von Franz Schandl
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, war einer der geflügelten Sprüche der alten Linken. Sich dem nicht unterzuordnen, sondern auf die Eigenständigkeit von kritischer Theorie zu pochen, das hat schon eine Notwendigkeit. Man kann diese allerdings auch zu weit dehnen, überstrapazieren, sodass sie zur attentistischen Pose gerät, Ausrede ist und auch als solche wahrgenommen wird. Auf jeden Fall ist Erschöpfung eingetreten und der ideologiekritische Stern leuchtet immer weniger.
Grenzen der Kritik
Aus dem Nichtmitmachen darf kein Nichtmachen werden. Die unterschwellige These, dass Machen Mitmachen ist, kann nur in die Enthaltsamkeit führen, hin zum reinen Kommentar, der sich in der Aussage begnügt, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe und daher bloß falsch gelebt werden kann. Das ist zwar richtig, aber mehr noch dürftig. Der Kritiker ist dann nicht mehr als der Theoretiker in seinem Labyrinth
Gesellschaftskritiker sind oft Ekstatiker der Askese. Als solche werden sie als weltfremd wahrgenommen. Die erforderliche Entrückung wird ihnen so zur allgemeinen Äußerung anstatt dass sie spezifischer Aspekt bliebe. Indes ist es nicht so leicht, einfach abzuschalten, wenn man so aufgedreht ist. Kritik kann nicht das Leben ersetzen, weder das falsche noch das richtige.
Mit der Kritik alleine ist nichts gewonnen, außer, dass man sich nicht der Verlogenheit der Welt widerspruchslos ausliefert. Das ist eine wichtige Voraussetzung, aber noch lange keine, geschweige denn hinreichende Bedingung für eine Alternative. Denn die Welt erbleicht nicht vor unseren Anliegen, sie nimmt unser Ansinnen meist nicht einmal zur Kenntnis. Wir mögen da noch so recht haben, es folgt nichts daraus. Solche Überlegenheit erweist sich als Manko, sie wird, wenn überhaupt, als Überheblichkeit wahrgenommen, nicht als das, was sie sein sollte: Sorge und Hilfe. So erscheint Kritik vielen als Zumutung, als Anstrengung, der nicht Motivation und Erfüllung folgen, sondern Streit und Zerwürfnis. Das möchte man sich nicht auch noch zusätzlich aufhalsen.
Überhaupt: Will man das alles wissen? Verlängert kritische Analyse nicht das Elend des Subjekts? Hilft Bescheid-Wissen wirklich weiter oder verärgert es nicht vielmehr als Besserwisserei? Die Kritik will sich diese Fragen nicht stellen, weil sie Angst hat, dass sie dann selber über ihre Beschränkungen diskutieren müsste. Sie flüchtet dort, wo sie das ahnt, in die Flaschenpost, und dort, wo sie ahnungslos ist, in stures Repetieren. Untrügliches Kennzeichnen dafür ist eine hermetische Jargonitis, man erkennt sich und die Seinen, aber darüber hinaus ist man kaum zugänglich. Erkenntnis gerät in den Trichter.
Absicht und Absichtslosigkeit
In der Kritik geht es darum, die Zustände als menschenverachtend und inakzeptabel zu denunzieren, sie anzuprangern, ihre Entwicklung zu analysieren und ihren Bestand zu negieren. Kritik hat anders als Theorie eine Absicht, die weiter reicht, als die ledige Einsicht es vermag. Kritik kann gar nicht perspektivlos agieren, sie gibt sich keineswegs mit Wissen oder Beschreibung zufrieden. Sie will etwas. Kritik formuliert weitreichende Ziele, zumindest implizit. Sie will sich eben nicht mit der Abscheidung der Theorie in die sonderbare Zone der Akademiker und Wissenschaftler zufrieden geben, das ist nicht ihre Welt. Kritik will, dass Erkenntnis nicht um ihrer selbst willen Bestand haben soll, sondern möchte sie für uns nutzbar machen. Analyse ist Hebel, nicht Profession.
Nur wo sich Perspektiven in einem gedeihlichen Umfeld entwickeln und Anerkennung finden, ist überhaupt die Möglichkeit gegeben, den Kurzschlüssen des gesunden Menschenverstands eine Absage zu erteilen. Intervention ist substanziell etwas anderes als eine bloße Attacke. Diese kettet für gewöhnlich die Leute ideell an das, woran sie reell hängen. Solche Siege der Ideologiekritik sind Niederlagen in der Realität. Kritiker erscheinen dann als Personen, die unentwegt Salz in die Wunden streuen. Wer mag solche Leute und ihre Botschaften mögen?
Da ist kein Weg. Transformation ist jenseits des Dialogs nicht möglich. Kritik und Kritiker sind notwendige Bedingungen, aber auf sich gestellt absolut unzureichend. Alternativen mögen in der Kritik angelegt sein, aber eben nicht in ausreichender Bestimmung. Jene sind eigenständige Aufgaben, denen kritische Theorie und kritische Praxis sich stellen müssen. Theoretisch kann man ein Problem nicht lösen, sondern lediglich benennen, begreifen, beschreiben, beurteilen. Emanzipation ist letztlich eine praktische Frage, theoretisch zu tanzen vermögen nur Esoteriker der Zunft. Transformation ist daher keine theoretische Praxis, sondern eine praktische Aufgabe, die wiederum ohne theoretischen Anspruch nicht zu haben ist. Wie die Theorie sich der Praxis zu stellen hat, so die Praxis der Theorie. Es wäre somit die Frage zu stellen wie man diversen Vereinseitigungen entgehen kann.
Kritische Theorie darf sich gesellschaftlicher Praxis nicht unterordnen, jene hat diese aber auch nicht zu verachten. Solch Mitleidslosigkeit führt in die Isolationskammer. Wir plädieren für eine sich gegenseitig anerkennende Zweiheit von Theorie und Praxis, wo nicht prinzipiell, sondern nur situationistisch ein Primat verfügt werden kann. Der Gegensatz ist nicht durch Subordination (in welche Richtung auch immer) aufzuheben, sondern bloß durch ein gedeihliches Miteinander.
Gegen sich selbst schreibt der selbstkritische Jean Amery: „Das jegliche Praxis verachtende Denken, dem er als einem Opiat sich süchtig unterwarf, ist ebenso Wahnspiel wie die von der Geschichtsmetaphysik hypnotisierte Praxis, die freiwillig aufs Denken verzichtet.“ (Unmeisterliche Wanderjahre, Stuttgart 1971, S. 149) Selbst Adorno antwortete auf die Frage „Was spricht eigentlich gegen Sie?“ Ende 1966: „Dass ich eine steigende Abneigung gegen Praxis verspüre, im Widerspruch zu meinen eigenen theoretischen Positionen.“ (Gesammelte Schriften 20.2, S. 378)
Nein und Ja
Dem Einwurf, man könne doch nicht immer nur kritisieren und alles negativ sehen, ist doppelt zu begegnen:
1) Ja, Kritik kann nicht negativ genug sein;
2) Nein, Kritik kann nicht nur negativ sein.
Diese auf den ersten Blick sich widersprechenden Maximen sind Bedingung, dass Kritik praktisch wirksam werden kann. Das Denken darf sich keinesfalls von der praktizierenden Affirmation, von den alltäglichen Konformismen vereinnahmen lassen, sondern hat diese strikt zurückzuweisen. Kritik kann sich aber wiederum nur von einer Position aus artikulieren, die, wenn auch fiktiv, positiv gesetzt wird. Reine Negation ist unmöglich. Ledige Kritik ist lediglich die sich selbst erledigende. Das Nein ist an ein Ja gebunden. Und dieses Ja wäre explizit zu machen.
Nicht hinter die Kritik zurück möchten wir, sondern über sie hinaus. Der Kritik ist nicht zu viel, sondern die Kritik ist zu wenig. Das kategorische Nein bedarf des schöpferischen Ja, will Kritik mehr sein als ein Keifen am Straßenrand: „Anstatt uns auf die Zerstörung des Kapitalismus zu konzentrieren, konzentrieren wir uns auf die Schaffung von etwas anderem. Dies ist die Umkehrung der traditionellen revolutionären Perspektive, die zuerst die Zerstörung des Kapitalismus vorsieht und die Schaffung der neuen Gesellschaft hintanstellt.“ (John Holloway, Kapitalismus aufbrechen. Aus dem Englischen übers. von Marcel Stoetzler, Münster 2010, S. 54) Abschaffung ohne Schaffung geht nicht. Zweifellos ist Transformation auch ein Prozess der Schöpfung.
Wir wollen doch anders leben. Wie denn? – Diese Frage gilt es nicht bloß zu stellen, es gilt sie auch zu beantworten. Jetzt und hier schon. Und diese Antwort erschöpft sich nicht in der Kritik, im Gegenteil, sie muss weit über die Kritik hinausgehen. Das So nicht! muss also an ein So! gekoppelt werden, will Kritik tatsächlich einen transformatorischen Schub erleben. Womit natürlich nicht gemeint ist, dass die Kritik sich zurücknimmt, im Gegenteil, sie muss über sich selbst hinauswachsen, soll aus theoretischer Potenz gesellschaftliche Relevanz werden. So lange sie also in einem Minimundus zirkelt, besteht permanent die Gefahr, dass Eigenartigkeit in Seltsamkeit umschlägt. Darin liegt auch das scheinbar eherne Schicksal der radikalen Linken. Keine Kraftmeierei und keine Pose hilft darüber hinweg. Die einen fallen um und die anderen versteifen sich. Und dazwischen liegen auch nur Resignation und Zynismus. Das kann es doch nicht gewesen sein.
Kritik und Affirmation
Wenn man Kritik und Affirmation mit mathematischen Methoden vergleicht, dann bedeutet Kritisieren Differenzieren und Affirmieren Integrieren. In gewisser Hinsicht ist es auch tatsächlich so: Während die Affirmation alles eingemeinden will, will die Kritik alles in Frage stellen. Affirmation setzt immer auf Eins (werden mit dem, was ist), Kritik dementsprechend auf Null. Behauptet Affirmation die Haltbarkeit, so die Kritik die Haltlosigkeit von allem und jedem. Und da will sie auch gleich nachhelfen.
Kritik sitzt damit aber, kriegt sie sich nicht ein, selbst einem ideellen Nichtungswahn auf, der auch etwas Vernichtendes hat. Die letzte Konsequenz der Kritik ist die Affirmation des Nichts. Kritik streicht sich selber durch, wenn sie zur Affirmation des Nichts wird. Dort, wo es um alles geht, bleibt nichts mehr übrig. Die konsequenteste Kritik wäre demnach die Negation der Kritik selbst. Transformation ist aber nur denkbar als Abschaffung und Aufhebung. Diese Frage als „oder“ zu stellen, führt in die Irre. Es wäre so zu benennen, was bleiben und was verschwinden soll. Wenn es ums Ganze geht, geht es nicht um Alles.
Kritik ist auch eine Frage der Dosierung, weniger den Inhalten nach, aber stets was ihre Form betrifft. Ansonsten droht Medikamentenvergiftung. Erkenntnis verlangt nach Überdosierung, Handlung verlangt nach Unterdosierung. High soll man sein und am Boden soll man bleiben. Nicht bloß hintereinander.
Kritik der Kritik meint also nicht, diese zu negieren, aber auch nicht, diese unendlich weit zu treiben, was aufs Gleiche rauskommt. Vielmehr gilt es, sich selbst als selbstkritisches Provisorium abzustecken. Wir sprechen hier von einem strategischen Austarieren, will Kritik weder nichtig noch integriert werden. Das ist schwieriger zu machen, als man glaubt. Auf keinen Fall ist diese Frage gelöst, ja vielfach nicht einmal als solche begriffen.
Reine Kritik gibt es nicht, sie ist Fiktion. Kritik hat in selbstkritischer Absicht auch sich selbst zum Gegenstand zu nehmen und über ihre Amalgamierungen und Verstrickungen zu reflektieren. Umgekehrt gilt freilich auch: kein Ressentiment ist frei von Kritik. Auch die diffusesten Empörungen haben Spuren eines wahren Kernes, da mögen sie noch so reaktionär sein. Dieses Plädoyer pocht auf eine Einlassung und ist eine strikte Zurückweisung jedes reinrassigen, d.h. monologischen und homologischen Denkens. Das Unbehagen muss genau beobachtet und seziert werden, es ist nicht aufgrund einzelner Akzente zu dechiffrieren.
Kritik kennt zwei Etagen, einerseits ist sie nicht exterritorial, sondern immanent verhaftet, andererseits strebt sie stets in transzendentale Höhen. Nur diese können sich über die Immanenz ideell hinwegsetzen und überhaupt denkbar machen, dass es nicht so sein muss, wie es ist. Ohne diese Abgehobenheit wäre nicht mehr möglich als das unmittelbare Herumdoktern, hier und dort eine Verbesserung oder Verschönerung, die aber die Struktur völlig untangiert lassen. Da ist kritische Theorie das zentrale Gegengift. Indes darf die Bodenhaftung nicht verloren gehen, solange wir uns auf der vorgefundenen Basis bewegen müssen. Da komme jemand zurecht.
Von krisis bis…
Die Wertkritik hat seit 2004 ihre Dynamik verloren. Das Interesse an ihr hat nicht nur in der Linken, sondern darüber hinaus auch in der Öffentlichkeit an Bedeutung eingebüßt. Sie ist aus den Debatten großteils verschwunden. Ihre Attraktivität hat immens gelitten, der selbst auferlegte Zwang zur esoterischen Zuspitzung samt den ungustiösen Konflikten und Spaltungen hat das noch verschärft. Die letzten Jahre waren Jahre der Stagnation und der Krise, mehr gezeichnet von einem (schleichenden) Show-down als von irgendeinem Take-off.
Nicht, ob wir (wer immer das nun sein mag) recht haben, ist entscheidend, sondern ob wir mit dem, was wir sagen und dem, was wir tun, etwas bewirken. Diese Wirkung ist aktuell eine sehr begrenzte. Aber aus dieser Bescheidenheit darf keine Tugend gemacht werden, sie ist ein Manko, das nicht bloß anhand der objektiven Schranken zu interpretieren wäre. Unsere Aufführungspraxis selbst ist zu hinterfragen, die gesamte Struktur der Performance.
Es ist also etwas zu Ende gegangen. Dass die Wertkritik in einer Krise steckt, dürfte inzwischen doch recht offensichtlich sein. Ihre Attraktivität ist im Schwinden. Die Wertkritik erscheint heute als ein typisches, in diverse Sekten und Grüppchen aufgespaltenes Produkt der radikalen Linken. Das Interesse an ihr hält sich in engen Grenzen. Die erste Welle ist vorüber, eine zweite aber nicht in Sicht. Es stellt sich auch die Frage, ob eine solche, auf eine Position zentrierte Weltbetrachtung überhaupt noch Sinn macht. Ob sich eine neue Verbindlichkeit nicht primär in der Perspektive ausdrücken muss, nicht in der Analyse. „Was wir wollen“, ist doch die entscheidende Frage, andere Fragen sind viel weniger scheidend.
Wir gelten selten als bunte Truppe, sondern als geschlossene Gesellschaft, eine elitäre Loge der Kritik, kleine und größere Crashs, ja sogar Exkommunikationen inbegriffen. Das Abstoßende überwog bei weitem das Anziehende. Nicht einmal zwischen Feindabstoßung und Freundabstoßung wurde unterschieden, Hauptsache Abstoßung. Natürlich kann man sich auch in diese Höhle zurückziehen und die anderen für minderbemittelt halten bzw. kleine Erfolge in große Fortschritte ummünzen. Hier wiederholt allerdings der Minimundus das Muster der großen Welt. Krise? – Bei uns doch nicht!
„Gerade nach dem neuen Krisenschub im Zuge der sog. Immobilienkrise 2008 sollte die wertkritische Krisentheorie eigentlich auf der Tagesordnung stehen. Stattdessen lässt sich allerdings feststellen, das von zunehmender Aufmerksamkeit für diese Position keine Rede sein kann. Ganz im Gegenteil: in der szene-öffentlichen Debatte spielt die wertkritische Position faktisch keine Rolle mehr (…)“, schreibt Julian Bierwirth im Sommer 2010 in einem Text namens „Krise der Wertkritik“. Hat sich daran was geändert? – Kaum!
Um mich nicht misszuverstehen: natürlich werde ich eine Bezeichnung Wertkritiker keineswegs entrüstet zurückweisen, aber diese Charakterisierung offensiv vor mir herzutragen, erscheint mir wenig zielführend geworden, betrachtet man die Absurditäten und Verwerfungen der letzten zwölf Jahre. Das Firmieren unter diesem Label ist also durchaus fragwürdig geworden.
Indes sind die Leistungen nicht gering. Die Umwälzung des gesamten theoretischen Universums des alten Arbeiterbewegungsmarxismus ist nach wie vor ein großer Versuch, Emanzipation auf die Höhe der Zeit zu heben. Geschieht dies allerdings in den alten Schläuchen, wird der Saft trotz aller Güte zu einem ungenießbaren Gebräu. So schmeckt es heute. Natürlich kann man aus einigen gescheiten Texten schon was lernen, aber das ist nicht nur zu wenig, das ist verkürzter Antikapitalismus der anderen Sorte.
… Exit!
Notwendig wäre jedenfalls alles andere als eine mentale Verschärfung und Verminung des eigenen Umfelds. Sie versprüht wirklich Krampf und Krieg, lässt wenig von einem guten Leben spüren. Desillusionierungsprogramme ohne Perspektive sind gefährlich. Die Wertkritik hat aber diese fatale Schlagseite angenommen. Vor allem im schwarzen Denken des Robert Kurz. Die Folge war, dass die Radikalität ob ihrer unbewussten Ohnmacht in Rabiatheit kippte, die sich in den Texten auch stets wieder findet und diese zusehends zerstörte.
Paradigmatisch dazu wäre der Aufsatz „Tabula rasa“ von Robert Kurz aus der krisis 27 (2003) anzuführen, wo es vor aggressivem Vokabular nur so wimmelt und der sogar in der stalinistischen Pointe gipfelt, dass nicht darauf zu warten sei, „dass der Feind ohne Schlag und Schuss ganz von selbst als Leiche vorbeitreibt“ (S. 130). Das roch förmlich nach einem kleinen Moskauer Schauprozess, wo es gegen „sekundäre Chauvis“ und „Antisemiten“, kurzum „den Softie, den Männergruppenmann“ ging (womit er primär seine Redaktionskollegen in der damaligen krisis meinte).
Selten habe ich einen Artikel gelesen, der so vieles an präziser Aufklärungskritik lieferte, andererseits aber mit einer grobschlächtigen Terminologie protzte, die wir nicht hätten dulden dürfen. Es geschah um eines falschen Friedens willen, der dann sowieso nicht gehalten hat und in einen sehr einseitigen Feldzug ausartete. Die Exit-Homepage ist heute noch voll von diesem abstrusen Zeug. Aber das wäre wohl mehr Stoff für einen Psychoroman nach Dostojewkischen Muster. Netschajew lässt grüßen.
Bettina Dyttrich, eine unbeteiligte Beobachterin schreibt in einer Rezension in der Zürcher WOZ vom 4. Juli 2013: „Ein Beispiel dafür sind die beiden Texte über ,Aneignung‘ im Sammelband, in denen er andere Linke, zum Teil ehemalige FreundInnen, aggressiv angreift. Inhaltlich ist seine Kritik oft fast nicht nachvollziehbar, liegen die kritisierten Positionen doch verdächtig nahe an der eigenen. Kaum mehr verständlich und offensichtlich eine persönliche Abrechnung sind auch jene Passagen im Titeltext ,Weltkrise und Ignoranz‘, in denen Kurz gegen ,theoretisch unterbelichtete Strippenzieher im Klein-Byzanz der linken Szeneverhältnisse‘ und ,vor sich hin menschelnde linksalternative Kleinbürgerei‘ wütet – hat ihm jemand dominantes Gesprächsverhalten vorgeworfen? ,Das beschädigte Leben versuchte er mit Polemik zu kompensieren, in der er sich manchmal verloren hat‘, schrieb Gregor Katzenberg in einem Nachruf für die Zeitung Jungle World, und ein Blogger kommentierte kurz und sarkastisch: ,Alle doof außer Robert.‘“
Das ist gut beschrieben. So haben es sicher viele wohlgesonnene Rezipienten aus dem näheren und weiteren Umfeld wahrgenommen. Aber wenn das so aufgefasst wird, dann leidet die Attraktivität immens, dann will man sich von einem solchen Laden fernhalten.
Der Name Exit! ist daher zweifellos auch Programm eines ungewollten Abgesangs. Das eigene Ende ist da näher als das herbeiphantasierte des Kapitalimus. Es duftet wahrlich nach Tod und Verwesung. Kurz wusste (was kein Vorwurf ist) zwar überhaupt nicht, wie und wo es rausgeht, er stampfte aber auf wie ein trotziges Kind. Diesen Zustand konnte er nur verschleiern, indem er in seinen letzten Jahren zusehends auf eine gnadenlose Grobheit setzte, die Sicherheit suggerierte. Strategisch ist ihm das zu einem Spiel eines verbitterten Mannes mit Zinnsoldaten geworden, wo jedes Zuwiderdenken zur Ausstoßung der abweichenden Weggenossen führte. Exit glich einem Zug der Lemminge, wo aber binnen kürzester Frist die nächsten Überwerfungen und Trennungen fällig gewesen sind. Abgeschwächt gilt das auch für die Entwicklungen in der krisis seit 2004. Auch hier konnte man sich von den diversen Beschränkungen des „System krisis“ (Lorenz Glatz) nie freispielen. Clausewitz zum Trotz gleichen solche Scharmützel natürlich keiner erfolgreichen Operation, sondern verdeutlichen bloß einen Marsch in die eigene Verheerung.
Scholastische Trockenübungen, die sich in exkommunikativen Gelüsten autokannibalistisch austoben, sind zu überwinden. Als prinzipielle Haltung ist Intransigenz kontraproduktiv. Sie wäre je nach Fall konkret zu begründen. Sie tendiert zu einem manichäischen Weltbild, wie es alle Fundamentalismen auszeichnet, woraus sie aber auch andererseits ihre destruktive Kraft schöpfen. Doch dieser charismatische Reiz ist mit Robert Kurz mitverstorben.
Das rabulistische Vokabular ist zu entsorgen. Es bestätigt nichts außer Abgrenzungslust, ein seltsames Gieren nach Schützengräben und Fronten. Die Welle der absoluten Distinktion hat die Reste der radikalen Linken weitgehend paralysiert. Auch die Wertkritik hat sich in ihrer internen Kommunikation nicht vom Autokannibalismus befreien können. Nicht nur der Abschied vom schwarzen Denken ist nötig, auch der Schritt vom monologischen zum dialogischen Denken wäre angesagt.
Nabelschau
Als grundlegende Richtung verweist das Impressum der Streifzüge auf „Kritik-Perspektive-Transformation“. Ob wir nun wollen oder nicht, der Schwerpunkt liegt bei uns nach wie vor bei ersterer. Bisher ist es nicht gelungen, Perspektive und Transformation eine ähnliche Relevanz zuzuweisen wie der Kritik. Dafür gibt es gute Gründe, aber auch weniger gute Ausreden. Freilich erfüllen die Streifzüge nur eine bestimmt Funktion und man muss sich gegen eine Überfunktionalisierung aussprechen. Wir können nicht mehr als wir können, auch wenn wir wissen, dass mehr nötig wäre. Es ist zwar einiges gesagt, wenn es gesagt wurde, aber es ist damit nicht viel getan.
Als agierende Gruppe sind die Streifzüge aber kaum vorhanden, sieht man von gelegentlichen Ausflügen ab. Außer der Zeitschrift entfalten wir kaum Aktivitäten. Aber dieser Verzicht, so selbstverständlich er ist, weil er Kräfte schont und nicht einem blinden Aktivismus opfert, ist natürlich kein Programm, sondern eine Selbstschutzmaßnahme. Tatsächlich sollte man sich nicht verschleißen, mehrheitlich ist man auch in eine Altersklasse vorgerückt, wo es Energie zu sparen gilt.
Die Streifzüge konzentrierten sich im letzten Jahrzehnt auf die Ausweitung der Themen und versuchten so den Horizont zu erweitern. Stets ging es auch darum, ein lesbares, eben kein hermetisches Medium zur Verfügung zu stellen. Unter den intern wie extern nicht so günstigen Bedingungen ist das auch durchaus gelungen. Und nicht nur, weil es uns noch immer gibt. Eine gewisse Lebendigkeit ist nach wie vor vorhanden.
Die sonstigen Restprodukte der alten Wertkritik wirken allesamt ziemlich leblos. Außer einigen singulären Leistungen (insbesondere „Die große Entwertung“ von Lohoff/Trenkle) war da nicht viel auszumachen, was auch nur irgendwie auf Interesse hätte stoßen können. Aber auch das angesprochene Buch ist leider weitgehend untergegangen. Die Diskrepanz zwischen Relevanz und Rezeption ist riesig.
Trotz organisatorischer Defensive stehen die Streifzüge nach wie vor für inhaltliche Offensiven. Mehr kann unser Team in seinen Publikationsorten, d.h. Zeitschrift, Homepage und Newsletter unmittelbar nicht bewerkstelligen. Alles andere wäre eine Überforderung. Daher ist die Zeitschrift auch kein Nucleus für eine Organisierung, sondern ein spezifischer Akzent des Erkennens und Begreifens. Wir sind Baustein und Ahnung einer besseren Welt, nicht mehr. Was aber nicht wenig ist. Man möge also mit uns nachsichtig sein, die Leserinnen und Leser sind ja auch nicht weiter. Aber was nicht ist, kann ja gemeinsam noch werden. Das versuchen wir. Zumindest wir sehen das hier so.
Literatur meinerseits zum Thema:
Bewegungsversuche auf Glatteis. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis, Streifzüge 2/2000.
Präpotenz der Ohnmacht, Streifzüge 4/2000.
Maske und Charakter. Sprengversuche am bürgerlichen Subjekt, krisis 31 (2007), S. 124-172.
Zur Kritik des Theoretikers, Streifzüge 43/2008.