Die Trümmer der sexuellen Revolution
Was wird aus Eros in den Zeiten von Telephonsex, Penisprothesen und Kinderpornos?
von Volkmar Sigusch
Die Sexualwissenschaft machte sich einst zum Anwalt einer Befreiung der Triebe. Heute steht sie vor der bitteren Erkenntnis: Diese Emanzipation rückte die zerstörerische Seite der Sexualität in den Vordergrund.
Der Schatten des Eros heißt Anteros. Den Alten war er nicht nur der Bruder des Eros und der Gott der Gegenliebe, sondern auch der rächende Genius verschmähter Liebe. Der schöne Knabe Meles zwang Timagoras, den Fremdling, zum Beweis seiner Liebe von der Akropolis zu springen. Nachdem es Timagoras getan hatte, sprang Meles aus Reue hinterher. So töteten sich beide. Seither herrschen Eros und Anteros über Bruchstücke.
Die Bruchstücke, die uns im Augenblick beschäftigen, heißen das mißbrauchte Kind, der Sextourist, der Pferdeschänder. Zu ihnen gesellt sich seit zwei Jahrzehnten ein gequältes und quälendes Diskurspersonal: die falsch liebende Mutter, der lüstern abwesende Vater, der sexistische Mann, die lustlose Frau, der medial Sexsüchtige, der elektronisch zerstreute Perverse, der medizinisch prothetisierte Impotente, der operativ beruhigte Geschlechterwechsler, vor allem aber das sozial ungleiche, emotional mißtrauische, theoretisch und aporetisch heterosexuelle Paar. Wahrlich ein posthegelianischer Aufklärungstrupp, der Eros ein falbes Grauen bereiten dürfte.
Die Sexualwissenschaft müßte eigentlich betreten schweigen, wenn es um Eros geht. Denn auch ihr Erzeuger ist Anteros. Von kleinen Inseln abgesehen, hat sich in unserer Kultur keine ars erotica, sondern eine scientia sexualis entwickelt. Der Blick der dominierenden Wissenschaftler war immer kalt: Kein Geheimnis soll sein. Heute wissen alle Bescheid, und keiner hat eine Ahnung. Sexualwissenschaft existiert aber auch fort, weil das sexuelle Elend nicht verschwand. Kämen Wunsch und Befriedigung zueinander, kämen Dauer und Intensität zusammen, fielen Begierde und Liebe nicht auseinander, wüßten wir, was ein sexueller Rausch ist und könnten uns in ihn versetzen, scherten wir uns doch um wissenschaftliche Erörterungen überhaupt nicht. Und Eros lachte.
Anders als in fremden Kulturen geht es bei uns seit etwa zwei Jahrhunderten vorrangig um das manifeste und nicht um das spirituelle Befriedigen von Gier und Neugier. Auch deshalb unterliegt der Bereich, den wir erst seit dem 19. Jahrhundert unter der Bezeichnung „Sexualität“ isoliert und dramatisiert haben, einem ständigen kulturellen Wandel. Ununterbrochen werden Wünsche produziert, die sich unverzüglich niederschlagen sollen. Ununterbrochen wird die scheinbare Einheit Sexualität zerlegt, um ihr neue Begierden zuschreiben und neue Konsumationen abmarkten zu können.
Technologisierung der Fortpflanzung
Manchmal erfolgt das mit Geschrei, manchmal eher lautlos. Die Älteren werden sich noch an das Getöse erinnern, das am Ende der sechziger Jahre „sexuelle Revolution“ genannt worden ist. Damals wurde ein König Sex inthronisiert, der alle bis dahin normalen Sexualverhältnisse als normopathisch und die glückliche Familie als durch und durch zerstörerisch denunzierte. Er ordnete deshalb Umordnung an. Porno- und Sexographie wurden breit kommerzialisiert. In den Massenmedien probten diverse Sexualia den Aufstand, bis sie ihre Stupidität nicht mehr verbergen konnten. In den Schulen wurde versucht, den Zeigestock gegen das Imaginäre ins Feld zu führen. Dazu paßt das zunehmende Technologisieren der Fortpflanzung ebenso wie das Trennen von Recht und Moral. Der Staat zog sich aus einigen Bereichen des individuellen Lebens zurück, so daß das Sexual-, Ehe- und Kontrazeptionsverhalten partiell entpönalisiert wurde. Jugendliche und junge Erwachsene forcierten ihr Sexualverhalten kollektiv, blieben aber mehrheitlich am Ehe- und Treuemodell ihrer Eltern orientiert. Besonders einschneidend war die kulturelle Resexualisierung der Frau als Genus. Sie war jetzt orgasmuspflichtig, nachdem ihr bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts hinein wissenschaftlich abgesprochen worden war, überhaupt ein sexuelles Wesen sui generis zu sein. Hinzu kam die warenästhetische Indienstnahme nicht nur des weiblichen, sondern auch des männlichen Körpers, dessen neue Drapierung die durchschnittlich zwei Unterhosen aus weißem Baumwollripp weit hinter sich ließ. Erinnert sei schließlich an die enorme Psychologisierung des heterosexuellen Paares, das, in eine Beziehungskiste eingesperrt, ununterbrochen in sich hineinlauschen und sein Empfinden zu Protokoll geben sollte, bis sich die erschöpften Partner wieder in sich zurückzogen.
Gewalt – Mißbrauch – tödliche Infektion
Das war der Beginn eines lautlosen Wandels, den ich die „neosexuelle Revolution“ nenne. Die Umwälzung, die in den achtziger und neunziger Jahren erfolgte, ist vielleicht noch einschneidender als die, die mit der sexuellen Revolution einherging. Die Kulturform Sexualität verlor an symbolischer Bedeutung, wird heute nicht mehr als die Lust- und Glücksmöglichkeit schlechthin überschätzt. Wurde sie Ende der sechziger Jahre positiv mystifiziert als Rausch, Ekstase und Transgression, wird sie heute negativ diskursiviert als Gewalt, Mißbrauch und tödliche Infektion.
Damit es dazu kommen konnte, mußte die scheinbare Einheit Sexualität erneut zerschlagen und neu zusammengesetzt werden. Bestand die alte Sexualität vor allem aus Trieb, Orgasmus und dem heterosexuellen Paar, bestehen die Neosexualitäten vor allem aus Geschlechterdifferenz, Prothetisierungen und Thrills. Geschlecht ist heute nicht mehr Geschlecht, sondern wird differenziert nach Körpergeschlecht, Geschlechtsrollenverhalten, Transgenderismus, Geschlechtsidentität und so weiter. Die destruktive Seite der Sexualität wird heute stärker betont als die libidinöse. Wir werden ständig mit sexueller Gewalt konfrontiert, kaum aber an Hingabe und Wohllust erinnert. Der ehemals singulär kranke Triebtäter wurde zum ubiquitär normalen Geschlechtstäter vervielfältigt, bis Männer nur noch geil, gewalttätig und impotent zu sein schienen.
Widerruf der Diffenzierung von Recht und Moral
Politisch schlug sich dieses Betonen der zerstörerischen Seite der Sexualität in neuen Pönalisierungen nieder, die die mühsam in den siebziger Jahren vorangetriebene Differenzierung von Recht und Moral brutal widerriefen. Brutal auch, weil Abstimmungsfronten von alternativ bis rechtsradikal, die selbst als so etwas wie die „Pornographie der Demokratie“ figurierten, die letzte institutionelle oder kollektive Gegenrede ausschlossen. Wir ahnen jetzt, wie sehr unsere Sexualität auf Überwältigung und Asymmetrie basiert. Wir reflektieren aber nicht den allgemeinen Gewalt- und Verstofflichungszusammenhang, der unsere Gesellschaft mitkonstituiert. Gegen Kindesmißbrauch sind wir unisono, denn das kostet nur das Öl des Humanismus, das bisher höchst erfolgreich die Räderwerke der Gewalt geschmiert hat. Für Programme aber, die Kinderleben retten könnten, sind im Ernst nur wenige, weil es Geld und Gemütlichkeit kostete und eine andere Art zu leben erforderte. Ein höheres Strafmaß zu fordern wie der alternative Minister von Plottnitz oder FKK-Heftchen verbieten zu wollen wie die nichtalternative Ministerin Nolte ist roh, borniert, untauglich und heuchlerisch.
Neue Geschlechts- und Sexualformen
Doch die neosexuelle Revolution hat nicht nur neue Heucheleien gebracht. So wird die weibliche Sexualität heute dank Frauenbewegung und Feminismus weitgehend als eine eigensinnige Form betrachtet. Sie ist theoretisch nicht mehr durchweg vom Modell Mann abgezogen, wird praktisch nicht mehr als Negativ der männlichen Sexualität mißachtet. Die Vervielfältigung der sozial akzeptierten Beziehungs- und Lebensformen hat zu einer Differenzierung sowohl der alten Hetero- wie der alten Homosexualität geführt, deren vordem monolithischere Charaktere sich damit empirisch als theoretisch in dem Sinn erweisen: daß sie kulturell produziert worden sind. Sexuelle und geschlechtliche Empfindungsweisen, die früher der Heterosexualität, der Homosexualität oder der Perversion zugeschlagen worden sind, weil keine anderen Raster zur Verfügung standen, treten aus deren Bannkreis heraus, definieren und pluralisieren sich selbst als Lebensweisen. Alte Krankheitsentitäten wie Fetischismus, Sadomasochismus oder Transsexualismus zerfallen. Neue Geschlechts- und Sexualformen wie die Bisexualität treten hervor.
Durch diese Diversifikation, die die Selbstbestimmungs- und Bürgerrechtsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte politisch angestoßen haben, verliert die Herkunftsfamilie zunehmend an emotionaler und sozialer Bedeutung. Andere Vernetzungen ohne Bluts- und Keimbande werden immer wichtiger. Die Familie ist im Verlauf einiger Jahrhunderte drastisch geschrumpft. Bestand das „ganze Haus“ aus zehn, zwanzig, hundert Personen, bewegen wir uns seit einigen Jahrzehnten auf eine Kleinstfamilie zu. Immer mehr Einzelpersonen sind zu ihrer eigenen Familie geworden. Die trianguläre Triade Vater-Mutter-Kind, noch vor zwei Generationen der Inbegriff der Familie, ist in einem ungeahnten Ausmaß kulturell verblaßt. Ehe und Familie sind faktisch voneinander getrennt. Es gibt jetzt Singles und Alleinerziehende, Dauerbeziehungen mit Liebe, aber ohne sexuellen Verkehr, äußerst komplizierte Intimbeziehungen mit drei und mehr Akteuren, Abstinenz und Partnertausch, One-night-Stands, Let’s party, Call-in, Vakuumpumpen und Love Parades sowie eine Unzahl „pseudoperverser Inszenierungen“, von denen der unvergessene Eberhard Schorsch gesprochen hat. Alle alten Perversionen sind inzwischen elektronisch zerstreut und partiell entdämonisiert worden – mit Ausnahme der nach wie vor tabuisierten Pädosexualität.
Warenförmigkeit sexueller Fragmente
Doch auch die Pädosexualität pluralisiert sich nach marktwirtschaftlicher Logik. Immer mehr sexuelle Fragmente und Nöte werden in die Warenförmigkeit gepreßt. Flirtschulen, Partnervermittlungen oder Hersteller von Sadomasochisten-Möbeln bieten ihre Dienste an. Embryonen, Tiere oder Jungfrauen werden auf dem Markt angeboten. Warum nicht auch Kinderfleisch, wenn alles käuflich ist? Neben dem alten, vereinzelten Pädophilen, der ein Kind ernster nahm, als es ein Fernsehapparat zustande bringt, ist massenhaft der Biedermann getreten. Er macht damit einen Verdacht wahr, den die Sexualwissenschaft seit ihren Anfängen hegt: daß er nur dann „potent“ ist, wenn er das Sexualobjekt erniedrigt und beherrscht.
Überwindung des Körpers
Auch von der Medizin wird allerlei angeboten. Beispielsweise mechanisch, medikamentös oder chirurgisch hergestellte Gliedversteifungen. Dadurch werden sexuelles Erleben und körperliche Reaktion künstlich voneinander getrennt. Ein Mann kann dann ohne inneres Verlangen und oft auch ohne jene psychophysischen Sensationen, die dem sexuellen Erlebnis bisher eigen zu sein schienen, „sexuell funktionieren“ und den Geschlechtsverkehr als das praktizieren, was er in unserer Kultur einer wesentlichen Tendenz nach immer war: Vollzug. Der Traum der Mediziner von der totalen Prothetisierung der sexuellen Funktionen, deren Verkörperungen den Körper zur Leiche machen, als auch Entkörperungen sind, korrespondiert mit dem allgemeinen Traum von der Prävention des Somatischen und der Überwindung des Körpers, von der Entleiblichung des Sexus und des Genus.
Abzulesen ist diese kulturelle Tendenz momentan am Telephonsex und den TV-Partnertreffs, an Fax-, PC- und Cybersex. An letzterem offenbart sich möglicherweise ein generelles Umschreiben der Sinnlichkeits- und Wahrnehmungsstrukturen, das mit dem Übergang von einer Kultur des Wortes und des Bildes zu einer Kultur des Zeichens zusammenhängt. Die alten Mythen schrumpfen zu Punkten und Strichen zusammen. Momentan noch ungefährdet wie der Pilot, der am Flugsimulator trainiert, will der Cybersex die alte Sexualität hinter sich lassen, ohne die Gefahren der elektronischen Kopulation bereits zu kennen, die eine produktive Verstofflichung dieser Dimension zwangsläufig enthält, solange den Manipulateuren eine Leibseele alter Manier zugerechnet wird.
Auf der Suche nach dem Thrill sind uns mittlerweile alle Mittel und Methoden recht. Heute wird der Abgrund, der in unserer Kultur zwischen dem Wunsch und seiner Befriedigung klafft, scheinbar durch allerlei Praktiken und Lebensweisen überbrückt. Doch das beinahe lückenlose Kommerzialisieren und elektronische Inszenieren treiben das Begehren offenbar wirksamer aus als das Unterdrücken durch Verbote. Daß die Verbote immer lustgesättigt waren, ahnt der Vatikan bis heute, Freud und Bataille aber haben es bereits begriffen.
Was also hat die neosexuelle Revolution gebracht? Es gibt jetzt eine sexuelle und geschlechtliche Buntscheckigkeit, von der frühere Generationen geträumt haben mögen. Der Prozeß der kulturellen Dissoziation der alten Einheit Sexualität hat zu einer gewaltigen Zerstreuung der Partikel, Fragmente und Lebensweisen geführt, die ich „sexuelle Dispersion“ nenne. Dadurch sind neue Konstrukte entstanden, die einige Verkrampfungen, Zweifel und Befürchtungen beseitigt haben, so daß sich andere ausbreiten können.
Lean Sex – selbstdiszipliniert und selbstoptimiert
Mit der Rationalisierung, der Zerstreuung, der Kommerzialisierung und dem Zwang zur Vielfalt ist eine generelle Banalisierung des Sexuellen verbunden. Sexualität ist kulturell etwas weitgehend Selbstverständliches geworden wie Mobilität oder Urbanität. Manfrau tut es oder tut es eben nicht. Aus dem revolutionären Eros ist, etwas zu modern gesagt, Lean Sex geworden: selbstdiszipliniert und selbstoptimiert. Love Parades sind folglich der Inbegriff der Neosexualitäten. Werktags wird sauber und korrekt funktioniert, am Wochenende aber wird eine Techno-Sau durch den Tiergarten getrieben, die nur noch von ferne an die Verheißungen und Risiken des Gartens der Lüste erinnert.
Eros bezeichnet nicht mehr die offene Stelle in unserer Kultur. Dummerweise wissen wir, daß abstinentes, monogames oder promiskes Verhalten gleich weit entfernt sind von einem freien Sinnesleben, daß die Helden der Liebe ebenso Indices des falschen Lebens sind wie die Sexualstraftäter, daß das gesunde und glückliche Sexualleben seit Jahrhunderten die Ideologie seiner Verhinderung ist. Noch aber widersprechen unbewußte Impulse und individuelle Phantasien dem, was allgemein als rational entschieden gilt. Noch können in der sexuellen Erregung Dinge zurücktreten, die das Alltagsleben strangulieren. Alles ist gang und gäbe, alles scheint eingefügt und erstarrt, doch da ereignet sich etwas Unvorhergesehenes, Erschütterndes, Verrücktes. Infantile Allmachts- und Vollkommenheitsphantasien sind auf einmal wieder da. Es geht nicht mehr gemütlich zu, sondern höchst riskant, es herrscht nicht mehr Langeweile, sondern ein Ausnahmezustand. Das, so glauben wir, ohne den Macht-Dispositiven der heutigen Philosophie das alte selbstmächtige Subjekt entgegenhalten zu wollen, vermag das Sexuelle immer noch, das Freud vor hundert Jahren ein „großes Bedürfnis“ genannt hat.
Solange die kulturellen Inszenierungen auf die Sehnsucht der Menschen nach Transzendenz spekulieren, so lange wird der Kampf zwischen Eros und Anteros um die Fragmente weitergehen. Kommt er zu einem Ende, können die Menschen nicht mehr hoffen, den anterotischen Bruchstücken und den käuflichen Dingen nur auf Widerruf zubestimmt zu sein.
Dr. Volkmar SIGUSCH ist Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft am Klinikum der Universität Frankfurt am Main sowie Mitherausgeber der „Zeitschrift für Sexualforschung“. Er studierte unter anderem Philosophie, Medizin (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) sowie Sexualwissenschaft.
* Dieser Beitrag erschien erstmals in DIE ZEIT am 4. Oktober 1996. In „Weg und Ziel“ war er in der Nr. 5/1997 nachgedruckt. Die Zwischentitel stammen von der „Weg und Ziel“-Redaktion.