls voll und ganz mit diesem kompatibel ist. Auch auf die Gefahr hin, daß es mir als philologische Pedanterie ausgelegt wird, bleibt mir keine andere Wahl, als dieses Urteil zumindest an einigen zentralen Stellen exemplarisch zu verdeutlichen.
Die Marxsche Zusammenbruchsdiagnose
Beginnen wir mit jener bekannten Passage aus den Grundrissen, auf die ich oben schon angespielt habe. Marx insistiert dort darauf, daß der unauflösliche kapitalistische Selbstwiderspruch zwischen der Produktivkraftentwicklung und den Produktionsverhältnissen diese Verhältnisse früher oder später „in die Luft sprengen“ (MEW 42, S. 602) muß. Denn der über die Konkurrenz vermittelte Zwang, beständig Arbeitskraft durch Sachkapital zu ersetzen, untergräbt letztlich das System der Verwertung des Werts, dessen Grundlage ja gerade die massenhafte Vernutzung von Arbeitskraft ist: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“ (a. a. O. , S. 601). Ausdrücklich geht es dabei nicht um eine allgemeine Beschreibung der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung, sondern um deren Kulmination, um den Punkt, an dem die Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses in einen immanent nicht mehr aufhebbaren Konflikt mit dem Zwang zur Verwertung des Werts gerät. An diesem Punkt nämlich, sagt Marx, tritt der Arbeiter „neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper … die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen die neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. [… ] Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen …“ (MEW 42, S. 601).
An Deutlichkeit läßt diese, angesichts der damals noch wenig entwickelten Produktivkraft geradezu visionäre, Passage wenig zu wünschen übrig. Bemerkenswert ist vor allem, daß Marx hier ausdrücklich als Grund für den letztlich unvermeidlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise die absolute Verdrängung lebendiger Arbeitskraft angibt, was nichts anderes bedeutet, als das Schrumpfen der gesamtgesellschaftlich produzierten Wert- und Profitmasse. Genau über diesen Punkt hat die gesamte marxistisch inspirierte krisentheoretische Debatte stets hinweggesehen und sich stattdessen auf das Theorem vom tendenziellen Fall der Profitrate fixiert. Auch Heinrich macht hier keine Ausnahme. Indem er dieses Theorem vermeintlich widerlegt (ich werde darauf noch zurückkommen), glaubt er auch die Basis jeder Zusammenbruchstheorie widerlegt zu haben und bemerkt gar nicht, daß er damit am Kernproblem vorbeizielt. Entscheidend ist nämlich nicht, ob der relative Anteil des Profits pro eingesetzem Kapital sinkt, wenn sich die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ erhöht, also sich das wertmäßige Verhältnis von Arbeit und Sachkapital zugunsten des letzteren verschiebt; denn es gibt keinen logisch zwingenden Grund dafür, weshalb die Kapitalakkumulation zum Erliegen kommen sollte, wenn im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt (und von dem ist hier ja immer die Rede) statt sagen wir 10 Prozent nur noch 5 Prozent oder 1 Prozent Gewinn erzielt werden. Solange nur das angewandte gesellschaftliche Gesamtkapital schneller wächst als die Durchschnittsprofitrate sinkt, bleibt das Kapital als gesellschaftliches Gesamtverhältnis auf Expansionskurs. Wenn hingegen im Zuge einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Produktion die absolute Anzahl der vernutzten Arbeitskräfte im gesamtgesellschaftlichen Maßstab sinkt, die Produktivkraftentwicklung also Arbeit im säkluaren Trend überflüssig macht, dann greift dies die Grundlage des Verwertungssystems an.
Heinrich hält diesen Gedanken offenbar für so abwegig, daß er bei Marx einfach nicht vorkommen darf. 6 Da er aber die entsprechende Passage aus den Grundrissen ob ihrer Bekanntheit nicht einfach übergehen kann, muß sie wenigstens, gegen ihren Wortlaut, auf ungefährliches Normalmaß zurechtgestutzt werden. Was Marx hier beschreibe, sei nichts anderes, als die im Kapital analysierte „immanente Tendenz des Kapitals zur Steigerung des relativen Mehrwerts“ (S. 350) und die gehöre ja nun einmal zum ganz normalen Funktionieren des Kapitalismus dazu. „Der ‚processierende Widerspruch‘ (Reduktion der Arbeitszeit auf ein Minimum, obwohl Arbeitszeit Maß des Wertes ist), von dem Marx in den Grundrissen so frappiert war, daß er gleich die ganze, auf dem Tauschwert beruhende Produktion zusammenbrechen sah, ist jetzt (im Kapital; N. T. ) auf ein in der Theoriegeschichte aufgetretenes ‚Räthsel‘ geschrumpft, mit dem bereits Quesnay seine Gegner geqäult habe … , das allerdings leicht zu begreifen sei, wenn man berücksichtigt, daß es den Kapitalisten nicht um die absolute Wertgröße der Ware, sondern um den in ihr steckenden Mehrwert gehe. Die angeführte Zusammenbruchsthese beruhte in den Grundrissen auf einer unzureichenden Auffassung der kapitalistischen Produktionsweise“ (ebd. ). Fast muß man sich fragen, ob Heinrich die Stelle eigentlich gelesen hat. Denn dort geht es leicht erkennbar überhaupt nicht um die „absolute Wertgröße der Ware“, sondern darum, daß die Arbeitszeit als Grundlage des kapitalistischen Gesamtprozesses obsolet wird, mithin also die gesamtgesellschaftlich dargestellte Wertmasse schrumpft. Marx dürfte sich stets über die grundlegende Differenz zwischen der einzel- und gesamtkapitalistischen Ebene im Klaren gewesen sein und er argumentiert an dieser Stelle eindeutig auf der Ebene des Gesamtkapitals. Heinrich dagegen springt in seiner Argumentation unvermittelt zum einzelkapitalistischen Standpunkt, der in diesem Zusammenhang nichts zu suchen hat. Fragt sich, wer hier die kapitalistische Produktionsweise nur „unzureichend durchschaut“.
Wenn Heinrich dann fortfährt: „Das Argument, daß die Verbilligung der Waren aufgrund der Produktivkraftentwicklung zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen würde, taucht bei Marx nie wieder auf“ (ebd. ), dann stimmt das nur insofern, als ein solches Argument bei Marx schlechterdings niemals auftaucht. Die Zusammenbruchsdiagnose im Sinne der oben zitierten Stelle hingegen, hält er bis zum Schluß aufrecht – auch im Kapital, das Heinrich gegen die Grundrisse ausspielt. Deutlich wird das etwa in folgender Passage aus Kapital III, die ich wegen ihrer zentralen Bedeutung noch einmal ausführlich zitieren möchte. Marx schreibt dort: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital anwenden muß und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen“ (MEW 25, S. 260).
Da auch in dieser Passage Tacheles geredet wird, kommt Heinrich nicht umhin, sich mit ihr zu beschäftigen – in der oben schon bewährten Weise, versteht sich. Zunächst zitiert er sie bloß unvollständig, indem er den mittleren Satz („Die Schranken, in denen sich … der Arbeit lossteuern“) und den letzten Satz („Wenn daher die … Produktionsverhältnisse“) einfach ausläßt. Das ist auch nur konsequent, denn sonst wäre es allzu offensichtlich, daß sein lapidarer Kommentar dazu sich mit dem Text einfach nicht verträgt: „Die ‚Schranke‘ von der hier die Rede ist, meint jedoch keine absolute Entwicklungsschranke der kapitalistischen Produktion, bei deren Erreichen irgendein katastrophischer Zusammenbruch stattfinden würde, sondern die Begrenztheit des Zwecks kapitalistischer Produktion, und diese Begrenztheit existiert ganz unabhängig von einer stärkeren oder schwächeren Akkumulation“ (S. 360; Hervorheb. N. T. ). Heinrich versucht also die Brisanz der Marxschen Aussage dadurch zu entschärfen, daß er sie zu dem Allgemeinplatz macht, der Zweck der kapitalistischen Produktion sei nun einmal „begrenzt“. Dabei zeigt selbst ein nur flüchtiges Lesen, daß Marx die Beschränktheit des kapitalistischen Produktionszwecks hier als bereits bekannt voraussetzt und als ein Moment des fundamentalen Selbstwiderspruchs benennt, dessen Entfaltung jene Schranke(n) erst hervorbringt. Das geht schon aus dem von Heinrich verstümmelten Zitatfragment hervor, doch insbesondere die nicht wiedergegebenen Sätze lassen keinen Zweifel daran. Hier ist nämlich (wie schon in den Grundrissen) die Rede vom „beständige(n) Widerspruch“ zwischen dem kapitalistisch-inhärenten Zwang, die Produktivkraft permanent zu steigern und damit lebendige Arbeitskraft zu verdrängen und dem beschränkten Selbstzweck der Produktion, der Verwertung des Werts, der sich nur durch die ständig erweiterte Vernutzung von Arbeitskraft realisieren läßt.
Damit ist nicht nur eine eindeutige krisentheoretische Aussage gemacht – was Heinrich mit seiner banalisierenden Interpretation schlicht abstreitet; darüberhinaus versteht es sich im Kontext der an Hegels Philosophie orientierten Marxschen Begrifflichkeit, 7 auch von selbst, daß ein beständiger Widerspruch letztlich zu einer endgültigen Aufhebung und damit in diesem Fall zur Sprengung der herrschenden Produktionsverhältnisse drängt. 8 Dies erschließt sich übrigens besonders deutlich aus dem Satz, der dem Zitierten unmittelbar vorangeht und den Heinrich wohl nicht zufällig ebenfalls unter den Tisch fallen läßt: „Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen“ (MEW 25, S. 260). Keinesfalls ist hier also eine endlose Kette wiederkehrender Eruptionen des Widerspruchs zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen gemeint, der eine ebenso endlose Kette aufeinanderfolgender „Akkumulations- und Regulationsmodelle“ entspricht, wie Heinrich in Anlehnung an die Regulationstheorie behauptet. Vielmehr ist jede bloß temporäre Aufhebung des Widerspruchs gleichbedeutend mit seiner Reproduktion auf historisch höherem Niveau (oder auf „höherer Stufenleiter“ wie Marx sich häufig ausdrückt9), also mit seiner säkularen Zuspitzung. Damit ist zwar noch nicht gesagt, wann der Punkt erreicht ist, an dem dieser Prozeß eklatiert, aber doch jedenfalls daß es ihn gibt. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, daß im folgenden (oben zitierten) Satz nicht mehr von „den Schranken“ (im Plural) die Rede ist, sondern es im Singular heißt: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst“ (s. o. ). 10
Offenbar ist Heinrich sehr daran gelegen, diese Passage zu entschärfen, denn er schiebt noch eine zusätzliche völlig sinnverdrehende Interpretation nach. Zunächst einmal wird wieder Friedrich Engels zum bösen Buben abgestempelt, der erst durch einen Einschub in seiner Edition der Marxschen Textes eine zusammenbruchstheoretische Lesart der zitierten Stelle nahegelegt haben soll (was nicht einmal der Gliederung nach einsichtig ist, weil sich der Einschub, den Heinrich hier zitiert, erst 13 Seiten später in einem von Engels mit „Nachträge“ überschriebenen Abschnitt findet). Dort steht jedoch das genaue Gegenteil dessen, was Marx schreibt. Engels behauptet hier nämlich (MEW 25, S. 272 f. ), die kapitalistische Produktionsweise erweise sich zunehmend als Hemmschuh für die Produktivkraftentwicklung und werde insofern ihrem „historischen Beruf“ untreu. Wäre diese Behauptung richtig, würde das gerade die Sistierung des von Marx aufgezeigten Widerspruchs bedeuten und eben nicht dessen Reproduktion und Zuspitzung auf immer höherem Niveau. Engels spricht insofern ganz konsequent keinesfalls von einem bevorstehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise, sondern sagt vielmehr, diese beweise „damit nur aufs neue, daß sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt.“ (ebd. ). Was hier anklingt, ist eine Interpretation der kapitalistischen Entwicklung, wie sie später im Gefolge von Lenins Imperialismustheorie zum marxistischen Allgemeingut werden sollte: Danach zerbricht der Kapitalismus nicht an der ihm inhärenten widersprüchlichen Dynamik, sondern „verfault“, weil diese Dynamik (durch die angebliche Monopolisierung) blockiert worden ist – eine Blockade, die durch die proletarische Revolution überwunden werden soll. 11 Heinrich schert sich nicht weiter darum, sondern setzt Engels Pseudo-Zusammenbruchstheorie einfach mit der Marxschen Prognose identisch, um sich ihr so auf die billigste Weise entledigen zu können. 12 Beruhigt kann er nach diesem Interpretations-Salto feststellen: „… eine ‚Zusammenbruchstheorie‘ läßt sich mit dem Marxschen Manuskript zum dritten Band des Kapital jedenfalls nicht begründen“ (S. 360).
Fall der Profitrate und Schrumpfen der Wertmasse
Das Problem einer schrumpfenden Profitmasse kommt bei Heinrich nur in einem einzigen Kontext vor, dem einer zyklischen Überproduktions- oder Überakkumulationskrise (vgl. S. 361 f. ). In diesem Fall gerät die Akkumulation ins Stocken, weil die industrielle Reservearmee gegen Null sinkt, also sich das Arbeitskräftereservoir in einem bestimmten ökonomischen Bezugsrahmen erschöpft hat und deshalb keine zusätzliche Mehrwertproduktion mehr möglich ist (vgl. MEW 25, S. 261 f. ). Nun steht außer Frage, daß sich solche Konstellationen regelmäßig auf dem Höhepunkt kurzfristiger konjunktureller ebenso wie langfristiger struktureller Zyklen herstellen bzw. hergestellt haben (z. B. gegen Ende des fordistischen Booms in den 60er Jahren). Allerdings ist dies nur eine von zwei grundsätzlich verschiedenen Formen der Überakkumulation von Kapital, die in ihren Ursachen geradezu konträr sind. In der von Heinrich erörterten Form ist die Akkumulationsdynamik als solche ungebrochen, sie stößt jedoch an die ihr gegenüber äußerliche Grenze des Mangels an Arbeitskräften. In der zweiten Form, die Heinrich vorsichtshalber nicht einmal erwähnt, weil sie auf jene Problemebene verweist, die er systematisch ausblendet, resultiert die Grenze der Akkumulation aus dem (oben erläuterten) inneren Selbstwiderspruch der kapitalistischen Logik: die Verwertungsbasis schmilzt ab, weil im Zuge der beschleunigten Produktivkraftentwicklung Arbeitskraft zunehmend und absolut durch Sachkapital und die Anwendung von Wissenschaft ersetzt wird. Überakkumulation von Kapital (also das Fehlen zusätzlicher Anlagemöglichkeiten) geht deshalb in diesem Fall auch paradoxerweise einher mit einem zunehmenden „Überfluß“ an kapitalistisch vernutzbarer Bevölkerung. 13
Wenn Heinrich dieser Zusammenhang bisher noch nicht einsichtig geworden sein sollte, müßte ihm doch zumindest aufgefallen sein, daß Marx auch an der hier diskutierten Stelle ausdrücklich zwischen zwei völlig unterschiedlichen Varianten von Überakkumulation unterscheidet. Seine Erläuterungen zur zyklischen Überakkumulation leitet er mit dem Satz ein: „In beiden Fällen fände auch ein starker und plötzlicher Fall der allgemeinen Profitrate statt, diesmal aber wegen eines Wechsels in der Zusammensetzung des Kapitals, der nicht der Entwicklung der Produktivkraft geschuldet wäre, sondern einem Steigen des Geldwerts des variablen Kapitals (wegen der gestiegenen Löhne)“ (MEW 25, S. 262; Hervorheb. N. T. ). Wie schon gewohnt, zitiert Heinrich diesen Satz bloß halb, um dann einfach über die darin aufgemachte Differenz hinweg zu gehen. Übrig bleibt jener Fall der Überakkumulation, der sich mühelos in sein Schema vom ewigen Leben des Kapitalismus einordnen läßt: die wiederkehrende Krise, die im wesentlichen durch die Vernichtung von Kapital, die Erhöhung der Produktivität und die Freisetzung von Arbeitskräften überwunden werden kann. Darüberhinaus hat dieser Reduktionismus auch noch den Vorteil, daß er ohne weiteres mit dem alten Klassenkampfdenken zusammenpaßt, das, wenn auch nur mehr als Schatten seiner selbst noch durch Heinrichs Buch spukt (z. B. S. 361 oder S. 370). 14
Nachdem Heinrich das Problem der Überakkumulation und des Schrumpfens der Wert- und Profitmasse auf diese Weise entsorgt hat, vermeint er noch das „Theorem vom tendenziellen Fall der Profitrate“ widerlegen zu können, mit dem sich die marxistische Krisentheorie seit Generationen mehr oder weniger erfolglos abgequält hat. Nun läßt sich, wie schon gesagt, mit diesem Theorem der Kern der Zusammenbruchsdiagnose ohnehin nicht erfassen (vgl. dazu auch Lohoff 2000), weshalb Heinrich schon im Ansatz falsch liegt. Darüberhinaus ist aber sein Widerlegungsversuch (S. 327 – 341) bezeichnend für seine positivistische und formalistische Vorgehensweise, die sich nur wenig vom Modellplatonismus der neoklassischen Mikroökonomie unterscheidet. Da sich aufgrund der „entgegenwirkenden Ursachen“ eine Entwicklungsrichtung der Profitrate nicht formal eindeutig bestimmen läßt, führt er die zusätzliche Bedingung ein, wonach eine neue Produktionsmethode nur dann angewandt wird, wenn der Aufwand an zusätzlichem konstanten Kapital kleiner ist, als die Einsparung an variablem Kapital. Als formal-logische Konsequenz daraus ergibt sich, knapp gesagt, daß die organische Zusammensetzung des Kapitals (also das Verhältnis von c zu v) langsamer wächst als die Mehrwertrate, weshalb dann die Profitrate im langfristigen Trend nicht etwa fällt, sondern steigt (vgl. S. 337 – 340). Verwunderlich ist dieses Ergebnis nicht, denn wie immer bei solchen Modellrechnungen kommt genau das heraus, was zuvor in der Gestalt von „Annahmen“ hineingelegt wurde. Verwunderlich ist allerdings schon, daß Heinrich wirklich glaubt, damit das Problem gelöst zu haben. Sein „Beweis“, so schränkt er freilich ein, gelte nur „auf der von Marx gewählten Abstraktionsebene“ (S. 339); dagegen lasse sich „ein Fall der Profitrate … erst plausibel machen, wenn wir diese Abstraktionsstufe verlassen“ (S. 340). Doch was dann folgt ist kein „Verlassen“, sondern ein regelrechter Absturz. Heinrich landet nämlich bei einer hundsordinären Verteilungsrechnung, wonach die Höhe des Gewinns letztlich von nichts anderem abhängt als von der Höhe des Lohns. Damit wäre es ihm mal wieder gelungen, nach einem aufwendigen Umweg über die unverstandenen Marxschen Kategorien wieder dorthin zu gelangen, wo die bürgerliche Volkswirtschaftslehre immer schon war und wohin es im übrigen auch den traditionellen Marxismus mit stets verschlagen hat.
Man muß wohl annehmen, daß Heinrich sich auf der „von Marx gewählten Abstraktionsebene“ nicht zurechtfindet und es ihm deshalb nicht weiter auffällt, daß er in seiner Modellrechnerei wieder einmal ein partielles einzelkapitalistisches Kalkül unzulässigerweise auf die Ebene des gesellschaftlichen Gesamtkapitals hochrechnet. Daß dieses Kalkül auf der betriebswirtschaftlichen Ebene eine gewisse Rolle bei kurzfristigen Investitionsentscheidungen spielt, ist natürlich richtig. Allerdings steht es dabei ständig mit anderen Motiven im Konflikt, die über die Konkurrenz immer schon mit dem makroökonomischen Zusammenhang vermittelt sind (und die Marx im übrigen teilweise auch benennt): so etwa Strategien der Markteroberung oder der schlichte Zwang, im technologisch-organisatorischen Wettbewerb mitzuhalten. Insbesondere in Situationen eines Umbruchs auf der Ebene der Basistechnologien (wie etwa im Zuge der mikroelektronischen Produktivkraftrevolution) kann es sich kein am Weltmarkt agierender Betrieb leisten, die entsprechenden Innovationen nicht einzuführen, auch auf das Risiko hin, kurzfristig Verluste zu machen. 15 Weiterhin stehen auch andere Momente, wie z. B. Ungleichzeitigkeiten in der Produktivkraftentwicklung zwischen unterschiedlichen Produktionssektoren und Weltregionen, dem Versuch entgegen, einzelkapitalistische Rentabilitäts-Entscheidungen einfach linear und formalistisch auf die Ebene des Gesamtkapitals hochzurechnen. Viel wichtiger aber ist, daß Heinrich in seiner Rechnung die entscheidende Ebene der allgemeinen Rahmenbedingungen der fortgeschrittenen Produktivkraftentwicklung (Verkehrsinfrastruktur, Forschung und Entwicklung, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem, Kommunikationswesen, militärische und polizeiliche Absicherung, Verwaltung der allgemeinen Angelegenheiten usw. ) gar nicht berücksichtigen kann, die jeder einzelnen Investitionsentscheidung immer schon vorausgesetzt ist und zugleich als „faux frais“ (in Gestalt von „Overheadkosten“, Steuern, Abgaben und gesetzlichen Auflagen) auf ihr lastet. Es heißt, die Marxsche Theorie grundsätzlich mißzuverstehen, wenn man versucht, all diese verschiedenen Momente zu formalisieren und in ein mathematisches Modell mit einer eindeutigen Lösung pressen.
Abgesehen davon kann die Profitrate durchaus steigen, obwohl gleichzeitig die Wert- und die Profitmasse abnehmen, die Grundlage der Kapitalverwertung also unterhöhlt wird. Denn zwar liegt beiden Entwicklungen grundsätzlich der gleiche kapitalistische Selbstwiderspruch zugrunde, doch besteht keine lineare Beziehung zwischen ihnen, in dem Sinne, daß eine nach und nach fallende Profitrate auf Seiten der fungierenden Kapitalien ab einem gewissen Punkt in eine schrumpfende Wert- und Profitmasse übergehen würde. Vielmehr sind sowohl gleich- als auch gegenläufige Bewegungsrichtungen möglich und üblich. 16 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Bei der Profitrate handelt es sich um eine relative Zahl (das gesamtgesellschaftliche Verhältnis von Profit und eingesetztem Kapital), bei Profit- und Wertmasse hingegen um absolute Größen. Ich hatte oben schon darauf hingewiesen, daß eine fallende Profitrate auf der Ebene des Gesamtkapitals nicht unbedingt zum Problem gerät, solange es gelingt, neue, zusätzliche Sektoren der massenhaften Anwendung lebendiger Arbeitskraft auf dem gegebenen Produktivkraftniveau zu erschließen und damit die Akkumulationsbasis insgesamt zu erweitern. Auch wenn die relativen Gewinne sinken, finden sich unter diesen Voraussetzungen immer wieder zusätzliche Möglichkeiten für die verwertungsträchtige Anlage von neu akkumuliertem Kapital.
Die „entgegenwirkenden Ursachen“ (genauer müßte es eigentlich heißen: entgegenwirkende Momente), insbesondere die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals, die Steigerung der Mehrwertrate und die Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals, können freilich auch eine Erhöhung der Profitrate bewirken, während gleichzeitig die Profitmasse zunimmt. Umgekehrt kann aber von einem Steigen der Profitrate nicht zwingend auf ein Wachstum von Wert- und Profitmasse geschlossen werden. Denn im Zuge eines säkularen Abschmelzens der wertproduktiven Arbeitskraftvernutzung können ja diejenigen Kapitalien, die noch im Rennen bleiben, duchaus eine hohe Profitrate erzielen. Das wäre dann der Fall, wenn die Vernichtung von Wert überwiegend durch die Verdrängung nicht mehr profitabler Einzelkapitalien (bis hin zur Entwertung ganzer Weltregionen) vermittelt ist und nun dem insgesamt geschrumpften Kapital eine zwar absolut geschrumpfte Profitmasse gegenübersteht, die aber bezogen auf das übriggebliebene Kapital eine gleichbleibende oder sogar gestiegene Profitrelation ergibt. 17 Allerdings vollzieht sich eine solche Entwicklung nicht linear, sondern in diskontinuierlichen Schüben und mit Verlusten oder Gewinneinbußen auch für die zunächst überlebenden Kapitalien, die aber dann zumindest temporär wieder ihre Profitraten steigern können. Wer daher die vermeintlich oder tatsächlich hohen Gewinne des fungierenden Kapitals als Beleg für die angebliche Lebenskraft der modernen Warenproduktion heranzieht, verwechselt die partikulare einzelkapitalistische Perspektive mit einer kritischen Analyse des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs – und nur um die kann es hier ja gehen.
Kreditkrise und fiktives Kapital
Es gehört zu den großen Leistungen von Marx, in einer von seinen Epigonen nie wieder erreichten Klarheit den Zusammenhang zwischen dem Kredit- und Geldsektor und der Sphäre der Realakkumulation in seinen wesentlichen (und dazu gehören auch die krisenhaften) Vermittlungen analysiert zu haben. Freilich ist auch diese Analyse, wie vieles in seinem Werk, ein Torso geblieben und natürlich konnte sie die späteren Entwicklungen und institutionellen Ausdifferenzierungen nicht vorwegnehmen. Ihre Stärke beweist sie jedoch gerade darin, daß sie auch heute noch ein äußerst brauchbares Instrumentarium liefert, um die Entwicklungen an den Geld- und Finanzmärkten in ihrem Kern zu begreifen (vgl. dazu etwa Kurz 1995 und Lohoff 1995). Es erstaunt daher zunächst ein wenig (wenn man sich das Staunen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgewöhnt hat), daß Heinrich behauptet: „Da Marx in seinen krisentheoretischen Ansätzen die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Kredit nicht mehr explizit aufgenommen hat, ist seine Krisentheorie nicht nur in einem quantitativen Sinne unabgeschlossen (insofern ein Teil fehlt), sondern vor allem in einem systematischen Sinn unvollständig und auch nicht in eindeutiger Weise oder mit dem Anspruch auf ‚Authentizität‘ zu vervollständigen“ (S. 368). Diese Behauptung ist schlicht und einfach falsch. Denn auch wenn es stimmt, daß die Marxschen Untersuchungen über den Zusammenhang von Kredit und Realakkumulation nicht in einer in sich geschlossenen Gesamtdarstellung vorliegen (obwohl das Wichtigste wohl immerhin in Kapital III, allerdings verstreut über mehrere Kapitel, zu finden ist), so erschließt sich doch im kritisch-verstehenden Nachvollzug (um „Authentizität“ geht es ohnehin nicht) eine weitgehend kohärente Analyse.
Heinrich verschließt sich dieser Zusammenhang, weil er die Marxschen Erörterungen über das Geld- und Kreditsystem vollkommen eindimensional wahrnimmt. Den Kredit reduziert er im wesentlichen auf seine Funktion, durch die Konzentration von Geldkapital und durch zusätzliche Geldschöpfung eine erweiterte und flexiblere Akkumulation von Kapital zu gewährleisten, was er bezeichnenderweise die „Steuerungsfunktion des Kreditwesens“ nennt – vermutlich um sich so die Kompatibilität mit dem Keynesianismus und der Regulationstheorie zu bewahren (vgl. S. 299 – 305). Nun ist das aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die zwangsläufige Verselbständigung des Kredit- und Spekulationsüberbaus im Zuge eines jeden Krisenprozesses. Das heißt natürlich nicht, daß die Aufblähung von Kredit- und Spekulation die Ursache kapitalistischer Krisen wäre – die muß vielmehr immer auf der Ebene der Realakkumulation gesucht werden; sie ist aber ein notwendiges Moment jeder Krise und zwar in doppelter Hinsicht: Zunächst dienen Kredit und Spekulation dazu, den Kriseneinbruch aufzuschieben, weil sie fiktive Anlagemöglichkeiten für überschüssiges (also: überakkumuliertes) Kapital schaffen und gleichzeitig wertmäßig ungedeckte Kaufkraft schöpfen; letztlich führt das jedoch zu einer Krisenverschärfung, weil mit dem Platzen der Finanzblase auf einen Schlag ein ungeheures Entwertungspotential realisiert wird.
Diesen Zusammenhang macht Marx mehrfach explizit. So etwa an folgender Stelle: „Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar. Und in der Tat handelt es sich nur um die Konvertibilität der Wechsel in Geld. Aber diese Wechsel repräsentieren der Mehrzahl nach wirkliche Käufe und Verkäufe, deren das gesellschaftliche Bedürfnis weit überschreitende Ausdehnung schließlich der ganzen Krisis zugrunde liegt“ (MEW 25, S. 507). Noch etwas deutlicher wird er in einem geradezu frappierend aktuell wirkenden Kommentar zur Handelskrise von 1857 in der „New York Daily Tribune“: „Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen“ (MEW 12, S. 336 f. ).
Diesen von Marx immer wieder betonten Sachverhalt entsorgt Heinrich auf die schon bekannte Weise, indem er nämlich den zentralen Begriff des „fiktiven Kapitals“ gründlich banalisiert. Unter fiktivem Kapital verstehe Marx angeblich „die bloßen Ansprüche auf einen Teil der Erträge (des fungierenden Kapitals; N. T. ) aufgrund von Schuldverschreibungen oder Aktienanteilen. Da diese Ansprüche verkauft werden können, besitzen sie scheinbar einen eigenen Wert, stellen Kapital dar unabhängig vom wirklichen Kapital“ (S. 295). Was Heinrich hier zum besten gibt, ist aber nicht einmal die Hälfte der Miete. Er beschreibt lediglich die allgemeinste Voraussetzung für die Bildung von zinstragendem Kapital überhaupt, nämlich die Verdoppelung des Kapitals in fungierendes Kapital und papierne Ansprüche auf Kapital. Das fiktive Kapital ist aber nicht identisch mit dem zinstragenden Kapital, sondern eine (allerdings gewichtige) Sonderform davon; eine Form, bei der nämlich, ganz allgemein ausgedrückt, die Ansprüche auf eine bestimmte Wertsumme und deren Verzinsung nicht (mehr) durch die reale Verwertungsbewegung gedeckt sind.
Ein klassischer Fall dafür ist der Staatskredit, denn der Staat investiert das geliehene Geld in der Regel nicht in Projekte der Kapitalverwertung, sondern gibt es für seine konsumtiven Zwecke aus. „Das Kapital selbst ist aufgegessen, verausgabt vom Staat. Es existiert nicht mehr“ (MEW 25, S. 482). Dennoch geistert die betreffende Wertsumme in der Form von Schuldsscheinen die Zinsen „abwerfen“ weiter durch die Gegend, bis es zu einer endgültigen Tilgung kommt (oder auch nicht). „Das Kapital, als dessen Abkömmling (Zins) die Staatszahlung betrachtet wird, ist illusorisch, fiktives Kapital. Nicht nur, daß die Summe, die dem Staat geliehen wurde, überhaupt nicht mehr existiert. Sie war überhaupt nie bestimmt, als Kapital verausgabt, angelegt zu werden, und nur durch ihre Anlage als Kapital hätte sie in einen sich erhaltenden Wert verwandelt werden können“ (MEW 25, S. 483). Analoges gilt auch für den Konsumentenkredit, wie Marx ausdrücklich klarstellt. Für den Gläubiger „repräsentiert der ihm zufallende Teil der jährlichen Steuer Zins von seinem Kapital, wie dem Wucherer der ihm zufallende Teil des Vermögens des Verschwenders, obgleich in beiden Fällen die geliehene Geldsumme nicht als Kapital verausgabt ward“ (ebd. ). Bei der dritten wichtigen Form des fiktiven Kapitals, der Aktienspekulation, verhält es sich ein wenig komplizierter (vgl. MEW 25, S. 485). Analytisch ist hier zu unterscheiden zwischen jenem Teil der Aktie, die den Anspruch auf einen realen Kapitalwert etwa in Gestalt von Produktionsanlagen, Lagerbeständen, Gebäuden etc. repräsentiert und einem zweiten, spekulativen Teil, der nur durch die Erwartungen auf die Zukunft „gedeckt“ ist – oder eben nicht.
Indem Heinrich jedoch das fiktive Kapital identisch setzt mit dem zinstragenden Kapital schlechthin, gelingt es ihm, den bei Marx deutlich aufgezeigten Zusammenhang zur Krisentheorie zu entsorgen, den er dann später wundersamerweise vermissen wird. Das Problem reduziert sich bei ihm darauf, daß die Kursbewegungen der Anleihen und Aktien ganz allgemein ein von der realen Verwertung relativ verselbständigtes Dasein führen. Dies allein und für sich genommen hat allerdings mit einem Krisenprozeß nichts zu tun. Es ist wiederum nur die allgemeinste Voraussetzung dafür, daß sich unter den ensprechenden Bedingungen eine krisenhafte Verselbständigung der Finanzmärkte entwickeln kann. Wird der im Kredit und der Aktienspekulation ausgedrückte Vorgriff auf eine zukünftig zu „schaffende“ Wertsumme eingelöst, findet also eine entsprechende reale Verwertung statt, gibt es keinerlei Problem; es hat dann die ganze Operation tatsächlich nur dazu gedient, eine Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter zu ermöglichen. Werden jedoch Ansprüche auf die Zukunft angehäuft, die nie und nimmer realisiert werden können, dann kann der Zeitpunkt, an dem dies spürbar wird, durch die weitere Schöpfung von ungedeckter Liquidität (d. h. von fiktivem Kapital) zwar hinausgezögert werden, doch nur um den Preis, ein zusätzliches Entwertungs- und Krisenpotential zu schaffen, das sich früher oder später entladen muß.
An diesem Mechanismus, der prinzipiell sowohl in zyklischen als auch in strukturellen Krisen wirksam wird, hat sich seit den Lebzeiten von Marx nichts wesentliches geändert, wie sich mühelos auch empirisch für so ziemlich alle Kriseneinbrüche des 20. Jahrhunderts, einschließlich jener der jüngsten Zeit (etwa in Mexiko oder Südostasien), nachweisen läßt (vgl. z. B. Trenkle 1995). Was sich allerdings verändert hat, sind die ungeheuren Möglichkeiten eines überlangen Krisenaufschubs vor allem aufgrund der Entkopplung des Geldes vom Gold und der Deregulierung der transnationalisierten Finanzmärkte. Das heißt aber nur, daß auch der letztlich unvermeidliche Absturz, der nichts anderes ist, als die gewaltsame Herstellung der inneren Einheit von Finanzüberbau und Realakkumulation, umso verheerender sein muß. Es gilt hier cum grano salis das, was Marx bereits in den Grundrissen als allgemeinste Bestimmung der inhärenten Krisenhaftigkeit des warenproduzierenden Systems festhält: „Nachdem sie (die Ökonomen; N. T. ) uns gezeigt haben, daß im Unterschied von der Ware Geld nötig ist, behaupten sie all at once, daß kein Unterschied zwischen dem Geld und der Ware existiert. Zu dieser Abstraktion wird Zuflucht genommen, weil in der wirklichen Entwicklung des Geldes Widersprüche vorkommen, die der Apologetik des bürgerlichen common sense unangenehm sind und daher vertuscht werden müssen. Insofern Kauf und Verkauf, die beiden wesentlichen Momente der Zirkulation, gleichgültig gegeneinander sind, in Raum und Zeit getrennt, brauchen sie keineswegs zusammenzufallen. Ihre Gleichgültigkeit kann zur Befestigung und scheinbaren Selbständigkeit des einen gegen das andere fortgehn. Insofern sie aber beide wesentlich Momente eines Ganzen bilden, muß ein Moment eintreten, wo die selbständige Gestalt gewaltsam gebrochen und die innre Einheit äußerlich durch eine gewaltsame Explosion hergestellt wird. So liegt schon in der Bestimmung des Geldes als Mittler, in dem Auseinanderfallen des Austauschs in zwei Akte, der Keim der Krisen“ (MEW 42, S. 128).
Heinrich macht den gleichen simplen Fehler, wie jene Ökonomen, von denen Marx hier spricht. Er setzt die Einheit von Finanzüberbau und Realakkumulation immer schon harmonistisch voraus, denn die „relative Selbständigkeit“, die er dem Kredit zugestehen möchte, ist so eingeschränkt, daß sie sich per definitionem nie und nimmer zu einem Moment von Krisenaufschub und Krisenverschärfung auswachsen kann. Daher muß ihm auch jedes Insistieren auf diesem Moment als äußerliche „Störfaktorentheorie des Kredits“ (so der Vorwurf an Robert Kurz auf S. 300, FN 70) erscheinen, die nicht weit entfernt sei vom bekannten antisemtischen Konstrukt, wonach ein „‚raffendes‘, irgendwie irreales Finanzkapital (jüdisch) … zum Parasiten des Realkapitals wird “ (Heinrich 2000). 18 Man darf nach einer Lektüre von Heinrichs Buch wohl annehmen, daß solchen Auslassungen weniger einer bewußten diffamatorischen Energie, als vielmehr tatsächlich ehrlichem Unverständnis geschuldet sind. Nur so erklärt sich auch, daß Heinrich allen Ernstes ausgerechnet Marx vorwirft, dieser reduziere den „Kredit auf ein bloß oberflächliches Phänomen ohne selbständige Bedeutung“ (S. 368), um dann zur „Lösung“ des Problems mit einer ganz platten positivistischen Zwei-Faktoren-Theorie aufzuwarten, wie sie jedem Volkswirtschaftsprofessor helle Freude bereiten würde: „bei der weiteren Ausarbeitung der Krisentheorie“ sei nämlich „an der Interaktion der Produktions- und der Kreditbedingungen anzusetzen“ (S. 368; Hervorheb. Heinrich). Damit freilich hätte er konsequenterweise auch terminologisch das Problem des inneren Zusammenhangs von Kredit und Realakkumulation ausgelöscht. Denn zwei selbständige „Faktoren“ (ebd. ) die „interagieren“ stehen nun einmal bloß äußerlich und oberflächlich miteinander in Beziehung. Wie sie sich zueinander verhalten (oder angeblich verhalten), hängt dann nur noch von den „Modellannahmen“ und damit vom Interesse des Modellkonstrukteurs ab. Heinrichs Interesse ist bekannt: eine fundamentale Krise darf nicht sein, weshalb nur die „Steuerungsfunktion des Kreditsystems“ in Betracht gezogen wird. Genausogut ließe sich aber mit diesem Modell „beweisen“, daß Kredit und Spekulation die Realakkumulation „behindern“ oder „parasitär“ auf ihr lasten. Diese Konsequenz zieht Heinrich nicht, aber er ahnt sie wohl, wie seine projektive Abwehrreaktion vermuten läßt. So findet ein rundum mißglückter Versuch, die Marxsche Krisentheorie unschädlich zu machen, seinen krönenden Abschluß.
Literatur:
Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert
(2. überarb. und erweit. Auflage), Münster 1999
Ders. : Blase im Blindflug, in Konkret 3/2000
Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1976 (zuerst 1962)
Kurz, Robert: Postmarxismus und Arbeitsfetisch, in Krisis 15, Bad Honnef 1995
Ders. : Die Himmelfahrt des Geldes, in Krisis 16/17, Bad Honnef 1995
Ders. : Die Welt als Wille und Design, Berlin 1999
Lohoff, Ernst: Die harte Landung des Dollar, in Krisis 16/17, Bad Honnef 1995
Ders. : Große Fluchten, in Weg und Ziel 1/2000
Marx, Karl: Das Kapital, Band 3 (MEW 25)
Ders. : Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (MEW 42)
Postone, Moishe: Time, labor, and social domination, Cambridge 1996 (zuerst 1993)
Trenkle, Norbert: Chronik einer angekündigten Krise, in ILA 12/95
ders. : Kein Anschluß unter dieser Nummer oder: Weshalb es nie ein „postfordistisches Regulationsmodell“ geben wird, in Weg und Ziel 5/1998
Anmerkungen
1 Zugleich kann dieser Artikel auch als eine Replik auf Karl Reitters Kritik an der Krisis in Weg und Ziel 1/2000 verstanden werden, soweit sich diese an Heinrich anlehnt.
2 Alle Seitenangaben ohne weiteren Literaturverweis beziehen sich auf Heinrichs Buch (1999).
3 Strengenommen müßte Heinrich die Marxsche Krisentheorie in toto verwerfen da er ja bereits deren allgemeinste Grundlage, nämlich, daß die Arbeit die Substanz des Werts ist, negiert. Daß er trotzdem den Fall der Profitrate, die Überakkumulation etc. überhaupt auch nur diskutiert, gehört zu den vielen Ungereimtheiten seines Buches.
4 In der Krisis haben wir dafür den Begriff des „doppelten Marx“ geprägt. Unterschieden wird dabei zwischen dem Modernisierungstheoretiker und dem Kritiker des Warenfetischs (vgl. etwa Kurz 1995). Beide Seiten des Marxschen Denkens (die nicht immer sauber auseinander zu halten sind) durchziehen das gesamte theoretische Werk, lassen sich also keinesfalls einfach einer bestimmten Schaffensperiode zuordnen („junger Marx“ vs. „reifer Marx“) wie es etwa auch Heinrich tut.
5 An einigen Stellen macht Heinrich ungewollt sein positivistisches Wahrnehmungsraster auch explizit; so etwa in FN 40 (S. 343), wo er den äußerlichen Gegensatz aufmacht, Marx sei „nicht bloß ‚Theoretiker‘, sondern ein durchaus moderner, empirisch orientierter Sozialforscher“ gewesen.
6 Es geht hier ja wohlgemerkt nicht um die Frage, ob sich der Kapitalismus derzeit in einer solchen Situation befindet (eine Frage, über die man gesondert streiten muß), sondern zunächst nur um die theoretische Möglichkeit. Allein diese schon streitet Heinrich ab.
7 Wie Marx die Hegelschen Begrifflichkeiten im Sinne seiner Kritik der politischen Ökonomie aufgreift, hat am besten Moishe Postone in seinem grundlegenden Werk (1993, hier zitiert nach der broschierten Ausgabe von 1996, vgl. vor allem S. 71 ff. ) dargestellt, auf den Heinrich auch in der überarbeiteten Neuauflage seines Buches mit keiner Zeile eingeht.
8 Um gleich den gängigen Unterstellungen vorzubeugen, die einer solchen Aussage immer auf den Fuß folgen: Mit der Sprengung der herrschenden Produktionsverhältnisse ist nicht anderes gemeint, als daß diese an ihre objektive Schranke stoßen, also unhaltbar werden. Ob sich daran eine emanzipatorische Aufhebung anschließt oder nicht, ist keinesfalls determiniert und steht somit auf einem ganz anderen Blatt…
9 Diesen Grundgedanken wiederholt Marx an vielen Stellen, so z. B. etwas später im gleichen Kapitel (MEW 25, S. 268 und 270).
10 Worin diese Schranke besteht, sagt Marx ausdrücklich noch einmal ein paar Seiten weiter: „Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d. h. in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion. [… ] Ihre Schranke ist die überschüssige Zeit der Arbeiter“ (MEW 25, S. 274). Daß Marx einen direkten Kausalzusammenhang zwischen dieser Entwicklung und einer (proletarischen) Revolution herstellt (ähnlich wie in jener berühmten Passage aus dem 23. Kapitel von Kapital I), ist seinem historischen Bezugsrahmen geschuldet, ändert jedoch nichts am ökonomischen Gehalt der Aussage. Diese wie viele andere einschlägige Passagen „überliest“ Heinrich.
11 Immerhin scheint Engels gemerkt zu haben, daß irgendetwas nicht zusammenpaßt, denn er sagt ausdrücklich: „Hier fällt die kapitalistische Produktionsweise in einen neuen Widerspruch“ (ebd. ; Hervorheb N. T. ). Allerdings scheint ihm nicht weiter aufzufallen, daß dieser angeblich „neue Widerspruch“ nicht einfach friedlich neben dem oben aufgeführten bestehen kann, sondern ihn im Gegenteil negiert.
12 Den gleichen „Trick“ wendet Heinrich auch immer wieder gerne gegen die Krisendiagnose der Krisis im allgemeinen und Robert Kurz im besonderen an, so neuerdings wieder in Heinrich 2000.
13 Den betreffenden Abschnitt im 15. Kapitel von Kapital III nennt Engels (dem die Sache offenbar selbst nicht ganz klar ist) in der von ihm redigierten und zusammengestellten Version bezeichnenderweise „Überfluß an Kapital bei Überfluß an Bevölkerung“, obwohl dort primär der Fall einer zyklischen Überakkumulation behandelt wird.
14 Dies ist ein Grund dafür, weshalb Heinrichs Buch auch in traditionell-linksradikalen Kreisen durchaus positiv rezipiert wird.
15 Das zeigt sich übrigens auch empirisch: Fusionen und Umstruktrurierungen „rentieren“ sich nur selten schon in den ersten Jahren (und nicht selten auch nie).
16 Wenn Marx feststellt: „Die Abnahme (der Profitrate; N. T. ) ist relativ, nicht absolut, und hat in der Tat mit der absoluten Größe der in Bewegung gesetzten Arbeit und Mehrarbeit nichts zu schaffen“ (MEW 25, S. 227), dann gilt das auch in umgekehrter Richtung.
17 Um dies zu veranschaulichen: Wenn das gesellschaftliche Gesamtkapital zum Zeitpunkt 1 k1 = 1000 und die Profitmasse p1 = 100, ergibt sich eine Profitrate von 10%. Sinkt zum Zeitpunkt 2 das Gesamtkapital auf k2 = 600 und die Profitmasse p2 = 80, steigt die Profitrate auf 13,3 %.
18 Vgl. zur Auseinandersetzung mit solchen vorsichtshalber nicht belegten Vorwürfen, die nicht nur von Heinrich erhoben werden, Kurz 1999.