Robert Kurz‘ „Schwarzbuch Kapitalismus“
Streifzüge 2/2000
von Stephan Grigat
Als bekannt wurde, daß Robert Kurz an einem „schwarzbuch kapitalismus“ arbeitet, durfte man befürchten, daß er damit in jene Falle tappt, die seit dem Erscheinen des unsäglichen „Schwarzbuch des Kommunismus“ aufgestellt war. Für nicht wenige Kapitalismuskritiker und -kritikerinnen dürfte die Versuchung groß gewesen sein, gleiches mit gleichem zu vergelten und der bürgerlichen Gesellschaft vorzurechnen, daß sie, vor allem bei Zugrundelegung der atemberaubenden Berechnungsmethoden des „Schwarzbuch des Kommunismus“, ungleich mehr Opfer produziert hat als die sozialistische Weltbewegung. Weitgehend ist Kurz dieser Falle jedoch ausgewichen, und er weist explizit darauf hin, daß das Zählen und Vergleichen von Menschenopfern nicht seine Sache ist. Auch an jenen Stellen, wo sich die Darstellung auf die Auflistung der Opfer der kapitalistischen Entwicklung beschränkt, bleibt die Intention deutlich, die scheinbare Naturhaftigkeit des Elends zu dechiffrieren und das Leiden als gesellschaftlich produziertes kenntlich zu machen. Und genau in solch einem Zusammenhang macht eine derartige Auflistung auch Sinn.
Bürgerlich geschulte, also verblödete Leser und Leserinnen werden sich wundern, in einem „schwarzbuch kapitalismus“ jede Menge Kritisches, ja Vernichtendes über den Realsozialismus zu finden. Auch wenn Kurz nicht unterschlägt, daß im traditionellen Marxismus und im Staatssozialismus osteuropäischer Prägung stets ein „uneingelöstes Moment“ enthalten war, daß also, was auch jede bürgerliche Totalitarismustheorie von vornherein desavouiert, die Erinnerung an die allgemeine Emanzipation stets gegenwärtig blieb, reduziert er den Realsozialismus weitgehend auf seine Funktion einer nachholenden kapitalistischen Modernisierung. Schon deshalb eignet sich seine Studie nicht als Gegenstück zum „Schwarzbuch des Kommunismus“. Kurz‘ Werk, das schon allein auf Grund der durchgängigen Kritik an der Staatsfixiertheit der Linken und wegen der Kurzschen Demokratiekritik lesenswert ist, muß in erster Linie als eine ideologiekritische Studie zum Liberalismus verstanden werden, und man darf vermuten, daß der Titel des Buches dem Autor vom Verlag eher aufgenötigt wurde, als daß er ihn selber gewünscht hätte.
Endkrise und Voluntarismus
Wer die Folgen der kapitalistischen Vergesellschaftung anprangert, läuft stets Gefahr, von der kapitalistischen Produktionsweise etwas einzufordern, was ihr schlicht und einfach wesensfremd ist. Aber auch diese Gefahr meistert Kurz über weite Strecken seines „Schwarzbuchs“, indem er permanent betont, daß der Kapitalismus es nicht nur nicht schafft, einen Zustand herzustellen, in dem allen Menschen ein anständiges Leben ermöglicht wird, sondern daß genau das gar nicht seine Aufgabe ist. Auffallend ist jedoch, daß Kurz diese Einsicht genau ab der Stelle zu vergessen scheint, wo er mit seiner Krisentheorie loslegt. Im Hinblick auf weltweite Arbeitslosenraten zwischen 20 und 90 Prozent spricht er von einem „Systemzusammenbruch“ und einem „völligen historischen Scheitern der kapitalistischen Produktionsweise“. Als Scheitern kann der heutige weltgesellschaftliche Zustand jedoch nur bezeichnet werden, wenn es die Aufgabe des Kapitals gewesen wäre, ein materiell abgesichertes, nettes Miteinander der Menschen zu garantieren. Außerdem hat Kurz selber auf rund 600 Seiten dargelegt, daß die kapitalistische Vergesellschaftungsform an diesem von ihren Kritikern und Kritikerinnen an sie herangetragenen Anspruch schon immer „gescheitert“ ist. Deswegen mutet es auch merkwürdig an, wenn er postuliert, heute könne sich die Menschheit nicht mehr im Rahmen des Kapitalismus reproduzieren. Als ob sie das früher gekonnt hätte. Gerade wenn die kapitalistische Produktionsweise wie bei Kurz als auf sich selbst rückgekoppelte fetischisierte Maschine begriffen wird, liegt es klar auf der Hand, daß dieser Maschine die Herstellung von Massenwohlstand völlig egal ist.
Kurz hat recht, wenn er darauf hinweist, daß sich das bürgerliche Subjekt jegliches Krisenbewußtsein versagen muß. Nur ist damit noch nichts über das Verhältnis von Krise und Endkrise ausgesagt. Für Kurz ist die Angelegenheit bekanntlich vollkommen klar. Die heutige Krise sei systemsprengend und durch das Abschmelzen der Arbeit sei die Lage ausweglos. Der kapitalistische Selbstwiderspruch, abstrakte Arbeit als Wertsubstanz zu benötigen, sie aber permanent zu minimieren – und Kurz tendiert insbesondere im „Schwarzbuch“ dazu, seine Krisentheorie auf diesen einen Widerspruch zu reduzieren – sei heute unlösbar geworden.
Das kann stimmen – oder auch nicht. Die Gewißheit von Kurz, mit der er auf Grund empirischer Daten – nicht zuletzt aus den „Nürnberger Nachrichten“ – Prognosen über die Zukunft abgibt, erstaunt ebenso, wie das Selbstbewußtsein vieler seiner Kritiker und Kritikerinnen, die dem Propheten des Untergangs mit der eigenen Gewißheit glauben, kontern zu können, daß nach der derzeitigen Krise sich ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein relativ stabiles Akkumulationsregime wird etablieren können. An solchen Vorhersagekünsten sollte man sich nicht weiter beteiligen. Auf eine andere Gewißheit kann in diesem Zusammenhang jedoch hingewiesen werden. Nämlich auf jene Einsicht, daß das Kapitalverhältnis nicht von selbst verschwinden wird. Der Kapitalismus bricht nicht von sich aus zusammen. Krisen, nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle, bedeuten nicht sein Ende, sondern sind ein Teil seiner Existenzweise. Niemand vermag mit Gewißheit zu sagen, was nach dem großen Kladderadatsch, nach der Vernichtung großer Teile des industriellen sowie des Bankkapitals und damit auch zahlreicher Arbeitsplätze, passieren wird. Es ist immer denkbar, daß solch eine Großkrise als ein reinigendes Gewitter wirkt und danach, um bei Marx Formulierung zu bleiben, die „ganze Scheiße“ wieder von vorne losgeht. Michael Heinrich hat darauf in den Streifzügen (1/99, vgl. auch seinen Beitrag in der vorliegenden Ausgabe) und an anderen Stellen nachdrücklich hingewiesen. Eine Endkrise des Kapitalismus gibt es nur, wenn es ein massenhaftes emanzipatives antikapitalistisches Bewußtsein gibt, also wenn eine große Zahl von Menschen den Kapitalismus nicht mehr will und ihn deswegen abschafft.
Anzumerken ist hier jedoch, daß die Kritik an Kurz und der „Krisis“, wie sie etwa seit Anfang der 90er Jahre geübt wurde, offenbar einiges bewirkt hat. Klang es in früheren Texten stets so (ob es auch so gemeint war, läßt sich schwer sagen), als ob die prognostizierte Endkrise des Kapitalismus gleichbedeutend sein soll mit dem Übergang zum Kommunismus, so wird im „Schwarzbuch“ und in anderen neueren Texten wie zum Beispiel dem „Manifest gegen die Arbeit“ sehr genau darauf geachtet, die prophezeite Endkrise lediglich als Endkrise der Kapitalverwertung darzustellen. Die Möglichkeit, daß aus dieser Krise die allgemeine Barbarei hervorgeht wird nicht nur in Erwägung gezogen, sondern – leider zu recht – für sehr viel wahrscheinlicher gehalten als der Schritt zur allgemeinen Emanzipation.
Zwar spricht Kurz im „Schwarzbuch“ nicht mehr wie noch in früheren Texten von einer hinter dem Rücken der Individuen bereits stattfindenden kommunistischen Vergesellschaftung oder von einem „Kommunismus der Sachen“, dennoch tendiert er immer wieder dazu, seine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft dadurch zu veredeln, daß er ihr den objektiven Gang der Weltgeschichte an die Seite stellt. Trotz der nachdrücklichen Kritik am Marxismus-Leninismus finden sich in der Kuz’schen Argumentation immer wieder Versatzstücke des leider immer noch keineswegs verschiedenen ML. Wenn auch nicht mehr so ausgeprägt wie früher und zum Teil abgeschwächt durch eine Technikkritik, die zeitweise jedoch in Lebensphilosophie abzugleiten droht, geistert auch durch das „Schwarzbuch“ die Vorstellung von den guten Produktivkräften und den schlechten Produktionsverhältnissen. Besonders ausgeprägt sind solche Tendenzen bei der Einschätzung der dritten, mikroelektronischen industriellen Revolution, die bei Kurz zum einen die Aufgabe hat, den Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen endgültig zugrunde gehen zu lassen und andererseits nun aber wirklich die Produktivkräfte derart zu entfalten, daß eine befreite Gesellschaft möglich werde. Gegen solche objektivistischen Revolutions- und Untergangstheorien gilt es daran festzuhalten, daß die Einführung der ausbeutungs- und herrschaftsfreien Gesellschaft heute nur das sein kann, was in der Linken immer als schlimmste nur denkbare idealistische Abweichung gehandelt wurde: ein voluntaristischer Akt.
Abstrakte Arbeit und Popularisierung
Erschwert wird die Auseinandersetzung mit der Kurzschen Krisentheorie dadurch, daß der Arbeitsbegriff im „Schwarzbuch“ im Dunkeln bleibt. Ging Kurz in früheren Texten noch davon aus, daß die Wertkritik nicht popularisiert werden darf, so hat er nun einen ganzen Wälzer geschrieben, der zur Popularisierung des Begriffs der „abstrakten Arbeit“ allein schon dadurch beitragen wird, daß er permanent vorkommt. Erklärt oder gar entwickelt wird dieser Begriff jedoch an keiner Stelle. Das wäre in einer populären Fassung auch schwierig, denn wie soll man den Begriff der abstrakten Arbeit ernsthaft erklären, ohne ausführlich auf die Marxsche Wertformanalyse zu rekurrieren. Kurz‘ Begriff der abstrakten Arbeit weicht aber auch von der von Marx am Beginn des „Kapitals“ entwickelten Kategorie zum Teil ab und steht, wie Michael T. Koltan bereits in einer früheren Kurz-Kritik gezeigt hat (Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit, No. 15, 1998), zum Teil im Widerspruch zum Marxschen Begriff. Während bei Marx die abstrakte Arbeit eine konsequent nicht-empirische Kategorie ist, die nur im Zusammenhang mit der Wertformanalyse Sinn ergibt, droht sie im „Schwarzbuch“ zu einem Begriff zu werden, der nur noch die Tatsache bezeichnet, daß die Kapitaleigentümer die Produktion für ihren Profit betreiben und nicht für die konkreten Bedürfnisse der Individuen. Der ganze Irrsinn, das in sich selbst Unvernünftige, das Realabstrakte und sich daher einer konsistenten Theoretisierung Entziehende solch einer Kategorie geht zumindest im „Schwarzbuch“ verloren, obwohl Kurz im Gegensatz zum Traditionsmarxismus gerade darum bemüht ist, die Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung herauszuarbeiten. (Vgl. dazu auch den Aufsatz von Martin Janz in Bahamas Nr. 31, wo versucht wird zu zeigen, daß die Eliminierung der erkenntnis- und ideologiekritischen Intentionen der Marxschen Wertformanalyse nicht nur der populären Form des Verkaufsschlagers „Schwarzbuch“ geschuldet ist, sondern auch für theoretische Grundlagentexte von Kurz konsitutiv ist. )
Prinzipiell ist aber die Absicht von Kurz, eine allgemeine Kritik der Arbeit zu leisten, zu unterstützen und gegen die auf recht gewollt anmutenden Mißverständnissen beruhenden Angriffe beispielsweise von Thomas Kuczynski (Jungle World, 10/00) zu verteidigen. Kuczynski ontologisiert den Arbeitsbegriff und kann daher jegliche menschliche Tätigkeit, jede Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur nur als Arbeit begreifen. Kurz hingegen versucht, genau diese Ontologisierung zu durchbrechen. Das bedeutet aber nicht, daß er, wie Kuczynski ihm unterstellt, davon ausgehen würde, daß in der befreiten Gesellschaft kein Mensch mehr etwas tun würde.
Antisemitismus und Auschwitz
Völlig unverständlich ist es hingegen, warum der Systemzusammenhang, wie Kurz schreibt, erst heute „unhaltbar geworden“ sein soll. Für die materialistische Kritik, die den Kommunismus will, war er das schon immer. Wenn man schon einen Einschnitt diesbezüglich markieren möchte, so ist der nicht erst heute anzusetzen, sondern mit dem Nationalsozialismus. Auschwitz war es, was jede auch vorher schon fragwürdige Geschichtsphilosopie, die den Kapitalismus erst reifen lassen will, weil in ihm die Potenzen für die befreite Gesellschaft heranwachsen, völlig unmöglich gemacht hat. Bei der Behandlung des Nationalsozialismus schwankt Kurz. Einerseits steht jemand wie Moishe Postone mit seinem wert- und fetischkritischen Erklärungsversuch der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bei der „Krisis“ mittlerweile hoch im Kurs. Andererseits erscheint auch im „Schwarzbuch“ Auschwitz als Durchgangsstadium der Durchsetzungsgeschichte des Werts, wodurch es – Martin Janz hat dagegen völlig zu Recht angeschrieben (Jungle World 11/00, Bahamas Nr. 31) – trotz aller Einschränkungen und Relativierungen zu einer Historisierung der Massenvernichtung von links kommt.
Diese Historisierung korrespondiert mit einigen begrifflichen Entgleisungen, die sich bei Kurz finden lassen. Und zwar nicht, wie Michael Heinrich in seiner Besprechung des „Schwarzbuch“ im Konkret (3/00) meint, nur einmal, wenn er vom „Kinderholocaust“ im Trikont schreibt, sondern ebenso, wenn er über Altersheime mit „KZ-ähnlichem Charakter“ schwadroniert oder den qua ökonomischer Konkurrenz zum permanenten Gegeneinander verdammten bürgerlichen Subjekten prinzipiell eine Bestialität bescheinigt, „wie sie kein sadistischer KZ-Aufseher sich schlimmer auszudenken vermöchte.“ Auch der Begriff der „sozialen Endlösung“, den Kurz bei der Kritik des „Bevölkerungsgesetzes“ von Malthus verwendet, ist nicht unproblematisch. Zwar läuft die bis heute weit verbreitete Theorie von einer angeblichen Überbevölkerung tatsächlich auf Massenmord hinaus, dennoch bezeichnet der Begriff der „Endlösung“ bezüglich des Nationalsozialismus bekanntlich den Massenmord an den Juden und Jüdinnen und beispielsweise nicht den keineswegs auf endgültige Vernichtung abzielenden rassistisch motivierten und mit Nützlichkeitserwägungen durchargumentierten Massenmord an Russen, Serben und anderen, der sehr viel eher mit den Vorstellungen von Malthus oder auch zeitgenössischen „Bevölkerungsexperten“ verglichen werden kann als die Shoah.
Trotzdem ist hervorzuheben, daß Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus im „Schwarzbuch“ sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfahren und auch ernster genommen werden, als in früheren Texten von Kurz. Während in älteren Schriften die Möglichkeit einer faschistischen Mobilisierung in Deutschland noch mit dem ebenso saloppen wie blödsinnigen Argument vom Tisch gewischt wurde, daß in der BRD fünfzig Jahre nach dem NS keine treudeutsch gescheitelten Recken, sondern hauptsächlich „junge Männer mit Zöpfchen und Ohrklips“ herumrennen würden („Honeckers Rache“, 1991), durchzieht der Hinweis auf real auftretende und potentiell vorhandene rassitische und antisemitische, autoritäre und nationalistische Bewegungen – auch wenn keine explizite begriffliche Bestimmung von Antisemitismus und Rassismus geliefert wird – die gesamte Darstellung im „Schwarzbuch“. Um so erstaunlicher ist es, daß Kurz gegen Ende seines Werkes auf einen der momentan einflußreichsten Antisemiten zu sprechen kommt, ohne dessen Antisemitismus eigens zu thematisieren. In Jörg Haider sieht Kurz nur einen Verwandten von Reagan und Berlusconi, von Schröder und Blair. Damit ist zwar etwas Richtiges erkannt, aber eben nur die halbe Wahrheit ausgesprochen. Denn gerade im Antisemitismus Haiders und der FPÖ manifestiert sich die Besonderheit einer postnationalsozialistischen Gesellschaft. Haiders Perfektionierung einer mit sämtlichen Motiven des sekundären Antisemitismus arbeitenden Argumentation, die in dieser Form nur in Österreich oder Deutschland funktionieren kann, unterscheidet ihn von fast jedem nationalistisch-demokratischen Normalstaatsrassisten in Westeuropa.
Ein anderer österreichischer Politiker, der neue Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Österreichs Alfred Gusenbauer, soll übrigens das „Schwarzbuch“ auf seinem Schreibtisch liegen und die Lektüre bereits begonnen haben. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß das bei diesem ehemaligen Provinzheroen des staatsfetischistischen Arbeiterbewegungsmarxismus, der heute den linken Patriotismus hochhält und das Ansehen der Nation gegen die vermeintlichen Nestbeschmutzer von rechts außen verteidigt, etwas nützt – was man Robert Kurz allerdings wahrlich nicht zum Vorwurf machen kann.
Robert Kurz: schwarzbuch kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 816 Seiten, 68, – DM, 496, – ATS