von Marianne Gronemeyer
„… unsere ‚Wohltäter‘ sind mehr als unsere Feinde die Verkleinerer unseres Wertes und Willens. Bei den meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige Schicksal spielt.“ (Friedrich Nietzsche)
Die Zeiten, da das Helfen noch geholfen hat, sind unwiderruflich vorbei. Aber damit nicht genug: Hilfe kann heutzutage fast nur noch angedroht werden; und wem sie angedroht wird, der muss auf der Hut sein. Schon vor über hundert Jahren schrieb Henry David Thoreau, nachdem er sich in die Wälder zurückgezogen hatte, um eine Weile abseits des Weltgetöses zu leben: „Wüsste ich gewiss, dass jemand zu mir käme mit der bewussten Absicht, mir eine Wohltat zu erweisen, ich würde davonlaufen, so schnell mich meine Füße tragen wollten (…), aus Angst, er könnte mir etwas von seinem Guten antun.“ (Thoreau, Henry David: Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1971, S. 82) Hilfe als Drohung, als Gefahr im Verzug? Was für eine Paradoxie!
Widersinnig ist „drohende“ Hilfe jedoch nur, weil sich trotz hundertfältiger historischer Widerlegung der gute Klang des Hilfsbegriffes im Alltagsbewusstsein nicht überlebt hat. „Hilfe“ kommt für das Alltagsbewusstsein so unschuldig daher wie eh und je, obwohl sie sich längst zu einem Instrument perfekter, das heißt, eleganter Machtausübung gemausert hat. Elegante Macht prügelt nicht, zwingt nicht, legt nicht in Ketten. Sie hilft. Unmerklich verwandelt sich das staatliche Gewaltmonopol in ein staatliches Fürsorgemonopol, womit es nicht weniger, sondern umfassender mächtig wird. Kaum ein Kriegseinsatz, der heutzutage nicht als humanitäre Intervention, also als Hilfe gerechtfertigt wird.
Wenn nun „Hilfe“ scheinheilig geworden ist, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, was wäre dann ihr eigentlicher Sinn; welcher Wohlklang des Wortes wird da profitträchtig beerbt?
Recht verstandene Hilfe ist bedingungsloser Beistand in Not, ohne Ansehen der Person, der Situation, des Erfolges und des möglichen eigenen Schadens. Misericordia, die ans Herz gehende „wehmütige Theilnahme“ (Georges, Karl Ernst: Kleines lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Leipzig 1869, Sp. 1497), das Erbarmen angesichts der Not des anderen oder der leidenden Kreatur blieb einst Gott und dem überraschenden, nicht planbaren, regellosen, augenblicklichen Einzelfall vorbehalten. Hilfe war, wie das Mitleid selbst, ein Ereignis, nicht eine Tat, „eine Erfahrung, die gelegentlich aufblitzt“ (Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie, München 1988, 2. Auflage, S. 349).
Ivan Illich hat, um diese Erfahrung zu beschreiben, in immer neuen Nuancen die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt.
„Die Geschichte ist bestens bekannt.“ (Evangelium nach Lukas 10, 25-37) Aber gerade diese Bekanntheit hat dazu beigetragen, ihre anstößige Pointe zu verharmlosen. „Die vielleicht einzige Art, wie wir sie heute ins Gedächtnis zurückrufen können, ist, uns den Samariter als einen Palästinenser vorzustellen, der einem verwundeten Juden beisteht.“ (Illich, Ivan: In den Flüssen nördlich der Zukunft, München 2006, S. 74) Der Samariter, der in Geschäften unterwegs ist von Jerusalem nach Jericho, ist nach all den herkömmlichen Kriterien gerade nicht zuständig für den, der da verwundet am Wegesrand liegt, von Wegelagerern ausgeplündert bis auf die nackte Haut. Der Priester und der Levit, die auf ihrem Weg nach Jerusalem an dem Geschundenen vorbeigegangen sind, weil sie wichtige Tempeldienste zu verrichten haben, wären von Rechts wegen zuständig gewesen, denn der Geschlagene war einer von ihnen, einer aus ihrer Sprach-, Sitten- und Religionsgemeinschaft. Der Samariter hingegen war keinesfalls zu helfen verpflichtet, im Gegenteil: Er war ein Erzfeind des Juden und machte sich mit seiner Hilfeleistung sogar eines Verrats gegenüber den eigenen Leuten schuldig. Er also entschied ganz allein, dass dieser geplünderte Jude sein Nächster ist. Und genau darum geht es, Illich zufolge, in diesem Gleichnis. Es ist eben keine Anleitung zu korrektem moralischen Verhalten. Und der Samariter handelt weder nach ethischen Grundsätzen noch nach Moral, Pflicht, Regel oder Gesetz. Die Hinwendung des Samariters zu dem Juden im Straßengraben, der in seiner Erbärmlichkeit nicht gerade ein prädestiniertes Objekt der Erwählung ist, diese Hinwendung zum erbarmungswürdigen anderen entspringt nicht dem eigenen großherzigen Entschluss, nicht einer Generosität, derer sich der Samariter rühmen könnte, nicht einem Akt der Selbstüberwindung, auf die er stolz sein könnte, nicht seiner Selbstbestimmung, sondern sie ist Resonanz, Widerhall auf ein Geschenk, das der Geschundene dem Vorbeikommenden macht. Die Möglichkeit der Zuwendung nämlich entsteht durch den Anblick des Geschlagenen; „Anblick“ im doppelten Sinn des Blickens und des Anblicks, den er in seiner Not bietet und der dem Samariter buchstäblich in die Eingeweide fährt. Der Samariter verdankt nicht sich selbst, sondern dem anderen die Möglichkeit, sich ihm zuzuwenden und seine Geschäfte einstweilen fahren zu lassen.
Hilfe als Machtinstrument
Moderne Hilfe hat sich an allen Komponenten des traditionellen Hilfsbegriffs vergangen. Der Übergriff reicht von der offenkundigen, plumpen Perversion des Bedeutungsgehaltes bis hin zur gekonnten Sinnverwirrung.
– Weit davon entfernt, bedingungslos zu sein, ist moderne Hilfe unverhohlen berechnend; von der sorgsamen Erwägung des eigenen Vorteils viel eher geleitet als von der besorgten Betrachtung der Not des anderen.
– Hilfe ist auch nicht mehr Hilfe in Not, sondern Hilfe zur Beseitigung von Defiziten. Die offenbare Bedrängnis, der Hilfeschrei dessen, der in Not ist, ist kaum mehr Anlass der Hilfe. Hilfe ist vielmehr die unerlässliche, zwingende Konsequenz einer Hilfsbedürftigkeitsdiagnose. Ob jemand Hilfe braucht, entscheidet nicht mehr der Schrei, sondern der Standard der Normalität. Der Hilferufer ist seiner Autonomie als Rufer beraubt. Selbst der Notschrei liest noch seine Fälligkeit am Standard ab.
– Dass Hilfe ohne Ansehen der Person gewährt werde, ist den modernen Menschen kaum noch erinnerlich. So sehr hat sich die Hilfe in ein Instrument verwandelt, mit dem man anderen die Pflicht zum Wohlverhalten auferlegen kann. Hilfe als Disziplinierungsmittel hat eine lange Tradition. Wer Hilfe begehrt, setzt sich „freiwillig“ dem überwachenden Blick des Helfers aus. Der überwachende Blick ist an die Stelle des erbarmungsvollen getreten.
– Auch dass Hilfe der unvorhersehbare, regellose Einzelfall sei, gilt nicht mehr. Hilfe ist institutionalisiert und professionalisiert worden. Sie ist weder Ereignis noch Tat. Sie ist Strategie. Hilfe sollte nicht länger dem Zufall überlassen sein. Die Hilfsidee wurde mit Gerechtigkeitspathos aufgeladen. Aus dem Gleichheitsrecht wurde ein universalistisches Anrecht auf Hilfe abgeleitet ebenso wie eine weltumspannende Hilfspflicht. Die Idee und Praxis der Hilfe sind in ihrem Expansionsdrang grenzenlos geworden. Ihre Segnungen reichen in den letzten Winkel der Welt, und kein Sektor des gesellschaftlichen und individuellen Lebens ist mehr vor der Diagnose der Hilfsbedürftigkeit gefeit.
In der Entwicklungshilfe allerdings ist die Perversion der Hilfsidee auf die Spitze getrieben: Selbst die hoch bezahlte Deponierung von Völkermordmaschinen auf fremdem Terrain, die für die Empfängerländer ökonomisch, politisch und moralisch ruinös ist, heißt Hilfe. Neuerdings gelingt es sogar, die gefällige Überlassung verseuchter, hochgiftiger Industrierückstände unter die Kategorie der allgemeinen Wirtschaftshilfe zu subsumieren. Was Nahrungsmittelhilfe genannt wird, stellt in Wahrheit eine Apokalypse des Hungers in Aussicht. Sie bereitet die Weltherrschaft einiger weniger Konzerne durch die Kontrolle über das Saatgut vor.
Wie offenkundig betrügerisch die Begriffswahl in der Entwicklungs„hilfe“ auch ist, das Wort wird nach wie vor für bare Münze genommen, nicht zuletzt von den Betrogenen selbst. Der Hilfsbegriff scheint von seiner moralischen Selbstevidenz kaum etwas eingebüßt zu haben. Seine Suggestivkraft ist ungebrochen. Augenscheinlich genügt heutzutage der Gestus des Gebens, unabhängig von der Art der Gabe, dem zu entrichtenden Preis, der Absicht des Gebers und dem Nutzen für den Empfänger, um den Tatbestand der Hilfe zu erfüllen. Der Wandel vom nehmenden zum gebenden Kolonialismus wurde im Schutze des wohllautenden Wortes vollzogen.
Gleichschaltung durch Konsumismus
Pier Paolo Pasolini, der vielleicht radikalste Kritiker des Konsumismus, schrieb schon 1975, also vor mehr als 40 Jahren: „Die kulturelle Durchdringung der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die verschiedenen Kulturen der Dritten Welt zerstört (…). Das Kulturmodell, das den Italienern (und im übrigen allen Menschen der Erde) angeboten wird, ist nur ein einziges. Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten, im Existentiellen, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt, das heißt des neuen und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat.“ (Pasolini, Pier Paolo: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1979, S. 46)
Wer sich über Entwicklungspolitik urteilsfähiger machen möchte, muss sich auseinandersetzen mit einer Macht, die unserer Aufmerksamkeit viel eher entgeht als die Macht der Superreichen, jener 62 Reichsten der Welt, die sich nach neuesten Auskünften die Hälfte des Weltvermögens teilen. Ich meine die Macht der durchaus gut beleumundeten Experten. Ivan Illich nennt diese Macht „entmündigend“, ich nenne sie „diagnostisch“. Experten maßen sich an – es wird ihnen aber auch mit breiter Zustimmung zugestanden –, darüber zu befinden, was in einer Gesellschaft und über sie hinaus im Weltmaßstab als normal angesehen werden muss, was also Standard ist, wie man heute sagt, oder doch zumindest Mindeststandard: Bildungsstandard zum Beispiel, Gesundheitsstandard, Lebensstandard, Sicherheitsstandard, Bequemlichkeitsstandard. Unter dem prüfenden Blick dieser schonungslosen Diagnose wird alles, was hinter dem verordneten Standard zurückbleibt, für entwicklungsbedürftig erklärt. Wer über kein Spülklosett verfügt, ist entwicklungsbedürftig, wer seine Kochwärme nicht aus der Steckdose bezieht, ebenso. Wer etwa glaubt, dass man ohne die Schule gebildet sein kann, ohne Versicherung im Kreis von Freunden sich hinreichend sicher fühlen kann, ohne den Supermarkt satt und ohne Hightech-Medizin leidlich gesund sein kann, wer glaubt, dass man ohne das Automobil mobil, ohne Coca-Cola durstgestillt sein kann und ohne den Sterbeberater bereit sein zu sterben, der ist überfällig für Bekehrung – und, wo die nicht fruchtet – für den unnachgiebigen Zwang zum Konsumismus, jener neuen Glaubensrichtung, die Pasolini als den neuen Faschismus, ja sogar als Völkermord brandmarkte. Der Konsumismus ist die neue Form der Gleichschaltung, unter der alle kulturellen Differenzen lautlos verschwinden. Welteinheitskultur, die Perversion der Gleichheitsforderung.
Monokulturen und Monopole
Die moderne Expertenmacht ist absolut unduldsam gegenüber jeder Lebensäußerung und jeder Lebensform, die sich nicht dem Konsum von industriell produzierten Waren und warenförmigen Dienstleistungen verdankt.
– Ehe nicht einer ein Konsument und ein Mehrfachklient geworden ist, angewiesen auf die Zufuhr der Versorgungsindustrie, angewiesen auf Serviceleistungen der Dienstleistungsindustrie, kann er nicht als hinreichend loyal gelten.
– Ehe nicht der letzte Erdenbürger zum belieferungsbedürftigen Mängelwesen wurde, zum drug addict, zum Junkie, der nach den Drogen der Versorgungsindustrie japst und jammert und mit jedem Schuss abhängiger wird, hilfloser, unfähiger, sich selbst zu erhalten;
– ehe nicht diese Abhängigkeit total ist;
– ehe nicht die Kunde von dem, was als normal zu gelten hat, in den letzten Winkel gedrungen ist;
– ehe nicht jeder glaubt, dass sein Mensch-Sein, seine Humanitas, seine Vollständigkeit als menschliches Wesen auf Gedeih und Verderb an den Markenartikeln, die von der Industrie ausgespuckt werden, hängt;
– ehe sich nicht die Überzeugung durchgesetzt hat, dass der Apparat, der Maschinenkoloss alles menschliche Tun in den Schatten stellt;
– ehe nicht der letzte Bauer, die letzte Bäuerin sich als Nahrungsmittelproduzenten verstehen und der letzte Heiler Alternativmediziner geworden ist und sich als Untercharge der modernen Medizin begreift;
– ehe nicht der letzte Weise sich dem Bildungswesen als professioneller Pädagoge subordiniert hat;
– ehe nicht jeder Mann und jede Frau begriffen hat, dass wir unsere Häuser nicht mehr selber bauen müssen, unsere Nahrung nicht mehr anbauen, unsere Kinder nicht mehr erziehen müssen, uns um unseren kranken Nachbarn nicht mehr kümmern müssen, dass wir uns nicht mehr bewegen müssen, weil wir so komfortabel bewegt werden; dass wir nichts mehr lernen müssen außer der Bedienung des Computers, dass wir nicht einmal mehr ein Gewissen ausbilden müssen, weil das Gerät, das uns lenkt und steuert und sichert und vorgibt, unser Leben von der Mühsal zu befreien, so fabelhaft gewissenhaft ist, dass wir es nicht mehr sein müssen;
– ehe all dies nicht machtvoll durchgesetzt ist, kann die moderne Macht ihrer Mächtigkeit nicht sicher sein und wenn das alles machtvoll durchgesetzt ist, zeigt sich, dass man es nicht bezahlen kann, als Individuum nicht und nicht als Gesellschaft.
Verstehen wir es richtig: Der Konsumismus ist totalitär. Niemand darf ihm entkommen. Verrückterweise nicht einmal die Habenichtse der Welt, die hoffnungslos abgehängt sind von der Möglichkeit, als Konsumenten ihr Auskommen zu finden, die niemals als zahlungskräftige Käufer das Geschäft beleben werden. Auch sie sollen sich am Standard messen, sollen in die Konkurrenz um die Weltofferten hineingezwungen werden, Lebensmühe darauf verwenden, sich Millimeter um Millimeter ächzend vorzuarbeiten in die schöne neue Konsumentenwelt, in der der Gelderwerb absoluten Vorrang genießt vor dem Broterwerb.
Alle müssen bedürftig werden. Warum das? Nun, nur wer bedürftig ist, ist beherrschbar. Moderne Macht, Machtgebaren, das auf der Höhe der Zeit ist, ist nicht tyrannisch oder diktatorisch. Sie fuchtelt nicht mit Gewalt herum. Moderne Macht ist elegant, von souveräner Unauffälligkeit. Sie wandert in die Bedürfnisse ein, sodass die Unterworfenen wollen, was sie sollen, ihre Unterworfenheit beharrlich leugnend, befangen im Freiheitswahn.
„Bedürfnisse“, hören wir auf das Wort. Im „Bedürfnis“ steckt das „Dürfen“. Wer bedürftig ist, wer Bedürfnisse geltend macht, hält sich an das, was man wollen darf. Und wollen dürfen wir nur noch, was die Konzerne an Waren und Dienstleistungen im Angebot haben, wie verderblich und schädlich die Produkte auch immer sein mögen. Wer Bedürfnisse hat, ist vollständig erpressbar. Das Bedürfnis nach bezahlter Arbeit zum Beispiel hat eine Erpressungsmaschinerie größten Stils hervorgebracht. Keine Sorte „Wohlverhalten“ und Unterwerfung, die nicht mit der Gewährung oder Vorenthaltung eines Arbeitsplatzes abgezwungen werden kann, bis hin zur „freiwilligen“ Selbstgefährdung, Selbstausbeutung und Selbstschädigung. Wer sich hingegen selbst erhalten kann, wer sein täglich Brot erzeugen und sein leidliches Auskommen aus eigener Kraft in Gemeinschaft mit anderen und mit der Natur bewerkstelligen kann, der ist nicht beherrschbar, weil er nicht erpressbar ist.
Deswegen ist der Krieg gegen die Subsistenz der vorrangige Zweck aller Entwicklungspolitik, denn täuschen wir uns nicht: Entwicklungshilfe ist immer Selbsthilfe der Reichen. Subsistenzorientierte Gemeinschaften leben hauptsächlich von ihrer Eigenarbeit und der eigenen Herstellung von Gebrauchsgütern, nach Maßgabe der Gegebenheiten, in denen sie sich vorfinden, Gegebenheiten der Natur, der Region und der jahrhundertealten kulturellen Traditionen, die ihnen ihre Daseinsmächtigkeit sicherten. Entwicklungshilfe hatte es von Anfang an darauf abgesehen, diese traditionellen und bewährten Formen der Unterhaltswirtschaft durch geldabhängige Warenwirtschaft zu zerstören. Ivan Illich sagt dazu: „Eigenarbeit sagt ‚Danke, nein!‘. Sie blickt über die warenintensive Gesellschaft hinaus: nach vorn, nicht zurück. Entwicklung hieß seit einigen Jahrzehnten Ersatz von Unterhaltswirtschaft durch Ware. Eigenarbeit ist der Ersatz von Ware durch eigene Tätigkeit.“ (Illich, Ivan: Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek 1982, S. 52)
Entwicklung diene in erster Linie der Herstellung einer Monokultur des Denkens, sagt Vandana Shiva, die unermüdlich für die Verfügung der Menschen über ihre Nahrungsgrundlagen kämpft: den Boden, das Wasser und das Saatgut.
Monokulturen und Monopole, so Vandana Shiva, bedingen sich gegenseitig. Es sind mächtige Monopole, die dafür Sorge tragen, dass die Monokultur des Denkens weltbeherrschend wird. Es sind jene treibenden Kräfte, die den Fortschritt garantieren: die Naturwissenschaft, die Ökonomie, die Technik und die Bürokratie.
In seinem Geltungsanspruch ist dieses Quartett so gebieterisch wie einst die apokalyptischen Reiter, die allerdings ganz andere Namen trugen und die mittelalterlichen Menschen in Angst und Schrecken versetzten: der Hunger, die Pestilenz, der Krieg und der allgewaltige Tod. Dieser Vergleich scheint unerhört und völlig entgleist, denn die modernen Mächte gelten als die tragenden Säulen der Menschheitszukunft und haben mit den fratzenhaften Schreckensgestalten, die wir auf alten Bildern verderbenbringend und verwüstend über den Erdkreis jagen sehen, offensichtlich nichts gemein. Und tatsächlich muss man wohl zugestehen, dass ihnen an und für sich nichts Verderbliches anhaftet. Es ist im Gegenteil doch aller Mühen wert, die Natur zu erforschen, die Vorräte zu bewirtschaften, die Arbeit zu erleichtern und das Gemeinwesen zu ordnen. Und dennoch bilden die glorreichen vier eine unheilige Allianz, die wie einst ihre archaischen Vorgänger einen großen Teil der heute lebenden Menschen mit Hunger, Krieg, Krankheit und Tod bedrohen. Ihre zerstörerischen Kräfte entfalten sie erst dadurch, dass sie in ihrem jeweiligen Geltungsbereich eine Monopolstellung behaupten. Die Naturwissenschaft beansprucht das Monopol der Weltdeutung, die Ökonomie das der Weltverteilung, die Technik das der Weltgestaltung und schließlich die Bürokratie das Monopol, die Welt zu regeln. Zusammengeschlossen und miteinander vernetzt bilden sie eine Supermacht, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft weitgehend durchgesetzt hat. Sie tendiert dazu, sich alles anzuverwandeln und alles in sich einzuschließen. Sie duldet keine anderen Götter neben sich.
Monopole sind dazu da, sich in praktizierte Macht umzusetzen. Jedes der vier Monopole ist insbesondere zuständig für eine Handlungsmaxime, die nicht nur das große Weltgeschehen steuert, sondern bis in den Alltag der Menschen Gefolgschaft erzwingt. Der Naturwissenschaft obliegt es, Konsens in Fragen der Welterklärung herzustellen, die Ökonomie sorgt dafür, dass die Konkurrenz alle menschlichen Beziehungen prägt, auch die allerintimsten. Die Technik richtet die Welt auf Konsumierbarkeit zu und erhebt den Konsum zur ausschließlichen Form der Daseinssicherung. Die Bürokratie schließlich stellt Konformität dadurch her, dass sie alle menschlichen Handlungen nach dem Vorbild maschinellen Funktionierens ausrichtet. „Du sollst mit mir eines Sinnes sein und meiner Evidenz trauen“, sagt die Naturwissenschaft. „Du sollst deinen Nächsten besiegen wollen“, sagt die Ökonomie. „Du sollst die Maschinen statt deiner arbeiten lassen, lass dich bedienen und versorgen“, sagt die Technik. „Das kostet natürlich eine Kleinigkeit“, wirft die Ökonomie ein. „Vor allem sollst du nicht stören“, sagt die Bürokratie.
Erst dadurch allerdings, dass die Monopole zu einem umfassenden System zusammenwachsen, werden ihre Forderungen zu Diktaten, deren Logik so zwingend ist, dass sie gegen nahezu jeden Widerstand immun sind; ja mehr noch: dass sie den Widerstand im Keim ersticken; oder noch genauer: dass der Gedanke, man könnte ihnen widerstehen sollen, verrückt, abwegig oder närrisch erscheint: Sobald sich die Naturwissenschaft mit der Technik liiert, gibt sie jede Zurückhaltung und Selbstbeschränkung auf. Sie begnügt sich nun nicht mehr damit, alleingültig über die Welt Bescheid zu wissen, sondern will maßgeblich daran mitwirken, die Welt zu verändern. Die Ökonomie, die das Duo komplettiert, steuert den Gesichtspunkt der Profitabilität bei. Sie will die Welt verwerten und macht aus der wissenschaftlich-technischen Maschine eine Geldmaschine. Die bürokratische Gleichschaltung aller Machenschaften schließlich erzeugt jene unwiderstehlichen Sachzwänge, gegen die aufzubegehren so nutzlos ist, wie den Mond anzubellen. Und das alles lässt sich als Entwicklungspolitik deklarieren.
In den reichen Ländern ist das Projekt des Konsumismus abgeschlossen. Hier hat die moderne Macht ausgesorgt. Die Bewohner der reichen Weltareale sind zu 100 Prozent Konsumenten, in nahezu jeder Lebensverrichtung auf Versorgungspakete angewiesen, bedürftig bis auf die Knochen. In den armen Ländern steht die Vollendung des Projektes noch aus, wiewohl auch dort der Glaube an den Konsumismus sich epidemisch ausgebreitet hat. Nur steht wegen erwiesener Aussichtslosigkeit die Glaubenspraxis hinter der Glaubensüberzeugung noch zurück.
Dass dem Coca-Cola-Schluck aus der Dose vor dem nahrhaften Hirsegetränk aus der eigenen Herstellung der Vorzug gebührt, wird auch im südlichen Afrika kaum noch bezweifelt; dass die von hoch bezahlten Experten exekutierte Hightech-Medizin der traditionellen Heilkunst den Rang abläuft und deren Heilkraft in das Reich des Aberglaubens verweist, hat sich auch im ländlichen Indien herumgesprochen.
„Hilfe zur Selbsthilfe“
Dennoch: Es scheint in den ärmsten Ländern immer noch Reste eines Widerstandspotenzials gegen die Konsumabhängigkeit zu geben und ein immer noch existierendes Vertrauen in die Selbsterhaltungsfähigkeiten. Ein Konflikt um die Nahrungsmittelhilfe, der zwischen südafrikanischen Ländern und dem staatlichen Hilfsprogramm USAID vor ein paar Jahren aufbrach, spricht eine beredte Sprache. Die Afrikaner wollten den genmanipulierten Mais aus Amerika nicht haben. Nicht so sehr, weil sie sich fürchteten, ihn zu essen. In gemahlener Form zum reinen Verzehr hätten sie ihn ins Land gelassen.
Sie fürchteten aber, dass sie sich, wenn sie dieses Zeug als Saatgut verwenden, ein für alle Mal in Abhängigkeit vom großen Agro-Business begeben, ihre Böden für ihr eigenes Saatgut unbrauchbar machen und künftig auf den Ankauf patentrechtlich geschützten Saatgutes angewiesen sein würden. Die Amerikaner lehnten es ab, den Afrikanern gemahlenen Mais zu überlassen. Afrikanische Selbstversorger sollten Konzernkunden werden, das ist der Hintersinn der generösen Hilfsbereitschaft der Weltmacht. Imperialismus getarnt als Nothilfe.
Es scheint, dass man in Teilen der armen Länder noch weiß: Am Saatgut hängt die Nichterpressbarkeit. Das Saatgut ist wie die Musik und der Dialekt das Kulturgut einer Gemeinde, angewiesen auf Hege und Bewahrung durch die Gemeinde und im Gegenzug Garant ihrer Unabhängigkeit (Pat Roy Mooney).
Aber natürlich regen sich auch Gegenkräfte gegen die Bereicherung der reichen Weltareale an den armen Ländern. Widerstand artikuliert sich in der Regel als Forderung nach Umverteilung des Reichtums, den die Reichen widerrechtlich an sich gerissen haben. Aber können wir das wirklich wollen? Der Reichtum ist ja nicht unschuldig geblieben. Alles, was die Macht verwaltet, ist infiziert mit dem Pesthauch der Unterwerfungsgier, der ganze vorhandene Überfluss, der zur Umverteilung anstünde, ist von der Art, dass er Abhängigkeit erzeugt, dass er alles zum Mittel macht, inklusive der Menschen, die sich dieser Mittel bedienen. Alles, was die Macht verwaltet, ist vom Typ Coca-Cola, dem Gesöff, das dazu bestimmt ist, den Menschen den Kopf zu verdrehen. Es ist nicht nährend, aber ungemein klebrig, man bleibt daran kleben wie die Fliegen auf dem Leim, es hinterlässt Berge von Müll, es vernichtet Unmengen trinkbaren Wassers und es macht den, der es nicht bezahlen kann, zum Drop-out, der sich seiner Niedrigkeit schämen muss. Alles, was die Macht verwaltet, ist in Geldwert berechnet, alles ist warenförmig und käuflich. Alles ist gegen alles austauschbar, alles zeichnet sich durch einen eklatanten Mangel an wirklicher Brauchbarkeit aus. Alles dient dazu, den Neid zu schüren und die Apartheid, die Trennung der Habenichtse von den Begüterten, zu verewigen. Alles, was die Macht verwaltet, stiehlt den Menschen ihre schöpferischen Fähigkeiten. Die Fähigkeiten, die tausendfältigen selbstbestimmten Könnerschaften werden den Bedürfnissen geopfert. Alles, was die Macht verwaltet, ist gezeichnet von stupidester Einförmigkeit, trostloser Ödnis, beklemmender Bleichheit und Leblosigkeit.
Wollen wir das alles wirklich umverteilen?
Die einzige Hilfe, die kritisch betrachtet nicht als anrüchig und kontraproduktiv galt, die vielmehr einen Ausweg aus dem Dilemma zu weisen schien, war die „Hilfe zur Selbsthilfe“. Sie wird dann auch zur politischen Leitidee in den nichtstaatlichen Hilfswerken. In der Ertüchtigung zur Selbsthilfe findet die Hilfe scheinbar ihre Unschuld wieder. Es entspricht diesem Konzept, dass die Hilfe sich in einer angemessenen Frist überflüssig macht. Die durch sie begründete Abhängigkeit ist erklärtermaßen ein Durchgangsstadium mit der Tendenz zur Selbstaufhebung. „Hilfe zur Selbsthilfe“ rührt jedoch nicht an die Grundidee, dass alle Welt entwicklungsbedürftig sei; dass sie so oder so – nach kapitalistischem oder sozialistischem Muster – den Anschluss an den industriellen Lebenszuschnitt gewinnen müsse. Auch sie ist Hilfe zur Entwicklung und muss zwangsläufig alle selbstgenügsamen, subsistenten Daseinsformen der Rückständigkeit überführen und ihnen den Fortschritt beibringen.
Als Entwicklungshilfe muss sie zuvor zerstören, was sie zu heilen vorgibt: die Fähigkeit einer Gemeinschaft, ihr Leben aus eigenen Kräften zu erhalten und zu gestalten. Sie ist die elegantere, moralisch weitaus besser legitimierte Form der Einmischung. Der in ihr steckende moralische Impuls findet weiterhin sein Operationsfeld in den „entwicklungsbedürftigen“ Ländern und lässt die heimische Ausplünderungspolitik relativ unbehelligt ihren Lauf nehmen. Dabei bestünde die einzig hilfreiche Einmischung ja darin, den Machtzynikern und Profiteuren im eigenen Land in den Arm zu fallen. „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist deshalb eine nur halbherzige Verabschiedung der Entwicklungsidee, weil sie ausschließlich der Hilfe und nicht der Entwicklung misstraut.
Herbert Achternbusch sinniert über die Wirkungen der Entwicklungspolitik: „Welt ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. (…) Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. (…) Das imperiale Gesetz der Welt ist Verständnis. Jeder Punkt dieser Welt muss von jedem anderen Punkt verstanden werden. Das hat zur Folge, dass jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muss. So wird Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit. Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann? Will sich der Unterdrückte oder Beherrschte verständlich machen? Natürlich der Unterdrückende und der Herrschende. Herrschaft muss begreifbar sein.“ (Achternbusch, Herbert: Der Olympiasieger, Frankfurt a. M. 1982, S. 11)
Emil M. Cioran beklagt, dass er sich auf einer Erde vorfinde, „auf der man vor lauter Heilswahn nicht mehr atmen kann. (…) Ein jeder will der Not eines jeden abhelfen. (…) Auf dem Pflaster der Welt und in den Hospitälern wimmelt es von Reformatoren. Bei jedem einzelnen wirkt das Verlangen, Ursache von Ereignissen zu sein, wie eine geistige Störung, wie ein selbstgewollter Fluch. Die Gesellschaft, eine Hölle voller Erlöser! Einen Gleichgültigen, das war es, was Diogenes mit seiner Laterne suchte.“ (Cioran, Emil M.: Die Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1979, S. 9)
Und Ivan Illich nennt die Schule das entscheidende Instrument zur Verbreitung der Entwicklungsideologie: „Weiters glaube ich, dass ich diesen Jahren, den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren, die Entwicklungswut, die in Europa und Nordamerika ausgebrochen ist, um die Menschen für die technische Zivilisation vorzubereiten, sich hauptsächlich der sogenannten, ‚humanen‘, ‚humanistischen‘ und ‚befreienden‘ Schule bedient. (…) Die Schule als Einweihungsritual in die technologisch geeinte Welt und ihren Mythos erfüllt ihre Funktion durch die formelle Verhaltensstruktur, zu der sie das Individuum verpflichtet, und nicht durch die spezifischen Inhalte des Unterrichts, die sie vermittelt. Diese Verhaltensstruktur erzeugt passive Verbraucher, die auf einen selbsttätigen, immerwährend fortschreitenden Fortschritt hin ausgerichtet sind. Und die sich diesem Ideal im Prozess der Schulung unterwerfen und zwar von Stufe zu Stufe, von Klasse zu Klasse, von Fach zu Fach. Beinahe könnte man noch hinzufügen: Amen.“ (Illich, Ivan: Die Schule als neue Weltreligion, in: O. Schatz (Hg.), Hat die Religion Zukunft?, Vorträge und Diskussionen des Salzburger Humanismusgespräches 1970, Graz 1971, S. 208 f.)