Kurswechsel am sinkenden Schiff

von Franz Schandl

„Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen? „, 1 schrieb Marx vor mehr als 130 Jahren.

Das Diktat der Produktionsverhältnisse ist zwar immer evident, kann aber — will die Gesellschaftsformation nicht zugrunde gehen — nicht ungebrochen sich vollziehen. D. h. der Staat greift im Sinne der kapitalistischen Formation klassenübergreifend ein, er ist nicht der Ausschuß der Bourgeoisie, sondern der Ausschuß des gesamten Kapitalverhältnisses. Diese Differenz gilt es sich immer vor Augen zu halten, wenn man vom bürgerlichen Staat spricht. Der bürgerliche Staat ist nicht der Staat der Bourgoisie, sondern der des Kapitals. Bürgerlich meint, daß der Staat den Staatsbürgern ihre bürgerlichen Bestimmungen als Warenbesitzer in Freiheit und Gleichheit sichert und aufnötigt. Frühbürgerliche Zustände verschleierten dies dahingehend, daß sie die Arbeiter partout nicht als Staatsbürger anerkennen wollten. Hier war die Arbeiterbewegung aber durchaus erfolgreich gewesen.

Der Staat mag manches am Markt verhindern, Gutes wie Schlechtes, seine grundsätzliche Aufgabe ist aber, diesen zu ermöglichen. Nur Leute, die im betriebswirtschaftlichen Blindflug durch das Leben eilen, können dies übersehen. Der Staat ist das umfassende Sicherheitssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Militär und Polizei, Steuerstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat sind analytisch betrachtet nur unterschiedliche Momente ein und derselben generellen Funktion einer Sicherung, die auffängt wie einfängt, inkludiert wie exkludiert, schützt und bewacht, belohnt und bestraft.

Als „die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft“, 2 bezeichnete Marx die Staatsmacht. Staat ist die durch Politik legitimierte Ordnungsmacht, jener erzeugt die Gesellschaft nicht, er hält sie zusammen. Die politische Regulation ist unumgänglich, eine ausschließlich marktförmige Reproduktion ausgeschlossen. Der Staat reguliert die Gesellschaft, aber nicht nach seinen Regeln, sondern nach den in Budget und Recht transformierten Zwängen des Verwertungsprozesses.

Das Gemeinsame ist mehr als die Summe der Teile, es ist die sie ermöglichende und bedingende Konstellation. Der Staat ist genau jene Instanz, der die Gesamtanliegen der Konkurrenten am Markt, seien dies nun Individuen oder Kollektive (Klassen, Schichten, Lobbys, Regionen, Segmente… ), gegen ihre egoistischen Interessen vertritt. Das macht den Staat in der bürgerlichen Gesellschaft objektiv unentbehrlich, wie subjektiv unbeliebt. Die Gesellschaft benötigt eine spezifische Instanz, die sie zur Einheit fügt. 3 Politik als bürgerliche Verallgemeinerung war dazu da, aus der gesellschaftlichen Unordnung Ordnung zu machen, die als gesonderte Allgemeinheit, eben Staat, auftreten kann.

Staat oder Gesellschaft ist der falsche Gegensatz, der Staat ist vielmehr obligater Zusatz der bürgerlichen Gesellschaft. Ohne Staat hätte sich dieses Gemeinwesen längst zerstört. Er ist wesensmäßiger und unverzichtbarer Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Die zivile Gesellschaft ist die staatliche abgesicherte. Ohne den Staat wäre auch der Markt nichts. Dito umgekehrt. Wer den Staat zerstört, wie etwa die Neoliberalen dies offensichtlich wollen, zerstört auch die Gesellschaft.

Selbst das Private kann gar nicht konsequent außerhalb des Staates gedacht werden, es wird über seine Kriterien (Budget, Recht, Politik) vermittelt. Das sogenannte Privatinteresse kann nur durch die spezifische Allgemeinheit der staatlichen Legitimation auftreten. Diese ist präsent, auch wenn wir sie uns nicht stets vergegenwärtigen. Das Private und das Politische funktionieren nach den gleichen Gesetzen der Verwertung: „Der bürgerliche Staat garantiert mit anderen Worten die gegebene, von der Verkehrsform des Privateigentums (vom Wert) konstituierte Sozialstruktur, auf der er beruht, und affirmiert gleichmäßig alle innerhalb dieser Sozialstruktur miteinander konkurrierenden Interessen — mit der einen Einschränkung, daß dabei die Grundlage der Konkurrenz selbst, das Privateigentum, d. h. die Waren- bzw. Geldförmigkeit aller Interessen, nicht angetastet werde. „4

Dilemma des Staats

Die aktuelle Frage ist also die, was der jetzige Staat leisten kann. Vielleicht sollte man sagen, noch leisten kann. Er kann ja nur leisten, was er sich auch leisten kann: „Das ökonomische Dasein des Staats sind die Steuern“, 5 sagt Marx. Seine Stärke speist sich aus ihrem Volumen. Die außerökonomische Gewalt ist zwar nicht unmittelbar ökonomisch ausgerichtet wie der Markt, wohl aber in ihren Instrumentarien (Steuern, Haushalt) mittelbar ökonomisch geprägt.

Nichts verdeutlicht mehr des Staates Abhängigkeit, als daß er nur mit dem ökonomischen Medium des Geldes, das er vom Markt absaugt, seine gesellschaftliche Macht zu realisieren vermag. Folglich kann er idealiter nur beschließen auszugeben, was er hat oder — nimmt er Kredite auf — irgendwann einmal wird haben müssen. Seine Ausgaben dimensionieren seine Aufgaben. Der Staat ist also unmittelbar abhängig von den produktiven Potenzen einer nationalökonomischen Formation. Alle Politiken haben daran ihre Schranken, über die sie sich bei Strafe des Untergangs nicht hinwegsetzen können.

In Zeiten der Globalisierung hört der Staat freilich auf, „ideeller Gesamtkapitalist“ einer Nationalökonomie zu sein. Letztere ist heute ein Anachronismus geworden, sie zerläuft nach allen Seiten: „Sobald aber das Territorium keine notwendige Bedingung mehr ist, sobald Wohnsitz und Investitionsort nicht mehr vorgegeben sind, sondern zur Wahl stehen, und sobald der Mehrwert so abstrakt entsteht, daß man den Entstehungsort nicht mehr präzise bestimmen kann, ist die Besteuerung keine souveräne Entscheidung mehr. Gewiß, weite Bereiche des Wirtschaftslebens haben sich noch nicht aus der territorialen Bindung gelöst, und der Staat behält alle Macht zur Besteuerung der unbeweglichen Güter und der an ihre Fabrik gebundenen Beschäftigten. „6 Das transnationale Kapital enteignet dem Staat nunmehr die Mittel seiner Selbsterhaltung. Der gibt sodann die Rechnung an seine Kunden, die Staatsbürger weiter, indem er ihnen die Sozialleistungen kürzt und/oder Gebühren erhöht. In der Phase der Degradation des Staates unterliegt seine Steuerhoheit dem tendenziellen Fall.

Vergessen wir nicht, Globalisierung meint, daß jeder Standort gleichzeitig ein Fluchtort ist. Und davor fürchten sich die Menschen, die das nur schicksalshaft erleben können, zurecht. Standort meint also, wir müssen alles tun, damit das Kapital hier bleibt, ja nicht weggeht. Die sich verschärfende Konkurrenz der Standorte wird zu einem noch größeren Dumping von öffentlichen Institutionen gegenüber Unternehmen betreffend Steuersätzen, Vorausleistungen, Ablässen etc. führen. Je freier die Wirtschaft, desto leichter kann sie Förderungen und Geschenke lukrieren. Hat man das akzepiert, und jede bürgerliche Politik, also jede, muß das akzeptieren, dann hat man seine Kapitulationsurkunde schon unterzeichnet. „Der Staat wird zur Geisel der ‘Standortfrage’ und der internationalen Finanz- und Spekulationsbewegungen. Dieser Kontrollverlust, der nur noch mühsam kaschiert werden kann, macht den letzten Kraftmuskel der ‘Politik’ weich und schwach. „7 Was bleibt, ist Simulation.

„Das Steuermonopol ist zusammen mit dem Monopol der physischen Gewalt das Rückgrat dieser Organisationsform, „8 schreibt Norbert Elias über den Staat. Sind diese beiden Monopole existentiell gefährdet, dann sprechen wir von einer fundamentalen Krise des Staats. Gerade das ist aber der Fall: Das Steuermonopol wird porös, es büßt seine Durchschlagskraft immer deutlicher ein, da nützen auch strengere Kontrollen und höhere Strafen für Steuersünder — wie sie stets angekündigt werden müssen — nichts.

Im Zeitalter des Fordismus verfügten die westeuropäischen Staaten über eine relative soziale Handlungsautonomie, weil die Geldmenge in Hinsicht auf die Bedienungsbedürftigen reichhaltiger vorhanden gewesen ist. Diese Ausnahmesituation läßt sich jedoch nicht als eherne Möglichkeit ansehen, sondern bezieht sich auf eine historisch begrenzte Phase der Nachkriegskonjunkturen.

Fiskus in der Sackgasse

Auffällig ist, daß sich die Einzelstaaten immer schwerer tun, gegen die Logik der betriebswirtschaftlichen Kostenminimierung jene Steuern einzutreiben, die sie zur Aufrechterhaltung bisheriger Standards bräuchten. Das ist der eigentliche Grund für den Sozialabbau, das neoliberale Agieren baut darauf auf, es bringt ihn nicht hervor. Wäre wirklich genug Geld vorhanden, wie die Keynesianer aller Lager unermüdlich behaupten, dann hätte der Neoliberalismus in Europa keine Chance gehabt. Er bliebe eine kleine Randerscheinung ohne Möglichkeit auf ideologische Hegemonie. Da könnten die Hayek und Friedman noch so schimpfen, selbst in christdemokratischen Parteien fände das keine Mehrheit.

Im Zuge der Zunahme prekärer, aber doch (ideologisch abgefeierter) selbständiger Beschäftigungsverhältnisse kommt es zur Zurückdrängung unselbständiger Lohnarbeit. Darin liegt auch ein Schlüssel zur Erklärung substantiell (nicht unbedingt nominal) sinkender Steuereinnahmen. Eben weil die Möglichkeiten, es sich zu richten, hier um einiges größer sind als bei den Lohnarbeitern. Die einzigen „ordentlichen“ Steuerzahler sind die Lohnarbeiter. Nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen. Das sagt zwar niemand, aber wissen tun es alle.

Immer stärker ist der Fiskus darauf angewiesen, jene zu schröpfen, die am leichtesten zu schröpfen sind, wo auch defacto noch etwas zu holen ist: bei unselbständig Erwerbstätigen (Arbeiter, Angestellte, Beamte) und bei Beziehern sozialer Leistungen (Arbeitslose, Rentner, Sozialhilfeempfänger, Familien, Mütter etc. ) Nur dort ist seine Zugriffskompetenz nach wie vor — zumindest der formalen Seite nach — in ausreichendem Maße gegeben. Je schwächer die Lobbys einzelner Gruppen sind, desto stärker werden diese abgecasht. Interessenspolitik wird zu einem „Rette sich, wer kann. “ Solidarität als interne Restgröße beschränkt sich auf immer kleinere Segmente.

Die jetzige Politik stopft also mit ihren Sparpaketen und sozialen Belastungen ihre budgetären Löcher, um die (noch) nicht zurückgenommenen Leistungen bedienen zu können und die originären staatlichen Aufgaben zu erfüllen. Mit diesen Maßnahmen drosselt man freilich den Konsum, somit die Einnahmen der Unternehmungen, in Folge fallen die Steuerleistungen sowohl der Konsumenten als auch der Produzenten. Das führt zum bzw. beschleunigt dort den nächsten Rationalsierungsschub. Die staatlich getätigten Maßnahmen funktionieren zwar für eine Weile, doch dann stehen die nächsten Eingriffe an. Man betet für den Aufschwung und fürchtet den Zusammenbruch.

Wird aber umgekehrt keine Sparpolitik betrieben, d. h. werden die Ausgaben nicht gesenkt, dann bedeutet dies, daß der Staat sich entweder heillos verschuldet und in den Staatsbankrott treibt, oder aber neue Einnahmen erfinden muß. Tut er ersteres, wird er zahlungsunfähig, tut er letzteres, verschlechtert er die Konkurrenzfähigkeit der dann zur Kasse gebetenen Unternehmer (die sich durch diverse Steuerfluchten dem zu entziehen versuchen und vielfach auch können), aber auch die Lage der ebenfalls zur Ader gelassenen Konsumenten. Wie man sieht, es beißt sich in den Schwanz. Strukturelle Schwierigkeiten sind nicht durch konjunkturelle Maßnahmen behebbar.

Vor allem der Anstieg der Arbeitslosigkeit bedeutet sinkende Einnahmen und steigende Ausgaben seitens des Budgets. Folgerichtig wird der Staat versuchen, seine Sozialleistungen zu dumpen, um zahlungsfähig zu bleiben, und so etwa die Zumutbarkeitsbestimmungen beim Bezug eines Arbeitslosengeldes verschärfen. Der Sozialabbau ist also primär objektiv begründet, nicht irgendeinem strategischen Konzept geschuldet, auch wenn jener in den unverfrorenen Neoliberalen seine adäquaten Vollzugsgehilfen findet. Nicht sie haben ihn erfunden, sondern er sie.

Rückkehr des Staats?

Politische Akteure waren sich stets darüber einig, daß, wer den Staat und somit die Macht in Händen hält, die Fähigkeit hat, die Gesellschaft nach seinem Gutdünken zu formen. Politik wurde und wird verstanden als der Ort der konkreten Freiheit. Bemessen an bürgerlichen Verhältnissen ist da auch einiges dran. Alle beschwören geradezu frenetisch ein Primat der Politik, geradeso als bräuchte es nur eines politischen Beschlusses, um es in Kraft zu setzen.

Selbst die gemäßigten Liberalen wünschen sich inzwischen die Rückkehr des Staates. Wenn etwa die Zeit von der „Stunde der Politik“9 spricht, dann meint sie damit sicher nicht, daß deren letzte Stunde geschlagen hat. Im Gegenteil, alle, die Positivisten, die Traditionalisten und auch die Postmodernen, kurzum die Demokraten aller Länder wollen mit ihr noch einmal Hochzeit feiern. „In der Globalisierung sind die Politiker erst recht gefordert: Sie müssen der Wirtschaft neue Regeln setzen“, schreibt dieselbe: „Die Weltwirtschaft ist in die Marktfalle getappt. “ „Die Finanzflüsse müssen besser überwacht werden“. 10

Doch wie soll das funktionieren? Und wer soll das garantieren? Welche Mitteln und Sanktionen stehen einer solchen Behörde, die erst zu schaffen wäre, zur Verfügung? Stets wird so getan, als sei der Politik die Politik entglitten. Warum derartiges passieren konnte — und das gleich in allen europäischen Staaten — darüber schweigen die Politikgläubigen. Alle wollen freilich die Politik wieder erfinden. Warum partout nicht gelingt, was so ziemlich alle wollen, ist da schon ein Rätsel. Die Titanic sinkt, doch debattiert wird über den Kurs derselben.

Die „Instandsetzung des Staates und die Wiederherstellung des Primats der Politik über die Wirtschaft“11 ist eine gefährliche Illusion. Abgesehen davon, daß es dieses Primat nie gegeben hat, sondern bloß die Spielräume im Fordismus größer gewesen sind, wie sollte denn das nun vonstatten gehen? Primat der Politik kann aber nichts anderes heißen, als daß der Staat als Vollzugsorgan derselben seine interventionistische Macht rigoros durchsetzen soll. Doch warum soll er können? Politik wird hier in hanebüchener Manier als sich selbst setzende Funktion gesetzt, nicht als Parameter des Wertgesetzes und der Kapitalakkumulation, sondern als deren möglicher Befehlshaber.

Autoren wie die eben zitierten Martin/ Schumann denken in den Kategorien keynesianischer Wirtschaftskunde, sie stellen immer bloß billige Vergleiche an, nicht systematische Analysen. Sie ordnen bestimmte Phänomene nicht historisch zu, sondern meinen, diese hängen ab vom Willensakt der bürgerlichen Subjekte. Daher sei die Entscheidung in nichts anderem als in einer anderen Politik zu suchen. Freilich findet die sich nirgendwo. Jeder Wechsel, der ja wirklich nichts mehr anderes darstellt als einen bloßen Austausch von Regierungsmannschaften, zeigt dies überdeutlich. Doch der Illusionismus blüht noch immer, selbst wenn keine richtige Stimmung mehr aufkommen will.

Regelungsstau oder: Der Staat und die Gurke

Auch die eingeklagte Unverständlichkeit der Gesetze greift daneben. Die Gesetzemacher in Politik und Bürokratie sind nämlich gezwungen, die vielfältigen Interessen im Recht zur Geltung zu bringen, insofern sie grundsätzlich kompatibel sind. Die Folge sind Akzentuierungen und Junktimierungen unterschiedlichster Anliegen zu einem Teilganzen. Daß dies dann aus objektiven Gründen oft scheitern muß, eben weil es in sich widersprüchlich ist oder anderen Teilganzen zuwiderläuft wie diese ihm, sollte eigentlich klar sein. Die notwendige Komplexität verunglückt an ihr selbst.

Die Verständlichkeit der Gesetze nimmt ab, weil die Verständlichkeit der Gesellschaft abnimmt. Das Regelungswerk mag noch so dicht sein, es wird auf jeden Fall immer weniger griffig und begreifbar. Das Recht läuft zusehends leer. Wir haben es hier aber nicht mit einer „ungezügelten Regelungswut von Politik und Bürokratie“12 (Christoph Kotanko) zu tun, sondern mit der „normalen“ Umsetzung ausdifferenzierter Wünsche und komplexer Anliegen in Normen. Da hilft es dann auch nicht weiter, in concreto besonders irrwitzige Verordnungen oder Gesetze anzuführen. Jede juristische Groteske kennt ihre rationale Geschichte. Solche Erregungen lenken vom Problem bloß ab, verorten es falsch. Konsensual ist heute der freiheitliche Kurzschluß. Haider sagt jedenfalls nichts anderes als sein vermeintlicher Gegner Kotanko: „Die Regelungswut des Staates ist zu beschränken. „13

Schon der Begriff Regelungswut leitet in die Irre, und nicht nur weil er allzunahe bei der Tollwut angesiedelt ist. Diese „Wut“ kommt nicht vom Staat, sondern geht durch ihn durch. Es sind die selektiven Wünsche, die gemäß der Demokratie zu dieser Regelungsdichte führen müssen. Es ist nicht die Willkür der Politiker und Beamten, sondern die Bringpflicht dieser.

Wenn die Krümmung einer Gurke abgemessen wird, so ist das doch nicht die originäre Idee wildgewordener Apparate (auch wenn die manchmal Schabernack treiben, was man ihnen wirklich nicht verübeln kann), sie reagieren nur auf die Anliegen, Beschwerden und Eingaben maßgeblicher Gurkenproduzenten, Gurkenzirkulanten und Gurkenkonsumenten und deren Lobbys. Nicht jedes idiotische Resultat hat desgleichen idiotische Voraussetzungen. Damit etwas Verrücktes herauskommt, müssen nicht die Verrückten unterweges sein, im Kapitalismus reichen da die Normalen. Mikroanalysen würden uns zweifellos bestätigen, aber wer erforscht schon die Gurkenkrümmung, wenn es die freiheitlichen Regungen Entsetzen und Empörung als Ventile auch tun. Je irrer die Teile, desto unproblematischer das Ganze. Es bleibt außen vor: Sachlich bleiben, lautet die Dummdevise, und das in Zeiten, wo gerade die Sachlichkeit vehement angegriffen werden müßte.

So will es die Dialektik: Kleine, in sich logische Regungen können sich zu einer großen Idiotie verdichten. Dort, wo divergierende Interessen aneinandergeraten und sodann konzentriert werden, eben in Gesetzen, Verordnungen und Erlässen — muß es zu solchen Überbestimmungen kommen. Nachvollziehbare Detailvorschläge mögen in spezifischen Kontexten zu den wirrsten Konstruktionen führen. Das alles ist Folge eines gesamtgesellschaftliches Staus, der sich auf alle Gebiete ausweitet. 14

Aber das heißt insgesamt nur, daß die Kategorie des Interesses prekär geworden ist, Interessensabwägungen zu keinen „vernünftigen“ Lösungen mehr führen müssen. Interesse meint ja, daß sich die unmittelbaren Anliegen in der kapitalistischen Warengesellschaft als mittelbare Interessen ausdrücken, sich nicht von selbst verwirklichen, sondern unzähliger Mittler zur Realisierung brauchen. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft haben diese sich verallgemeinert sowie spezifiziert, durch permanentes Tätigwerden konsolidiert und institutionalisiert. Die entscheidenden Kriterien eines politischen Interesses sind ihre indirekte Vermittlung sowie ihre Gegengerichtetheit.

Jedes Interesse verlangt nach Regelung, und jede Regelung verlangt Ausnahmeregelungen. Jedes Gesetz schreit nach einem Gegengesetz, jede Verordnung zieht drei weitere nach sich. Würde man sich genau anschauen, was da alles beschlossen wird, dann würde man im Einzelfall durchaus eine rechtliche Rationalität innerhalb der kapitalistischen Irrationalität erkennen. Während also alle schreien, daß wir zuviel Gesetze haben, sind andererseits die Forderungen derselben allen nichts anderes als ein Aufruf und Grund doch ebendiese Gesetze zu schaffen. Alle wissen nicht, was alle tun. Die spezifisch vorgetragene Kritik setzt Unbewußtheit der Handlungen, Wünsche und Absichten voraus. Man beharrt akkurat auf Logiken, deren Konsequenzen man strikt ablehnt.

Was wir haben, das ist ein Regulationsstau, weil die Form des Rechtes die allseits erhobenen Anforderungen an das Recht nicht mehr ausreichend erfüllen kann. 15 Wer sich also nach Klarheit und Einfachheit sehnt, bringt damit nur zum Ausdruck, daß er den Zusammenhang von überdifferenzierter (bürgerlicher) Gesellschaft und überkomplexem Recht absolut nicht verstanden hat. Gerade deswegen aber ist dieses Ressentiment freiheitlich abholbar. Ist der geregelte Staat der verstopfte, so der schlanke Staat der zügellose.

Linke Staatsgebete

Die traditionelle Linke war eine Linke des Staats. Auf ihn konzentrierten sich ihre Hoffnungen. Erst in den letzten Jahren ist dies aufgebrochen, freilich um sich oft fluchtartig für den Markt und/oder die zivile Gesellschaft zu entscheiden. In Zeiten der Markteuphorie hat es die Staatsanbetung schwer, wenngleich das eine kein Fortschritt gegenüber dem anderen ist. Über dualistisches Denken ist diese Linke, ob jetzt gewendet oder nicht, jedenfalls nie hinausgekommen.

Das Credo der Traditionssozialisten hat kein Geringerer als Ferdinand Lassalle, der Gründer des Allgemeinen Deuschen Arbeiterverbandes (ADAV), vorgegeben: „Ihre, der ärmeren Klassen große Assoziation — das ist der Staat“, sagte Lassalle 1863, und gab damit der Arbeiterbewegung mehr auf den Weg als der kritische Marx das getan hatte: „Der Staat ist es, welcher die Funktion hat, diese Entwicklung der Freiheit, diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen. Der Staat ist diese Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, eine Einheit, welche die Kräfte aller einzelnen, welche in diese Vereinigung eingeschlossen sind, millionenfach vermehrt, welche ihnen allen als einzelnen zu Gebote stehen würden, millionenfach vervielfältigt. „16

Dieser Meinung war wohl auch der theoretische Kopf der II. Internationale: „Von den heute bestehenden gesellschaftlichen Organisationen gibt es nur eine, die den nötigen Umfang besitzt, daß man sie als Rahmen benutzen könnte, um innerhalb derselben die sozialistische Genossenschaft zu entwickeln, das ist der moderne Staat. „17 Gegen den Staatskritiker Anton Pannekoek schrieb Karl Kautsky 1912: „Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt daher das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlamentarismus zum Herrn der Regierung. Nicht aber Zerstörung der Staatsgewalt. „18

So wie die Vorfahren dachten auch die Nachfahren. Exemplarisch etwa Wolfgang Fritz Haug. Sozialismus, das ist vorerst einmal der gute Leviathan, der uns durch die Ausweitung der Politik garantiert wird. „Im nationalen und internationalen Klassenkampf zerstört sich die Bewegung ohne Zentralisierung und Disziplin. Sie bedarf der Institutionen. Sie bedarf der Partei und des Staats. Der Übergang zum Sozialismus erscheint zunächst als Ausbruch der Politik aus der engen bürgerlichen Kanalisierung. Sie wird zuständig fürs Ökonomische, von dem sie in der bürgerlichen Gesellschaft gerade abgesetzt ist. So gut wie alles, was in der Gesellschaft geschieht, erscheint jetzt politisch. „19

Staat und Gesellschaft werden also nicht als präformierte Identität angesehen, sondern der Staat der Gesellschaft schroff gegenübergestellt. Daß er bürgerlich ist, folgt wohl nur daraus, weil die bürgerliche Klasse ihn für sich okkupiert hat. Das könnte das Proletariat genauso gut tun. Auf die Eroberung der Staatsmacht laufen dann auch all diese Konzepte hinaus. „Im Sozialismus wird der Staat zunächst wichtiger denn je zuvor, seine Kompetenz erstreckt sich auf alles. „20 „Um Macht über der Gesellschaft zu werden, muß sich der Staat der Gesellschaft entgegensetzen. „21 „Denn zur Organisation der Entwicklung, die zum Abbau des Staates (und zur vollen Entfaltung der Arbeiterpersönlichkeit) führen kann, bedarf es wiederum des Staates. „22

Der Staat, das ist der heilige Transformator. Vor der Abschaffung des Staates wird explizit gewarnt: „Die Notwendigkeit des Staats ist für den Marxismus eine ‘historisch-transistorische Notwendigkeit’. Nur auf der Grundlage konkreter Situationsanalyse läßt sich vernünftigerweise etwas aussagen zur Frage der Stärkung des Staats. „23 „Wie man zum Hausbau ein Gerüst braucht, so zum Bau der klassenlosen, sich ‘einfach’ selbstverwaltenden Gesellschaft. Ihr Gerüst ist der Staat. Die das Gerüst planvoll aufrichten und den Bau organisieren, in allem vorangehen, sind die Partei. „24 Gut gerüstet, der Mann.

Hat man den Staat erobert, ist man allerdings nicht an der Macht, sondern bestenfalls an der Regierung. Sofort ist man bei Strafe des eigenen Untergangs gezwungen, die einst bekämpften Intrumentarien selbst zu bedienen und anzuwenden. Nicht man ergreift sodann die Institutionen, sondern diese ergreifen einen. Haug fällt hier weit hinter Karl Marx, wohlgemerkt den Arbeiterbewegungsmarx, zurück. Dieser schrieb zumindest: „Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihren eigenen Zweck in Bewegung setzen. Das politische Werkzeug ihrer Versklavung kann nicht als politisches Werkzeug der Befreiung dienen. „25

Gerade an Staat und Politik knüpften aber Kautskyanismus und Leninismus ihre Hoffnungen. Der theoretische Unterschied bestand darin, daß letztere den Staat als Übergangsinstrument sahen, während erstere ihn überhaupt als Zukunftsstaat ad infinitum setzten. Man muß gar nicht so ein platter Apologet sein wie Wolfgang F. Haug, fast der gesamte Marxismus war Kind des modernen Staatsaffirmation.

Daß das Staatstümeln nicht nur eine Angelegenheit rückwärtsgerichteter Klassenkämpfer ist, beweist neuerdings auch der französische Vordenker der dortigen Sozialbewegung, Pierre Bourdieu: „Es wird ersichtlich, wie die Abdankung bzw. der Rückzug des Staates unerwartete Wirkungen verursacht hat, welche keinesfalls jemals gewünscht waren und von solcher Art sind, daß sie zeitweilig das harmonische Spiel der demokratischen Institutionen bedrohen können, wenn nicht die resolute Politik eines entschiedenen Staates (sic! , F. S. ) tatsächlich die Mittel zur Umsetzung seiner Absichtserklärungen ergreift und im letzten Moment das Steuer herumwirft. „26

Völlig befangen in der Dichotomie Staat-Gesellschaft erzählt uns einer der bedeutendsten Soziologen ein lassalleanisches Märchen, gibt sich ein radikaler Denker als Sozialdemokrat zu erkennen. Die Resolutheit wird sich allerdings auch weiterhin auf Resolutionen beschränken. Gegen den schlanken Staat nützt auch kein Knüppel eines starken Staates mehr. Geht ihm das Geld aus, kann er sich in Banden auflösen, die bis auf Restfunktionen seine Aufgaben übernehmen. 27

Über den Staat hinaus

Wir wachsen über den Staat hinaus und wissen nicht, wohin. Unsere Ängste sind allerorten spürbar. Vorherrschend ist der Griff in die nationale Kiste. Und damit sind nicht nur die aggressivsten Varianten wie Rassismus und Antisemitismus gemeint, sondern auch die Staatstümelei sämtlicher Linksdemokraten. Deren positiver Bezug auf den Nationalstaat speist sich auch aus dem prinzipiellen Bekenntnis zu Rechtsstaat und Sozialstaat, die als bestmögliche Domestizierungen des Daseins erscheinen. Es gelte sie zu erhalten, auszubauen und zu fördern. Diese zweifellos positiven Dialektiken (die freilich ohne ihre negativen Kehrseiten nicht zu haben sind) bürgerlicher Vergesellschaftung setzen jene absolut. Sie wirken wie die Vertreter einer konservativen Teleologie, die die Gegenwart der Vergangenheit mit Zähnen und Klauen gegen die Zukunft verteidigen wollen. Sie stellen sich letztlich nicht den Anforderungen einer emanzipatorischen Aneignung der gesamten Gesellschaft, sondern gleichen mehr denn je einem abgestandenen Rettungsprojekt.

Die zu bekämpfende antistaatliche Grundorientierung der Neoliberalen und aller Markteuphoriker darf einerseits nun nicht dazu führen, in staatstreue Gebete auszubrechen. Andererseits heißt dies aber dennoch, daß man den Staat nicht einfach „aus der Verantwortung entlassen“ kann, wenngleich man weiß (und das auch zu betonen hat), daß entsprechende Forderungen nicht offensiv sind, sondern in vieler Hinsicht prekär. „Aber unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise konnte es gar keine andere Instanz geben als den Staat, um wenigstens ein Mindestmaß an zivilisatorischen Standards zu gewährleisten und die zerstörerischen Folgen betriebswirtschaftlicher Rationalität abzumildern. Der nun geforderte und durchgeführte umfassende Rückzug des Staates enthält bereits erste Anzeichen der von Anfang an im Kapitalismus lauernden Möglichkeit der völligen Entzivilisierung. „28

Das Aufzeigen der Zwänge ist eben kein Bekenntnis zu ihnen, wie das oft in billiger Manier unterstellt wird. Als Kritiker des Marktes sind wir keine Apologeten des Staates. Umgekehrt umgekehrt. Das ist leichter gesagt als getan, nichtsdestotrotz ist es zu bewerkstelligen, liegt genau darin die emanzipatorische Perspektive kritischer Theorie und Praxis. Und niemand soll sich schrecken, sondern laßt uns in Ruhe darüber diskutieren. Schlimmer als die sich abzeichnende Entwicklung des sozialen Kahlschlags kann die Debatte nie und nimmer sein.

Anmerkungen

1 Karl Marx, Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867), MEW, Bd. 23, S. 505.

2 Ebenda, S. 779.

3 Hier gibt es durchaus Parallelen zu einem elaborierteren strukturalen Marxismus, wie er etwa von Nicos Poulantzas vertreten wurde. Dieser schreibt, „daß der Staat innerhalb einer Struktur mit verschiedenen Ebenen ungleichzeitigen Entwicklungsstands die besondere Funktion hat, Kohäsionsfaktor der verschiedenen Ebenen einer Gesellschaftsformation zu sein (… ), Regulativ ihres globalen Gleichgewichts als System“. (Nicos Poulantzas, Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main, 2. überarb. Auflage 1975, S. 43. ) Auf die gravierenden Differenzen zu diesem Ansatz, vor allem was den Stellenwert der Politik betrifft, kann hier nicht explizit eingegangen werden, implizit ist aber doch einiges aus unserem Text herauszulesen.

4 Peter Klein, Die Illusion von 1917. Die alte Arbeiterbewegung als Entwicklungshelferin der modernen Demokratie, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1992, S. 107.

5 Karl Marx, Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral (1847), MEW, Bd. 4, S. 348.

6 Jean-Marie Guehenno, Das Ende der Demokratie, München 1994, S. 29.

7 Robert Kurz, Das Ende der Politik, Krisis 14 (1994), S. 106.

8 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band (1936), Frankfurt am Main, 7. Aufl. 1980, S. 307.

9 Die Zeit, 8. Oktober 1998.

10 Die Zeit, 5. Februar 1998.

11 Hans-Peter Martin/Harald Schuman, Die Globalisierungsfalle, Reinbek 1996, S. 223.

12 Kurier, 9. August 1998, S. 2.

13 Jörg Haider, Befreite Zukunft jenseits von links und rechts. Menschliche Alternativen für eine Brücke ins nächste Jahrtausend, Wien 1997, S. 115. Eine Untersuchung über Synergie und Konformität der Wortwahl Haiders und jener der Kulturindustrie wäre zweifelsfrei lohnend.

14 Genaueres siehe in unserem in Vorbereitung befindlichen Essay: Die Verunglückungen des Komparativs. Zur Philosophie des Staus. Jener soll in den Streifzügen 4/00 erscheinen.

15 Vgl. Franz Schandl, Vierzehn Hypothesen zum Finale des Rechts, Juridikum, Nummer 4/94, S. 25-27.

16 Ferdinand Lassalle, Arbeiterprogramm, Stuttgart 1973, S. 43.

17 Karl Kautsky, Das Erfurter Programm (1892), Berlin-Bonn, 20. Aufl. 1980, S. 115.

18 Karl Kautsky, Die neue Taktik, Die Neue Zeit Nr. 46, 16. August 1912, S. 732.

19 Wolfgang Fritz Haug, Zur Dialektik von gesellschaftlicher Basis und politischem Überbau, Das Argument 106, November/Dezember 1977, S. 783.

20 Ebenda.

21 Ebenda, S. 784.

22 Ebenda, S. 787.

23 Ebenda, S. 792.

24 Ebenda.

25 Karl Marx, Zweiter Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871), MEW, Bd. 17, S. 592.

26 Pierre Bourdieu, Die Abdankung des Staates, Freibeuter 78, November 1998, S. 52.

27 Vgl. Franz Schandl, Gesellschaftliches Marodieren. Mosaiksteine eines Zerfalls, ZOOM (jetzt Context XXI) 2/99, S. 26-32.

28 Robert Kurz, schwarzbuch kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 663-664.